Dominik Graf und Anatol Regnier untersuchen Motive und Befindlichkeiten von Schriftstellern, die während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland geblieben waren.
Seit fast 50 Jahren macht Dominik Graf Filme. Viele Fernsehspiele sind darunter, Krimis, Tatorte und Polizeirufe aber auch Dokumentar- und Literaturverfilmungen. Er ist einer der letzten Regisseure, die Fernsehproduktionen noch mit einem gewissen Anspruch ausstatten. Sein neuer Dokumentarfilm sprengt nicht nur hinsichtlich Thematik sondern vor allem wegen seiner Länge die »normalen«, scheinbar unhinterfragbaren Fundamente zeitgenössischen Fernsehschaffens. Einhundertsiebenundsechzig Minuten, also fast drei Stunden, dauert Jeder schreibt für sich allein und er zeigt Leben und Auskommen deutscher Schriftsteller, die während der NS-Zeit im Land verblieben waren.
Das Gerüst liefert das 2020 von Anatol Regnier publizierte Buch gleichen Titels. Regnier, 1945 geboren, ist der Sohn des Schauspielers Charles Regnier (bekannt aus zahlreichen Serien und Fernsehfilmen, aber auch als Komödiant) und Pamela Wedekind, der Tochter des Dramatikers Frank Wedekind und der Schauspielerin Tilly Newes. Anatol Regnier verfasste neben anderen Büchern 2008 eine vielbeachtete Biographie über Frank Wedekind.
In unterschiedlicher Intensität kreisen Buch und Film um das Verhalten von Gottfried Benn, Erich Kästner, Hans Fallada, Jochen Klepper, Hanns Johst, Ina Seidel und Will Vesper während der Zeit des Nationalsozialismus. Auf Börries von Münchhausen, Hans Grimm oder Agnes Miegel, auf die Regnier in seinem Buch näher eingeht, wird im Film verzichtet.
Im Film kommentieren die Eindrücke und Thesen unter anderem Florian Illies, Albert von Schirnding, Christoph Stölzl, Gabriele von Arnim, Julia Voss und Günter Rohrbach, der eine Sonderstellung einnimmt. Der inzwischen 94jährige Nestor des deutschen Qualitätsfernsehens erzählt im letzten Drittel in zwei Exkursen von seiner Kindheit und Jugend im saarländischen Neunkirchen. Ansonsten »moderiert« Anatol Regnier den Film als eine Art Erzähler; häufig im Gespräch mit Dominik Graf. Die ruhige, bisweilen anekdotische, aber niemals triviale Erzählweise des Buches wird behutsam auf den Film transferiert. Häufig wird ein Split-Screen eingesetzt, der das Gesagte mit Original-Bildern oder Filmsequenzen ergänzt und verdichtet. Ansonsten bleibt die Konzentration auf das Wort.
Der Anfang weicht vom Buch ab. 1945 versuchte der amerikanische Psychologe Douglas McGlashan Kelley mit Gesprächen und, das war neu, Rorschach-Tests den Seelenzustand der in Nürnberg angeklagten Nazi-Größen zu analysieren. Kelley suchte, wie es ein bisschen pathetisch heißt, »das Böse im Menschen«. In 22 cells in Nuremberg präsentierte er 1947 die Ergebnisse seiner Gespräche. Für die Analysen der Rorschach-Tests konsultierte er Fachleute und Experten. Aber deren Auswertungen wurden entgegen der Absichten nie veröffentlicht. Später hat es geheißen, man habe nicht das gefunden, was man erwartete. Diese Männer – gemeint sind die Kriegsverbrecher – wären keine »wahnsinnigen Kreaturen« gewesen; Neurotiker hätten sich darunter befunden aber auch einfach nur Opportunisten; eigentlich, und das ist das erschreckende, handelte es sich um »normale« Menschen.
Diese Variante der »Banalität des Bösen« erstaunt und erschreckt wie die Aussage Regniers, mit seinem Buch den Nationalsozialismus »vermenschlichen« zu wollen. Gabriele von Arnim gesteht, zunächst über diese Formulierung entsetzt gewesen zu sein. Aber gerade darin liegt die Herausforderung. Erst wenn die Mörder nicht als Ungeheuer sozusagen »abgekoppelt«, sondern als Täter »unter uns« angesehen werden, kann die Reflexion über das mögliche Verhalten in dieser Zeit (und darüber, wie man selber gehandelt hätte) beginnen. Dieser Prozess ist steiniger als die wohlfeile Schublade »Monster« für die Täter.
