Literaturdiskussionen im digitalen Zeitalter
Gelegentlich, in verschiedenen Texten und Kontexten, weise ich darauf hin, daß ich die seit einer Reihe von Jahren weltweit verbreitete Gewohnheit zahlloser Privatpersonen oder vielleicht auch – man kann es nicht wissen – öffentlicher Personen, sich nur unter sogenannten nicknames oder ganz ohne Namen öffentlich, also im Internet, zu äußern, für eine Unsitte halte, die alles in allem negativen Einfluß auf die Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausübt. Ich selbst äußere mich in sogenannten Foren und Kommentarspalten grundsätzlich nur unter meinem sogenannten Klarnamen. Das tat ich unlängst im Onlineforum einer österreichischen Tageszeitung, nachdem ich dort eine Erzählung eines österreichischen Schriftstellers gelesen hatte, die sich auf die gegenwärtige Pandemie bezog. Die meisten Reaktionen der Onlineleser dieser Erzählung waren negativ und nicht sonderlich klug, geschrieben von Leuten, die wenig Ahnung haben von Literatur.
Ich verspürte kein Bedürfnis, dazu selbst etwas zu äußern, bis ich auf einen – natürlich pseudonymen – Kommentar stieß, der mir das Problem dieser Erzählung zu berühren schien. Jetzt griff ich doch noch zur Feder, ließ meine Finger über die Tastatur des Computers gleiten. Ausdrücklich schrieb ich, daß ich die abschätzige Wertung dieses Lesers nicht teile, und versuchte, die von ihm vermutete persönliche Problematik auf eine literarische Ebene zu heben: Ich stellte die Frage, ob eine vorsätzlich und radikal abstrakte Literatur, bei der man nicht einmal die geschlechtliche Zuordnung (»Elternteile«), geschweige denn irgendwelche – sei es auch fiktive – Namen und erst recht keine Gefühle erfährt, denn funktionieren könne. Sollte Literatur nicht gerade das Konkrete, Besondere, Einzigartige im Auge haben?
Diese Frage kann man so oder so beantworten. Es gibt Autoren, auch sehr berühmte, die vorwiegend mit Stereotypen, deren Konstruktion und Dekonstruktion arbeiten. Mit solcher Literatur habe ich zugegegebenermaßen Schwierigkeiten. Ich sehe aber nicht, was daran ehrenrührig sein sollte, diese Frage am Beispiel eines konkreten (und zwar abstrakten) Erzähltextes aufzuwerfen.
Kurz nach der Veröffentlichung meines Kommentars erhielt ich im Messenger meines »Facebook-Accounts« (so nennt man das wohl) eine Nachricht dieses Autors. Er wollte wissen, ob ich derjenige sei, der unter dem Namen »Leopold Federmair« in jenem Onlineforum »gepostet« hatte. Die Frage wirkte seltsam, zumal der Autor bei seiner Aufforderung zur Antwort das Wort »Mut« gebrauchte und damit implizit die Möglichkeit von Feigheit in den Raum stellte. Ich antwortete freimütig: Ja, klar, so heiße ich, so poste ich.
Darauf antwortete der Autor in moralisierendem Tonfall, daß es schändlich (oder jedenfalls »letztklassig«) sei, in einem so zweifelhaften Forum gegen ihn »Stimmung zu machen«. Ich fragte ihn – elektronischer Schlagabtausch, Messenger-Stichomythie! –, ob er denn nun über das von mir aufgeworfene literarische Problem reden wolle. Antwort: Nein, ihm genüge die Bestätigung meiner Identität. Darauf folgten noch zwei Nachrichten, eine Diskussion wollte der Autor nicht. Meine Schändlichkeit (bzw. »Letztklassigkeit«) fand er bestätigt. Das war’s.
Ich unterlasse hier jede Schlußfolgerung, jede Wertung, jede weitere Interpretation, jeden Hinweis auf Literaturbetrieb und Schriftstellerdasein, Selbstdarstellung und Selbstverbergung im digitalen Zeitalter. Möge, wer diese paar Zeilen liest, sich selbst einen Reim darauf machen. Nur eines möchte ich hier festhalten: Wirklich frappiert hat mich an der Auseinandersetzung die Blauäugigkeit meines (Nicht-)Gesprächspartners, die darin bestand, die Möglichkeit, ich hätte diesen Kommentar nicht selbst geschrieben, in Betracht zu ziehen. Diese Annahme würde bedeuten, daß mir jemand, den ich nicht kenne, meinen Namen (»Klarnamen«) klaut und unter diesem Namen Dinge äußert, die ich selbst nicht äußern würde. Wer mich oder Schriften von mir auch nur ein wenig kennt, dem ist sofort klar, daß nur ich diesen Kommentar geschrieben haben kann. Aber offensichtlich hat die Pseudonymitätskultur der letzten Jahre oder Jahrzehnte bewirkt, daß jeder jedem jederzeit mißtraut. Er glaubt ihm zunächst einmal nicht, daß er der ist, der er vorgibt zu sein. Man nimmt zumindest an, daß er ein anderer sein könnte. Im wirklichen Leben würden wir das nie tun, wenn wir jemandem gegenübertreten. Die Internetkommunikation, besonders die sogenannten Sozialen Medien, sind ein Spielfeld, auf dem das Mißtrauen eingeübt wird, das mehr und mehr auch die Beziehungen im wirklichen Leben beeinflußt und prägt.
Vielleicht ist mein Autor aber gar nicht so blauäugig. Vielleicht hat er nur einen Anlaß gebraucht, um mich herunterzuputzen und mir die Ungehörigkeit vorzuhalten, die darin besteht, ein spontanes, offenes Gespräch in einem Feld beginnen zu wollen, wo seiner Ansicht nach nur üble Nachrede möglich ist. Aber warum, frage ich mich, liest er dann überhaupt alle diese Kommentare, bis zu meinem, der erst an – ungefähr – hundertster Stelle kam? Und muß man wirklich alle, die aus irgendeinem Grund in solchen Foren »posten«, für blöd und böswillig halten? Weil sie sich hinter falschen Namen, hinter Sprachmasken verstecken?
© Leopold Federmair