Ich kenne diese öden, langweiligen Diskussionen, währenddessen friedliebende und sich einander respektierende Menschen in wenigen Augenblicken mutierten zu feindseligen, auf immer zerstritten mit denen, die sie noch vor wenigen Stunden Freunde genannt hatten: Es geht um das Pro und Contra dessen, was man (ungenau) Todesstrafe nennt und in den 70er und 80er Jahre das beliebteste Referendarsdiskussionsthema gewesen sein muss.
Konnte man doch in der sicheren Hülle einer demokratischen Gesellschaft seine politisch-korrekte Ächtung monstranzähnlich immer aufs Neue unter Beweis stellen und es all denjenigen zeigen, die sich der kategorischen Festlegung auf einer der scheinbar unverrückbaren Pole entziehen wollten (meistens versuchten sie dies anfangs argumentativ, um dann – nach kurzer Zeit – vom Wortschwall niedermoralisiert zu werden). Selektive Wahrnehmungen hatten auch damals schon Konjunktur.
Saddam Hussein ist heute hingerichtet worden. Man kann auch sagen, er sei ermordet worden. Menschenrechtsorganisationen versuchten, die Vollstreckung des Todesurteils zu verhindern. Die deutsche Bundesregierung betont, man sei gegen die Todesstrafe. Der Vatikan entblödet sich nicht, dieses Ereignis »tragisch« zu nennen (vermutlich ist man dort des Begriffs der Tragik verlustig gegangen) und ein EU-Mensch nannte es bestialisch (vermutlich vom warmen Kamin aus). Diejenigen, die sich vor 20 oder noch mehr Jahren nicht scheuten, mit dem Diktator vor den Kameras zu posieren, zeigen sich zufrieden. Welch’ ein Gefasel. Welche Heuchelei.
Dabei hat Saddam Hussein eigentlich nur einen grossen Fehler begangen und zeigt ein Lehrstück für alle Diktatoren dieser Welt: Sie dürfen in ihrer Bevölkerung ruhig Massaker anrichten; Menschen in Dörfern vergasen; autokratische Systeme errichten; korrupt sein (man verdient ja daran auch so schön) – sie dürfen nur eines nicht: Sich mit der USA (und dem Westen) anlegen! Sie dürfen nicht den Weltmachtanspruch infrage stellen und sich gegen ihn stellen. Als der Irak noch als Bollwerk gegen die iranische Revolution galt, war Saddam unser »Freund« – als er Kuwait angriff (die Umstände, warum er das tat sind immer noch ungeklärt) und nicht weichen wollte, mutierte er zum Satan. Realpolitiker erkannten dennoch, dass er ein fragiles Gebilde genannt Irak zusammenhielt. Irgendwann setzten sich die »Visionäre« an den Tisch – und begannen, an ihren Epitaphe zu denken.
In Wahrheit musste man Saddam dankbar sein: Im Rahmen der sogenannten asymmetrischen Kriege (wieder so ein hohles Wort) war er ein bequemer Feind. Er war geografisch festzumachen; das konventionell-militärische Prozedere verfing (zweifellos übersah man, dass ein militärischer Sieg ungleich leichter als ein politischer Sieg ist). George Bush konnte sich endlich von seinem Vater emanzipieren und zeigen, was für ein toller Führer er doch ist.
Verliebt in die Hitler-Metaphorik einiger Dummköpfe (auch unter Deutschlands Wichtigtuern waren sie zu finden) dachte man wohl, der Sturz des Diktators werde ähnlich aufgenommen wie 1945 in Deutschland. Dort konnte man allerdings Konzentrationslager vorzeigen, die in ihrer Monstrosität alles in den Schatten stellten, was vorstellbar schien (von deren Existenz übrigens die Aliierten früh genug wussten). Bei Saddam Hussein fanden sich nicht einmal die vermuteten Massenvernichtungswaffen. Sein Gebiss, mit dem er die Zähne zeigte, war aus billigem Plastik. Die Massaker Saddams waren fast alle zu Zeiten der Freundschaft verübt worden.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Die Hinrichtung Saddam Husseins empfinde ich als wohltuend. Ein Scheusal weniger. Hätte ich 1946 gelebt, hätte ich auch die Hinrichtungen der Nürnberger Prozesse als reinigend und notwendig begriffen. Was diese erbärmlichen Verbrecher anrichten, wenn man sie einsperrt und sogar wieder freilässt, ist am Beispiel von Speer hinreichend dokumentiert. Und am Beispiel von Rudolf Hess zeigt sich, dass auch ein Häftling gerade dadurch zum Märtyrer für Schwachköpfe werden kann, in dem er lebenslänglich einsitzt und sein »Schicksal« stoisch erträgt.