Und so findet sich weder im Buch noch in Dominik Grafs Film ein plumper Entlarvungs- oder Beschimpfungs-Duktus, sondern der Versuch, ohne die so häufig zu findende Selbstgerechtigkeit der Spätgeborenen, die jeweiligen Lebensläufe und Entscheidungen zu verstehen. Das bedeutet in keinem Fall eine Billigung – alleine bei einer Figur wie Hanns Johst erscheint dies unmöglich. Aber der Opportunismus eines Erich Kästner etwa oder das am Ende tragische Schicksal von Jochen Klepper lassen sich nicht mit empörungskompatiblen Sandkastenförmchen abtun.
Der nützliche Idiot
Der erste Höhepunkt ist die überaus lebendige Schilderung der außerordentlichen Sitzung der Preußischen Akademie der Künste in Berlin vom 15. Februar 1933. Hitler war seit knapp zwei Wochen Reichskanzler und der neue Kultusminister Bernhard Rust setzte die Akademie unter Druck, politisch unliebsame und/oder jüdische Mitglieder zu entfernen. Max Liebermann hatte bereits demissioniert und dann wurde bekannt gegeben, dass auch Heinrich Mann den kommissarischen Vorsitz niedergelegt hatte. Im März 1933 übernahm Gottfried Benn (1886–1956) übergangsweise und verfasste mit Max von Schillings eine Art Leitfaden für die einzig geduldete Gesinnung in der Akademie. Jedes Mitglied wurde suggestiv befragt, ob man bereit sei »unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter Ihre Person der Preußischen Akademie der Künste zur Verfügung zu stellen? Eine Bejahung der Frage schließt die öffentliche [politische] Betätigung gegen die Regierung aus und verpflichtet Sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der veränderten geschichtlichen Lage.« Anatol Regnier weist darauf hin, dass etliche linke und sogar jüdische Autoren (bspw. Franz Werfel) diese Erklärung unterschrieben hätten. Geschah es aus Unsicherheit? Oder aus der Annahme, dass der Spuk bald wieder vorbei sein würde?
(Überraschend allerdings, dass das ein halbes Jahr später verfasste sogenannte Gelöbnis treuester Gefolgschaft von insgesamt 88 [!] Autoren unterzeichnet, unter anderem von den im weiteren Verlauf vorgestellten Ina Seidel, Will Vesper und natürlich Hanns Johst (der rasch Akademiepräsident wurde), nicht wenigstens erwähnt wird. Dieser Text war eindeutig und linke und jüdische Autoren waren zu dieser Zeit entweder verstummt, verhaftet oder geflohen.)
Benn wollte den »Umsturz intellektuell untermauern«, verfasste in rascher Folge Thesenaufsätze, die er im Radio vortrug, wie Der neue Staat und die Intellektuellen (der später erscheinende Aufsatzband gleichen Titels ist – wen wundert es? – heute nur noch antiquarisch zu Höchstpreisen zu erhalten). Im Film wird aus Klaus Manns wortgewaltigem Brief an das (ehemalige) lyrische Vorbild zitiert; eine Mischung aus Ekel, Desillusion und Abschied. Benn antwortete auf die Einwände der Exilanten mit Hohn; ein Volk wolle sich »züchten«, so schreibt er, und sie stünden dabei im Weg.
Astern und Tag, der den Sommer endet (letzteres von Will Quadflieg) werden (ausschnittweise) rezitiert; Monolog von 1941, Benns wütende Abrechnung mit dem NS-Regime und auch mit sich selbst, nicht. Denn die Euphorie mit der Benn die »neue Zeit« feierte, kühlte rasch ab. Es gab Unstimmigkeiten und Anfeindungen und er zog sich schnell zurück, verdingte sich als Oberstabsarzt. Die These ist allgemein, dass er seine Verblendung eingesehen hatte. 1938 kam es sogar zu einem Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer. Das Schreibverbot galt nahtlos auch in der Bundesrepublik und wurde erst 1948 aufgehoben. Dann jedoch schritt die Integration Benns in die Literaturszene zügig voran. 1951 bekam er den Büchnerpreis. Julia Voss ist überrascht, wie gut Benn heute »wegkommt«. Christoph Stölzl ist als »alter Mann« enttäuscht, wie »kleinlich« und »korrupt« der Dichter gewesen war. Florian Illies will den Lyriker mit warmen Worten retten, ohne den Menschen zu verdammen.
