Am 22. Oktober 2023 verfasste ich einen kleinen Text über den Streit um das Buch Eine Nebensache von Adania Shibli und das Schweigen der Autorin zu den Einwänden. So ganz hat sie dann doch nicht geschwiegen, sondern einen Verbotsantrag beim Landgericht Hamburg gegen die tageszeitung (taz) gestellt, die am 10. Oktober 2023 eine eher ablehnende Literaturkritik von Carsten Otte zu Shiblis Buch publiziert hatte.
Gegen ein Ordnungsgeld von 250.000 Euro (oder ersatzweise zwei Jahre Ordnungshaft) sollte die Weiterverbreitung zweier Passagen aus dem Text von Otte per einstweiliger Verfügung verboten werden. Am 22.11.2023 erging nun der Beschluss des Landgerichts Hamburg, der hier kurz erläutert werden soll.
1.
Carsten Otte schrieb: »In diesem Kurzroman sind alle Israelis anonyme Vergewaltiger und Killer, die Palästinenser hingegen Opfer von vergifteten bzw. schießwütigen Besatzern. Die Gewalt gegen israelische Zivilisten kommt wohl auch deshalb nicht vor, weil sie als legitimes Mittel im Befreiungskampf gegen die Besatzer gilt. Das ist die ideologische und auch menschenverachtende Basis des Buchs, […].«
Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass es sich hierbei nicht um eine »unwahre Tatsachenbehauptung« handelt, sondern eine »insgesamt eine zulässige Meinungsäußerung« vorliegt und fährt fort: »Ob man in einer Gesamtbewertung des Buches der Antragstellerin zu dieser Einschätzung gelangt, ist eine Sache des Meinens und Dafürhaltens und nicht einer möglichen Beweisaufnahme zugänglich.«
Auch den Teil des Zitats, in dem die politische Stoßrichtung der Autorin gemutmaßt wird (»Die Gewalt…«) handelt es sich nach Auffassung des Gerichts »aus der Sicht des Durchschnittslesers…um eine zusammenfassende und zuspitzende Wertung«.
2.
Otte bezeichnete in seinem Text Shibli als »engagierte BDS-Aktivistin«. Diese Zuschreibung wollte man verbieten.
Die taz sah hier offensichtlich eine gewisse Gefahr und hatte dieses Wort in dem Online zugänglichen Text in der Rezension entfernt und zur »BDS-Unterstützerin« umformuliert.
Das Gericht sieht jedoch auch hierin eine »zulässige Meinungsäußerung«, zumal der Begriff des Engagements »wertungsabhängig« sei.
Auch hinsichtlich des Streitwertes wurde eine Entscheidung getroffen: Er beträgt 20.000 Euro.
Das Aktenzeichen lautet 324 O 477/23 [pdf]. Rechtsmittel sind, so die Auskunft der Kanzlei Eisenberg König Schork, bisher noch nicht eingelegt worden.
Jetzt mag man zur Kritik von Carsten Otte stehen wie man will. Viele loben Shiblis Buch, er sieht eben Ambivalenzen, deutet den Kurzroman politisch. Man kann darüber diskutieren (ich kenne das Buch nicht). Aber der Versuch, diese eindeutig subjektiven Äußerungen als Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aufblasen zu wollen, hat totalitäre Züge.
Man fragt sich, was wohl die mehr als 600 Unterzeichner des »Offenen Briefes«, die in ihr Befremden über die bloße Verschiebung der Litprom-Preisvergabe auf der Buchmesse schon die Meinungsfreiheit in Gefahr sahen (»closing out the space for a Palestinian voice«), zu diesem »Verbotsantrag« sagen werden. Ich warte.
Die Frage geht auch an die Organisatoren des Berliner PEN, die aus welcher Solidarität auch immer auf der Buchmesse eine Lesung des Buches veranstalteten. Wie kommentieren sie den Versuch, die Literaturkritik mit haltlos überzogenen Ordnungsgeldforderungen mundtot zu machen? Gehen sie, die sonst immer irgendetwas zum empören finden, mit solchen Maßnahmen d’accord? Ich warte.
Und dann die Frage an die Preisvergeber. Sicher, es geht primär um das Buch und dessen literarischen Wert. Aber wollen sie zur Tagesordnung übergehen und eine Autorin auszeichnen, die das freie Wort unterdrücken will? Ich warte.
Vermutlich werde ich sehr lange warten müssen.