Humanität für die systematischen Vernichter von Humanität einzufordern, sich gar mit ihr zu rühmen, ist Dummheit. Der Tod Saddams ist natürlich ein Symbol – er hilft dem Land nicht und dürfte kurzfristig sogar zu noch mehr Unruhen führen. Ihm haftet auch der Geruch einer Siegerjustiz an. Wer auf der richtigen Seite steht, bestimmt. Aber Krokodilstränen heulen – nein, soweit geht mein Mitgefühl nicht. Auf diese Humanitätsduselei verzichte ich.
Interessant
Gerade habe ich hier einen Kommentar geschrieben zu einem Beitrag, der ebenfalls die Hinrichtung Husseins zum Thema hat, nur von einem ganz anderen Blickpunkt aus.
Ja, das sind alles gute Gründe...
aber ich frage mich, warum Du diskutierst, wenn die Dame ausdrücklich nicht diskutieren will, sondern nur ihre Gesinnung zur Schau stellt.
Es geht auch gar nicht um die Todesstrafe als normale gesetzliche Sanktion; das befürworte ich auch nicht. Es geht darum, dass es bestimmte Situationen gibt, in denen es m. E. keine andere Möglichkeit gibt. Das Paradebeispiel sind und bleiben die Nürnberger Prozesse. Wie soll man sonst Verbrechen dieser Kategorie begegnen?
Die Humanitätsritter empfinden es vermutlich als besonders gelungen, dass Pol Pot friedlich gestorben ist und sein Sekretär heute noch – unbehelligt – eine neue Rote Khmer aufbaut. Sie sitzen ja weit weg davon und haben damals auch nicht gelitten.
Ich bereue es ja bereits,
spätestens nach dem Kommentar von David Ramirer, Zitat: »alle deine argumente könnten von mir sein. diskussion daher tatsächlich nicht nötig.« (Schema: Weil ich derselben Meinung bin wie du, muss auch niemand anderes diskutieren.) Ich hingegen finde in ihrem Beitrag kein einziges logisches Argument gegen die Todesstrafe. Der Widerspruch beginnt schon damit, dass jemand, der keine Diskussion wünscht, einen solchen Beitrag schreibt. Erinnert an die fruchtlosen Diskussionen mit Anaximander.
Ich befürchte,
dass er jetzt von einigen zum Martyrer gemacht wir und dass es einen Jahrestag geben wird ‚und und....
Die Todesstrafe hat noch nie Mörder oder sonstige Täter von der Tat abgehalten(darüber gibt es Untersuchungen),also ist sie sicher kein probates Mittel. Aber andererseits kann ich Köppnick zustimmen,dass man diese Frage NICHT emotional beantworten sollte, dazu ist sie zu ge-waltig.
Natürlich ist es schwachsinnig, jegliche Diskussion abzulehnen, das impliziert für mich etwas apodiktisch-abwehrendes.Ja nicht gekränkt werden wollen und ........göttergleiche Meinung vertreten.
Das hat a schales Gschmäckle....
Ihre kurze Beschreibung der Wandlung vom Freund zum Feind, zum Todfeind und zum Monster stellt ja das ganze Dilemma dar. Sterben musste er, keine Frage. Wie anders sollte der Irak sonst überhaupt eine Chance auf Rückkehr zu Normalität haben. Kurzfristig wird die Gewalt eskalieren, sofern eine Eskalation überhaupt noch möglich ist, aber bald wird kein Hahn mehr nach ihm krähen.
Mit dem Todesstrafenthema ( für oder wider) hat diese Hinrichtung absolut nichts zu tun. Es ist nur der Versuch, einen Schlussstrich unter ein irakisches Geschichtskapitel zu ziehen.