Carl Zuckmayer, der bereits während des Krieges begonnen hatte, für die Amerikaner einen Geheimreport zu verfassen, in dem er rund 150 deutschsprachige, nicht-exilierte Künstler hinsichtlich ihrer politischen Anschauung insbesondere zum NS-Staat charakterisierte und einschätzte, macht bei Benn einen »geradezu grotesken Sturz seiner dichterischen Fähigkeiten« in dem Moment aus, als dieser ab 1933 zeitweise dem »Führer- und Hitler-Mythos« verfallen war. Weniger hart kommentierte 2018 Hans Magnus Enzensberger mit der ihm eigenen Grandezza Benns Eskapaden und seinen anschließenden Eskapismus. In seiner Textsammlung über 99 Überlebenskünstler aus dem 20. Jahrhundert konstatierte er eine »politische Unzurechnungsfähigkeit« Benns und zitierte Helmut Lethen, der ihn einen »nützlichen Idioten des Umsturzes« nannte. Den Rückzug in die Armee habe er als »aristokratische Form der Emigration« dargestellt. In privaten Briefen habe er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg gehalten, nannte unter anderem die Nazis »Bestien«. Viele seiner Gedichte, so Enzensberger, »streifen den Kitsch«, aber von Benn gebe es »mehr als alles, was von den meisten Lyrikern übrigbleibt«.
Unabhängig voneinander verwahren sich sowohl Enzensberger als auch Regnier gegen nassforsche Verurteilungen aus der heutigen Sicht. Illies betont einmal, dass einige Protagonisten eine Familie zu ernähren gehabt hätten. Regnier weist darauf hin, dass man damals nicht habe wissen können, wann Krieg und Nazi-Zeit enden würden. Man kommt nicht umhin, den von Frank Thieß geprägten Begriff der »inneren Emigration« aufzunehmen. Aber was ist darunter zu verstehen? Ist er alleine schon durch den Gebrauch eines Gesinnungsnazis wie Thieß kontaminiert, wie Albert von Schirnding nahelegt? Wie soll das gehen: Nach außen regimetreu – im Innern ein Gegner.
Thieß benutzte »innere Emigration« eben auch als nachträgliche Reinwaschung und brachte sie gegen die »Exilanten« in Stellung, die sich aus dem Staub gemacht hätten. Was einem bei der Betrachtung einfällt: Es gab eine überraschende Gemeinsamkeit zwischen den Vertretern der Restauration (wie Thieß aber auch Friedrich Sieburg, Günter Blöcker oder Hans-Egon Holthusen) und jenen sich progressiv gebenden ehemaligen Wehrmachtssoldaten und Flakhelfern, die sich in der Gruppe 47 versammelten. Beide hatten – aus unterschiedlichen Gründen – kein Interesse daran, Exilanten einen Platz auf der sich neu konstituierenden literarischen Bühne in Deutschland einzuräumen. Man warb nicht um sie, die als gestrig galten und, infolge ihrer einstigen Popularität, Konkurrenten hätten darstellen können. Immerhin: Walter von Molo forderte im August 1945 Thomas Mann auf, nach Deutschland zurückzukehren (»Bitte kommen Sie bald…«). Der lehnte ab und wartete vier Jahre – bis zu einem Besuch.
Graf versucht, den Begriff als eine Art Exil in den eigenen vier Wänden zu definieren, als eine Realitätsflucht durch Aussparung bestimmter Lebensbereiche. Einmal fällt im Film das Wort vom »durchmogeln«. Vielleicht könnte man »innere Emigration« auch zunächst einmal so übersetzen. Nicht bei allen, nicht bei Leuten wie Thieß, Vesper, Grimm oder Holthusen, diesen Auftrumpfern und wahlweise Unbelehrbaren oder Wendehälsen, aber vielleicht bei anderen, wie Wolfgang Koeppen, Horst Lange, Werner Bergengrün, Ricarda Huch oder Günter Eich. Und vielleicht hörte die innere Emigration bei einigen gar nicht mehr auf, etwa bei Erich Kästner.
Lebensstarre
Diese Ambivalenzen der Heimgebliebenden zeigen sich sehr gut bei Erich Kästner (1899–1974). Er, der erfolgreiche Kinderbuchautor (in Wahrheit, so erfährt man, ein »Kinderfeind«) schaute zu, wie einige seiner Bücher (u. a. Fabian) 1933 verbrannt wurden. Aber er blieb in Deutschland. Warum, das schreibt er indirekt seiner Mutter; Regnier lässt sich Marbach die täglichen Briefe und Postkarten Kästners an seine Mutter zeigen.
Kästner hatte seine »innere Emigration« nach dem Krieg immer besonders betont. Formal mit »Berufsverbot« belegt (die Romane erschienen im Ausland), schrieb er in den 1940er Jahren unter Pseudonym Film-Drehbücher. Das bekannteste ist zum Film Münchhausen mit Hans Albers. Es gilt als undenkbar, das Goebbels nicht die wahre Identität des Autors bekannt war. Gegen Ende des Krieges (wobei die Beteiligten – siehe oben – nicht wissen konnten, wie nah das Ende war) flüchtete Kästner mit einem Team zu einem Filmprojekt nach Tirol. Heinrich Breloer hatte dies vierzig Jahre später in einem Dokumentarfilm rekonstruiert. In den Kameras damals war kein Film eingelegt; der Aufenthalt war eher eine Flucht vor den Bomben der Alliierten (sein Haus war kurz zuvor nach einem Bombenangriff abgebrannt).
Julia Voss, Jahrgang 1974, vermisst von Kästner ein Reuebekenntnis nach dem Krieg. Indirekt hadert man mit ihm, den immer wieder angekündigten Zeitroman über die Erlebnisse während der NS-Zeit nie geschrieben zu haben. Obgleich unter der Rubrik »Sonderfälle, teils positiv, teils negativ« geführt, attestierte Zuckmayer, dass Kästner zu den wenigen deutschen Nichtnazis von »Ruf und Rang« gehört habe. Vielleicht spielte diese Bewertung eine Rolle, dass er rasch zum Feuilletonchef der Neuen Zeitung berufen wurde. Hier, so Enzensberger 2018, teilte er gegen die alten Nazis aus, gegen Veit Harlan und Leni Riefenstahl. Und sorgte dafür, dass die »Emigranten in den Ruinen der deutschen Literatur wieder zu Wort kamen«. Bei Uwe Neumahr kann man allerdings nachlesen, das Kästner mit dem Nürnberger Prozess nichts anfangen konnte; er ging auf Distanz wie später zur politischen Entwicklung Deutschlands, der Wiederbewaffnung und dem »Wirtschaftswunder«. Er fremdelte und ging immer mehr seiner ästhetischen Mittel verlustig. Die Ironie, die Satire zündete nicht mehr; »die Leichtigkeit war weg«, der Witz sei »dem Bierernst« gewichen, heißt es. Die Melancholie, die ihn immer mehr einnahm, war am Ende, so Illies, »von Depression kaum zu unterscheiden«. Schon in seinen Briefen an sich selbst (1940er) zeichnete sich das ab. Am Ende attestiert man Kästner eine »Lebensstarre, die wirkte wie die Gefangenschaft in einem inneren Kyffhäuser«. (Und vielleicht sollte man statt »innere Emigration« jetzt besser »Kyffhäuser« sagen).
Andere kamen gar nicht zurecht, wie Jochen Klepper (1903–1942). Sein Hauptwerk war Der Vater, ein erfolgreicher Roman über Friedrich Wilhelm I. Eine Deutung ist, dass der Preußenkönig im Roman allegorisch als Gegenbild zu Hitler dargestellt wird. Klepper entstammte aus einem evangelischen Pfarrhaus, heiratete die jüdische Witwe Johanna Stein, die zwei Töchter in die Ehe brachte. Klepper wurde eingezogen, war in Polen und in Rumänien. Finanziell hatte er als Soldat sogar Vorteile und schien geschützt vor den Nachstellungen seiner Familie durch die Gestapo. In seinem Tagebuch schwärmt er von der deutschen »Truppe«. Aber bereits 1941 wurde er wegen seiner »nichtarischen« Ehe entlassen. Die älteste Tochter konnte nach England gehen. Dass sich seine Frau und die jüngste Stieftochter taufen ließen, half nichts: Die verbliebene Tochter musste den »Judenstern« tragen. Es ging nicht um Konfession, sondern um »Rasse«. Klepper, der zutiefst gläubig und zugleich obrigkeitstreu war, wird vorstellig, sucht nach Nischen, hofft auf ein Einsehen der Nazi-Beamten. Und er ringt mit sich. Einerseits wollte er nicht gegen die Gesetze des Staates – und seien es auch Unrechtsgesetze – verstoßen. Anderseits: Sollte er warten, bis die Gestapo kommt und ihn, seine Frau und die Tochter ins KZ bringt und dort umbringt? Oder soll er die Sünde des Selbstmords begehen? Er entschied sich für Letzteres.