Mitgefühl heucheln? – Nun wirklich nicht.
@Köppnick & Cleos
Wie blackconti schon schreibt, ist für mich diese Hinrichtung losgelöst vom Thema »Todesstrafe – pro oder contra«. Sie fand in einer Art Interregnum statt.
Dass jemand einen solchen Beitrag mit der DIktion »ich will darüber nicht diskutieren« schreibt, zeigt ja auch eine gewisse Unsicherheit über das, was man dort postuliert. Es ist ja gelegentlich so, dass man sich auf Weblogs immer mit den Claqueren umgibt, dessen Beifall man sicher ist. Das ist natürlich für Leute wie Dich und mich eher langweilig.
Natürlich schreckt die Todesstrafe niemanden ab. Eine Freiheitsstrafe von 6, 10 oder 15 Jahren schreckt auch den Totschläger nicht ab. Schafft man deshalb per se alle Strafen ab? Nein. Bei Reemtsma kann man sehr schön nachlesen, wie ein Verbrechensopfer Strafe empfindet: als Wiedereingliederung in die Gesellschaft (sehr verkürzt darstellt).
Die Gefahr, dass S.H. nun Märtyrer wird, ist natürlich gegeben. Es bestünde aber auch die gleiche »Gefahr«, wenn er bis ans Ende seiner Tage in einer Zelle schmoren würde. Wer ihn zum Märtyrer stiliseren will, macht es auch – unabhängig davon, ob er eingesperrt ist, im Exil lebt oder tot ist.
@ herrn keuschnig:
zitat: ... wenn die Dame ausdrücklich nicht diskutieren will, sondern nur ihre Gesinnung zur Schau stellt.
die Dame ist keine Dame. Sie ist Frau. Wäre sie eine Dame, würde sie sich jetzt vornehm zurückhalten und nicht sagen, dass Sie Herrn Keuschnig für ein arrogantes Arschloch hält.
Ich bin aber noch immer gegen die Todesstrafe. Auch für arrogante Arschlöcher.
@testsiegerin
Da haben Sie ja in Windeseile Ihre hervorragende Diskussionskultur demonstriert! Das hatte ich so schnell gar nicht erwartet.
Ich lasse den Kommentar mal so stehen, weil er sehr lehrreich ist. Aus Ihrer Feder ist das ja eher ein Kompliment.
@Testsiegerin & @Gregor
Nanana, immer schön zwischen Person und Text / Meinung unterscheiden.
@Testsiegerin, widersprechen Sie mir, wenn ich mich irre:
Menschen, die gefühlsmäßig die Todesstrafe ablehnen, bekommen große Schwierigkeiten in dem Moment, in dem ihre persönliche Lebenssituation sie in die Nähe eines Menschen führt, von dem sie glauben, er hätte den Tod verdient. Weil Gefühle keine dauerhafte Grundlage für menschliches Handeln darstellen. Ein Mob, der durch die Straßen zieht und ruft »Hängt das Schwein!« handelt genauso nach Gefühl und irrational.
Dabei gibt es gute und rationale Gründe gegen die Todesstrafe. In Ländern mit Todestrafe gibt es nicht weniger Verbrechen als in solchen mit, sodass eine präventive Wirkung dieser Strafe ausgeschlossen werden kann. Aber in diesen Ländern ist die Brutalität der Täter größer, wenn sie sich der Strafverfolgung entziehen wollen, weil sie ja wissen, was sie erwartet. Insofern verstehe ich überhaupt nicht, warum sie die Argumentation aufgegeben haben. Die Logik steht doch auf Ihrer Seite.
@Alle: Einen guten Rutsch und ein gesundes neues Jahr, wünsche ich uns allen!
@ köppnick:
weißt du, es ist kein diffuses, leicht flüchtiges gefühl, das mich die todesstrafe ablehnen lässt, sondern eine tiefe überzeugung, dass es nicht rechtens sein kann, menschen zu töten. schlimm genug, dass es ohnehin passiert und oft nicht verhindert werden kann.
[EDIT: 2007-01-01 17:50]
kann schon sein...