Also kein »Überlebenskünstler« (daher fehlt er auch in Enzensbergers Buch). Aber wer wollte heute diesem Schriftsteller erzählen, er hätte sich besser ins Exil begeben? Oder er habe sich versucht, durchzumogeln? Die Kommentatoren im Film schweigen zu Klepper. Regniers Sicht ist differenziert, man merkt ihm an, wie auch er hadert, den Staatsgehorsam Kleppers als übergeordneten Wert einerseits ablehnt, andererseits aber dessen Haltung achtet.
Flucht ans Ende der Welt
Die Unterschiede zwischen Jochen Klepper und Hans Fallada (1893–1947) könnten nicht größer sein. Fallada ist der Mann, der in den 1930er Jahren in einen Schreibrausch geriet, die gesamte Nazi-Zeit in Deutschland verbrachte und mit seinen Romanen große Erfolge hatte. Vor den Wirren der Großstadt floh er ans »Ende der Welt« nach Carwitz, in Mecklenburg; er hatte, wie es im Film heißt, »weggeschaut« und sich ins Private zurückgezogen.
Zuckmayer sieht in Fallada einen deutschen Emile Zola; er sei ein »anständiger und oft übers Gewöhnliche hinaus begabter Schriftsteller« mit einer »innerlichen Ehrlichkeit«. Er dürfte die Korrespondenz, die Regnier im Film zeigt, nicht gekannt haben. Da gibt es einen Brief des »Reichministeriums für Volksaufklärung und Propaganda« vom Juni 1943 – eine Anfrage, ja fast so etwas wie ein Gebot, einen antisemitisch grundierten Roman zu verfassen. Man habe gehört Fallada plane, so heißt es in dem Schreiben der Nazi-Behörde, ein Buch über den sogenannten »Barmat-Kurtisker-Skandal« und möchte nun wissen, wie weit es damit sei. Fallada schreibt devot zurück, windet sich, sieht in den Ereignissen des Jahres 1926 den »Geldwahn« bestätigt, wie man ihn nur »bei Juden findet«. Fallada hatte, so Regnier, mit dem Roman wohl begonnen, Teile diktiert, aber gefunden worden sei nichts. Fallada sei, so auch er, kein Nazi gewesen – eher im Gegenteil. Enzensberger nannte ihn einen »Unglücksraben«, der, warum auch immer, in den 2010er Jahren noch einmal zu Popularität kam. Vielleicht, weil einige seiner Romane endlich nicht mehr verstümmelt, sondern vollständig erscheinen konnten. Hans Fallada starb wenige Wochen nach der Veröffentlichung von Jeder stirbt für sich allein.
Mit Ina Seidel (1885–1974), Hanns Johst (1890–1978) und Will Vesper werden drei Autoren behandelt, die Enzensberger nicht in seine Sammlung aufgenommen hatte. Er sprach ihnen vermutlich nicht nur die literarische Satisfaktionsfähigkeit ab. Relevanter war eher, dass sie zutiefst überzeugte Nationalsozialisten waren und ihr »Überleben« aus der rückhaltlosen Anpassung an das Regime bestand. Hanns Johst war seit 1935 Präsident der Reichsschrifttumskammer und Will Vesper Verfasser zahlreicher Hitler-Oden. Ina Seidels Treuegelöbnisse verhinderten nach dem Krieg nicht, dass mehrfach ausgezeichnet und Mitglied der Bayerischen Akademie der Künste wurde; ihre Läuterung glaubte man. Im Film wird von einer lesbischen Liebesbeziehung Ina Seidels während des Krieges erzählt, die Julia Voss zum Anlass nimmt, sie zu exkulpieren. Zuckmayer spottet über Seidel: Sie sei zeitweise »einer völligen Hirnvernebelung« erlegen, »in deren trübem Qualm sich Hitler als der gottgesandte Erlöser der Deutschen, als Baumeister Solness und froher Adelsmensch darstellte«. Eindeutig ist die Angelegenheit bei Hanns Johst. Er bekommt nicht mehr Zeit, als man braucht, um festzustellen, was für eine erbärmliche Figur und »grottenschlechter« Schriftsteller (Anatol Regnier) er war. Noch heute skandalös, wie rasch Johst im Nachkriegsdeutschland »rehabilitiert« wurde. Literarisch spielte er keine Rolle mehr; er schrieb für Edeka Werbetexte.
Empathielosigkeit überall
Spannend wird es bei Will Vesper (1882–1962), der in den 1920er Jahren ein geschätzter Lyriker, Lektor und Herausgeber einer eher liberalen Literaturzeitschrift war. Er sei dann, so Regnier ein bisschen gutgläubig, »irgendwie« in das Apologetentum für die Nazis »reingerutscht« und wurde zu »einer Art Zerberus der Weltanschauung«. Die Ausschnitte sind hingegen überdeutlich; im Film wird er »Volks- und Blutdichter« genannt. Indem parallel die Aufarbeitung des Sohnes Bernward gespiegelt und Ausschnitte aus der Verfilmung aus dem Jahr 1986 von Bernward Vespers Die Reise (mit Will Quadflieg als Will Vesper; Regie hatte Markus Imhoof) collagiert werden, entsteht ein beklemmender Eindruck. Schließlich zitiert Regnier aus dem Gästebuch des Vesper-Anwesens Triangel bei Gifhorn die Notate einer gewissen Gudrun Ensslin, die von 1962 bis 1967 immer wieder zu Besuch kam. Es sind freundliche, teilweise euphorische Eintragungen. Ensslin war einige Zeit die Lebensgefährtin von Bernward Vesper. 1967 wurde er gemeinsame Sohn Felix geboren. Hier schweift der Film ab, streift die RAF, deren Protagonisten, die, wie Regnier meint, in der durchaus berechtigten »Wut über ihre Eltern, die sich dem Dritten Reich gebeugt« hatten, »unbewusst an die Empathielosigkeit und Grausamkeit der Nazis« angenähert hätten.
Nach dem Ende um den Rorschach-Forscher Kelley holt Graf zu einem großartigen Schlusswort aus. »Der Faschismus«, deklamiert eine Sprecherin aus dem Off, »mag nicht notwendigerweise einer krankhaften seelischen Veranlagung entspringen, aber er trägt die Eigenschaften eines Virus in sich.« Dann übernimmt Graf: »2021 wurde in München die Umbenennung der Erich-Kästner-Straße am Hohenzollernplatz zur Debatte gestellt. Die Dummheit, die hinter diesem Vorschlag irgendwelcher Kulturbeauftragter steckt, ist nicht nur atemberaubend, sondern sie ist auch atemberaubend gefährlich, denn er beruht auf einer fehlenden Anerkennung der Ambivalenz des Menschlichen, einer Art Erkenntnisverweigerung.« Weiter heißt es: »Wir werden mit unseren eigenen widersprüchlichen Anteilen nicht fertig, wir verdrängen stattdessen und verurteilen. Wir reden von unseren Werten, um uns in Sicherheit zu sonnen. Und wichtig ist den Gesundbetern dabei das makellose Weiß oder das lückenlose Schwarz in der Beurteilung anderer. Gut oder böse, Ausschluss oder dazugehören: Dazwischen gibt es für sie – die dem Faschismus ja eigentlich Nachgeborenen – nichts. Sonst müssten Sie sich ja mit ihrem eigenen, dunklen Selbst konfrontieren. Und so wird diese Vereinfachung der Weltanschauung schnell nichts anderes als ein neuer Totalitarismus, eine neue Reinheitsideologie, diesmal entstanden in der alternativlosen Glaubenshülle der guten Menschen.«
Jeder schreibt für sich allein ist ein fesselnder, beeindruckender, lehrreicher, auf eine fruchtbare Weise bisweilen verstörender Film. Nach dem Abspann möchte man ihn sofort noch einmal sehen.
Ab 24.08.2023 im Kino
»Die Dummheit, die hinter diesem Vorschlag irgendwelcher Kulturbeauftragter steckt, ist nicht nur atemberaubend, sondern sie ist auch atemberaubend gefährlich, denn er beruht auf einer fehlenden Anerkennung der Ambivalenz des Menschlichen, einer Art Erkenntnisverweigerung.« Ein treffender Satz, der sich auf die gesamte Cancel-Culture beziehen läßt. Und die Rede von der Tendenz zu einem neuen Totalitarismus ist auch nicht überzogen.
Ich vermute, dass wir erst am Anfang eines Prozesses stehen, der mindestens in Teilbereichen orwelleske Ausmaße annehmen dürfte. In einigen Jahren wird man über die erfolgte oder nicht erfolgte Umbenennung der »Erich-Kästner-Straße« nur noch sehnsuchtsvoll lächeln.