...dass du hinrichtungen in manchen fällen als »reinigend« oder auch »wohltuend« empfindest. sie widersprechen trotzdem der UN-Menschenrechtskonvention. damit fehlt ihnen jedwede legitimation. die ablehnung der todesstrafe hat daher nichts damit zu tun, »humanität für die systematischen vernichter von humanität« einzufordern (wer hat übrigens im irak mehr zur vernichtung der humantät beigetragen – saddam oder bush?), sondern einzig mit der unteilbarkeit und der universalität der menschenrechte. die diskussion darüber und das streiten dafür ist weder »öde noch langweilig’ «, sondern, wie dein beitrag hier beweist, dringender notwendig denn je.
ach ja, fast vergessen: sei künftig, ganz im sinne deines weblog-mottos, (»Denken ist vor allem Mut...«) bitte etwas mutiger, bevor du ins blaue hinein schwadronierst.
Na gut, dann werf ich hier einmal meine Argumentation ein.
Diese versagt sich die Todesstrafe für Zivilisten, stellt sie aber als geeignete Massnahme gegen Personen dar, die selber absolute Machtbefugnis über Leben und Sterben haben, – sowie diese auch für eigene Interessen ausgenutzt haben.
[EDIT: 2007-01-07 02:43]
Erstmal ein gutes neues Jahr! Habe das gesagte mit gemischten Gefühlen gelesen, kann mir zwei Fragen einfach nicht verkneifen:
Wie, bitte, sollte die Hinrichtung von der Frage „Todesstrafe – pro oder contra“ jemals losgelöst sein? „Sie fand in einer Art Interregnum statt.” Was wollen Sie damit sagen?
Verwundert hat mich auch, dass Sie die Nürnberger Prozesse als Legitimation aufgreifen. Wenn das ihr voller Ernst ist, dann befürworten Sie auch die Hinrichtung aller noch lebenden US-Präsidenten? Mit welchem Maß messen Sie hier?
Mit Ihrer Andeutung, die amerikanischen Präsidenten betreffend, liegen Sie (unbewusst) gar nicht so falsch. Diese und viele andere Machthaber dieser Welt fallen in die gleiche Kategorie. Das Wort Todesstrafe trifft auch nicht den Kern. Der Beitrag von Steppenhund verdeutlicht ziemlich genau den Unterschied zwischen der abzulehnenden Todesstrafe und der notwendigen Execution eines Mächtigen. Gefühlsduselei ist bei Machthabern, die ganz rational Untergebene in den Tod schicken völlig unangemessen.
...langweilige Diskussionen
WÄHRENDDEREN ...
Bravo!
Ich habe Sprachwissenschaft studiert und jahrelang genau solche Kurse besuchen müssen, Proseminare, Seminare,Oberseminare,Hauptseminare.Wir haben die Texte beweint die Gramatik beleuchtet und filettiert.Es hat mich ungeheuer weise gemacht *g*auch dieses Studium, das jeder Idiot mit Auswendiglernen hinkriegt.
Allerdings DENKEN lernt man dort nicht.
Später habe ich versucht, es pubertierenden aber auch jüngeren Schülern beizubringen neben Texterarbeitung wie »Biedermann und die Brandstifter« und »Faust« und das was »ÜBER« die Texte geschrieben wurde.......lach.
Genau die, die übern Topfdeckel dieser wunderbaren Sprache professionell nachdenken, geilen sich NICHT an derart Banalitäten auf.
Meistens sind diese Auswendiglerner im Beruf geblieben und
die Denker sind gegangen,......
Aber immerhin...gut aufgepaßt.Aber es ist völlig UNWICHTIG.
HIer und sonstwo, ob man das Genus wahrscheinlich unabsichtlich verwechselt.
Nein, es ändert gar nichts.
Es zeigt mir nur, an welch Nebenschauplätzen die Welt hängen bleibt und wieso sich auf dieser Welt nix tut.
Antworten
Naja, ich erwarte wohl von einigen zuviel, wenn man das, was ich da schreibe vielleicht einmal liest und versucht zu verstehen, statt andersdenkendes per se zu denunzieren. Und, liebe Cleos, natürlich ist diese Diskussion schrecklich öde und langweilig. Dennoch erscheint es mir notwendig, auf die Vorwürfe (die auch unter die Gürtellinie zielen; in der Regel ein Beleg für Sprachlosigkeit) kurz einzugehen.
Was bisher geschah: Saddam Hussein ist hingerichtet worden. Ich betrachte dies als keinen gravierenden Verlust für die Menschheit, auch wenn ein unangenehmer Hautgout zurückbleibt, u.a. deshalb, weil er und sein Regime sehr lange »unser Freund« war. Weiterhin konstatiere ich, dass sich die Empörung vieler der heutigen Empörer in Grenzen hielt, als er beispielsweise Kurden vergaste oder Schiiten massakrierte.
Noch mal zum mitschreiben: Die Todesstrafe, wie ich sie verstehe, ist eine in einem autonomen Land mögliche, im Strafrecht festgeschriebene Sanktionierungsmassnahme, die auf Kapitalverbrechen angewendet werden kann (und auch wird). Prominentestes Beispiel sind die USA. Daneben werden vor allem in China, dem Iran und in Saudi-Arabien exzessiv Todesurteile vollstreckt.
Diese Art von Sanktionierung lehne ich ab. Dabei teile ich viele der Argumente, die Köppnick in seinem Beitrag genannt hat. Das Ausrufen der Überzeugung, dass niemand das Recht habe, einen anderen Menschen zu töten, ist allerdings – nebenbei erwähnt – erst einmal nur eine Behauptung und kein Argument. Wenn man dies feststellt, ist damit keinerlei Qualitätsurteil über die Aussage verbunden; sie ist ehrenhaft, aber m. E. in bestimmten Situationen weltfremd. Mit pazifistischer Gesinnung wären Hitler und seine Erben heute Weltenherrscher.
Das man Überzeugungen nicht zur Diskussion stellen möchte, ist verständlich. Wenn man dies in einem Weblog tut, ist es unnütz. Mich interessieren keine Überzeugungen – mich interessieren Argumente.
Weiter: Verfahren wie die Nürnberger Prozesse oder auch dieses im Irak sind keine, in denen sozusagen »normale« Kapitalverbrechen verhandelt werden. Deutschland war 1946 ein besetztes Land – der Irak ist es heute. Ich spreche von einem Interregnum, da die politische und juristische Kontrolle nicht lokal (also in einem autonomen Nationalstaat) stattfindet, sondern direkte oder indirekte Einflüsse durch Besatzungsmächte angenommen werden können. 1946 hatten die Amerikaner keinen Zweifel daran gelassen, wer dieses Verfahren leitet – es war auch gar nicht anders möglich. Im Irak hat man das ein bisschen geschickter gemacht.
Steppenhund hat einen interessanten Vorschlag gemacht, hierfür Kriegsrecht in Anwendung zu bringen. Damit wäre die »zivile« Todesstrafe weiter geächtet, für solche Ausnahmefälle jedoch eine Legitimation vorhanden. Der Nachteil darin besteht, dass das im Irak noch viel mehr als »Besatzungsurteil« empfunden worden wäre; vermutlich deshalb hat man ein ziviles Gericht bevorzugt.
Interessant, wenn man sich auf die Universalität der Menschenrechte beruft. Da gerät auch einiges durcheinander. Welche »Menschenrechte« sind gemeint? Welche Vereinbarungen? In der UN-Charta sind solche Verfahren gar nicht geregelt – sie regeln die Abwicklung der UN-Institutionen untereinander. Die UN-Menschenrechtskonvention (die über Todesstrafe übrigens nichts explizit aussagt) ist völkerrechtlich schon nicht verbindlich, d.h. ein Land kann der UNO angehören, muss aber nicht die Menschenrechtskonvention übernehmen. Ein, wie ich finde, schwerer Fehler. Das finden – aus anderen Gründen – die US-amerikanischen Neokonservativen auch.
So könnte man übrigens sehr wohl mit der Universalität von Menschenrechten den US-Aggressionskrieg gegen den Irak 2003 rechtfertigen (die Neokonservativen haben das ja gemacht). Schliesslich ging es (angeblich) auch darum, Demokratie in den Irak zu befördern. Über den Status des Regimes von Saddam Hussein als diktatorischen Willkürstaat dürfte es doch keinen grundlegenden Zweifel geben, oder?
Gelegentlich ist zu lesen, mit der Hinrichtung Saddams hätte man sich eines wichtigen Zeugen beraubt, der viele Hintergründe über Verstrickungen der USA und Europa beispielsweise in den Iran/Irak-Krieg ab 1980 beleuchten könnte. Die Erfahrung der Vergangenheit hat gezeigt, dass einer Zeugenschaft derart in die Verhältnisse involvierter Täter nicht allzu viel Wert beigemessen werden kann (was natürlich kein Grund ist, ihn deshalb hinzurichten!). Man denke an Leute wie Speer oder andere Nazigrössen, die entweder ihre Rolle verklärt, schlichtweg gelogen oder geschwiegen haben.
Der Vorschlag, auch gleich die letzten US-Präsidenten mit hinzurichten, ist nur scheinbar originell: Erstens greift mein im Text genanntes Wort von der »Siegerjustiz« natürlich voll. – Wenn zwei das Gleiche tun, ist es leider nun einmal nicht immer dasselbe. Zum Zweiten ist den Vorschlagenden ein bisschen die Relation verloren gegangen – S. H. kann man (vorsichtig geschätzt) problemlos Hundertausende Tote nachweisen (viele davon vor seiner Präsidentschaft 1979 als Chef diverser Geheimdienste). Und zum dritten: Na, wir wollen doch nicht die Todesstrafe einführen, oder?
@rauch
Welchen Mut meinen Sie denn, den Sie bei mir beklagen? Ihren Konformismus aus der warmen Stube heraus Gestalten wie Saddam Hussein zu verteidigen? Wenn Sie ernsthaft glauben, dass Bush (der zweifellos ein Kriegsverbrecher ist) der üblere Schurke als Saddam Hussein ist, so zeigt dies ihre politische Inkompetenz aufs Grandioseste!
Oder meinen Sie diese Art von Mut, als beispielsweise als Mitte der 70er Jahre die Linke in Deutschland die »Isolationsfolter« gegen RAF-Terroristen in deutschen Gefängnissen diskutierte (und beklagte), während gleichzeitig in Kambodscha unter Pol Pot rd. 2 Millionen Menschen ermordet wurden (fast 30% der kambodschanischen Bevölkerung)?
Noch einmal, zum Mitschreiben:
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gesteht jedem Menschen das Recht auf Leben zu und besagt: «Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.» Die Todesstrafe verletzt diese grundlegenden Menschenrechte.
Entgegen Ihrer Behauptung, Sie seien an Argumenten, nicht aber an Meinungen interessiert, vertreten Sie, offensichtlich aus der Not der fehlenden Argumente heraus, genau das: eine persönliche Meinung, dazu noch mit moralischem Impetus. Ihre Konstruktionen – wie zum Beispiel der Vorwurf, ich würde via »Konformismus aus der warmen Stube heraus« Saddam Hussein verteidigen, ist, um Derrida zu bemühen, »rohe Sprache« im übelsten Sinn, oder, um auf den Ihnen vielleicht auch bekannten Pierre Bourdieu zurückzugreifen, die Verwechslung von »Diskursgewalt« mit »gewaltätigem, weil machtlosem Diskurs.
Zum eigenen Denken und dem Mut dazu noch eines: »Man muß dort denken, wo es scheinbar nicht mehr geht. Wo es weh tut. Alles andere ist – im Sinne von Montaigne – bloßes Kommentieren.
@rauch
Vorschlag: Bei einem derart schwierigen Thema sollten alle jede Art von virtuellem Schwanzvergleich vermeiden, der sich u.a. im Zitieren von irgendwelchen Autoritäten äußert.
Die Allgemeine Menschenrechtsdeklaration ist eine internationale Vereinbarung, der auch sehr viele Staaten zugestimmt haben, in denen einiges im Argen liegt, wo von Staats wegen gefoltert und gemordet wird. Zusätzlich gibt es auch andere internationale Gesetze, wie zum Beispiel die Genfer Konvention. In ihr werden Regeln für das »humane« Töten von Menschen festgelegt, Gas ist schlecht, Gewehr ist gut. Aber nur bei bestimmten Sorten von Gewehrmunition. Splitterbomben sind schlecht, normale Bomben erlaubt, usw.
Menschliches Leben ist ein sehr hoher Wert, aber er ist nicht unendlich hoch, wie sich leicht zeigen lässt. (Auf Wunsch liefere ich dafür gern einen ausführlichen Beitrag in meinem Blog.) Aber soviel vorab: In manchen Fällen hat man die moralische Pflicht, zu foltern oder zu töten – und man erfüllt damit trotzdem den Sinn der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“.
Beispiel: Nachdem Gäfgen von der Polizei festgenommen worden war, wurde ihm vom Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner Folter angedroht. Daschner zeigte sich später selbst an. Vollkommen zu Recht wurde später das Folterverbot in den einschlägigen Gesetzen beibehalten. Trotzdem finden viele Menschen Daschners Verhalten moralisch richtig. Wie löst man diesen Widerspruch?
Der Schlüssel liegt in dem Wort Zivilcourage. Manchmal kann es auch in einer demokratischen Gesellschaft, nicht nur in einer Diktatur, notwendig sein, dass sich der Einzelne bewusst gegen die Gesetze entscheidet. Nach geltender Rechtsauffassung macht er sich damit immer strafbar, auch wenn später die Gesetze wegen dieses Präzedenzfalles geändert werden, weil die Gesetze zur Tatzeit Anwendung finden müssen. Es kann also durchaus der Fall sein, dass es im Interesse der Gesellschaft ist, dass die in ihr geltenden Gesetze gebrochen werden.
Ähnlich ist es mit der Menschenrechtsdeklaration. Diese muss nicht dem Buchstaben nach, sondern nach ihrem Sinn befolgt werden, und sie ist nur eine Handlungsrichtlinie neben vielen anderen, und sie ist kein Naturgesetz, kann nicht von den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen getrennt betrachtet werden. Wer sie als Dogma vor sich her trägt, ist eine besondere Form von Fundamentalist und auf seine Art gefährlich, weil nicht nach Argumenten suchend sondern gläubig.
@Köppnick
Ich danke für Deinen Kommentar, der sehr elaboriert exakt meine Position beschreibt.
Widersprüchlichkeiten
Vorschlag: Bei einem derart schwierigen Thema sollten alle jede Art von virtuellem Schwanzvergleich vermeiden, der sich u.a. im Zitieren von irgendwelchen Autoritäten äußert.
D’accord
In manchen Fällen hat man die moralische Pflicht, zu foltern oder zu töten – und man erfüllt damit trotzdem den Sinn der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“.
Selbst wenn ich das mal für gegeben annehme: Es fehlt noch die Erläuterung, warum just solche Umstände beim Todesurteil für Saddam gegeben sind. Diese Erläuterung, die aus dem Zitat überhaupt erst ein Argument macht, würde mich jetzt SEHR interessieren.
Trotzdem finden viele Menschen Daschners Verhalten moralisch richtig. Wie löst man diesen Widerspruch?
Das ist überhaupt kein Widerspruch. »Viele Menschen« fanden es moralisch richtig, Angehörige ethnischer, rassischer oder religiöser Minderheiten zu diskriminieren oder gar zu töten. Das ist kein Gegenargument gegen eine bestimmte moralische Position, sondern nur ein Beleg dafür, dass es unterschiedliche Moralen mit unterschiedlichen Werteskalen gibt.
Aber das haben wir schon gewusst.
Manchmal kann es auch in einer demokratischen Gesellschaft, nicht nur in einer Diktatur, notwendig sein, dass sich der Einzelne bewusst gegen die Gesetze entscheidet. Nach geltender Rechtsauffassung macht er sich damit immer strafbar, auch wenn später die Gesetze wegen dieses Präzedenzfalles geändert werden, weil die Gesetze zur Tatzeit Anwendung finden müssen. Es kann also durchaus der Fall sein, dass es im Interesse der Gesellschaft ist, dass die in ihr geltenden Gesetze gebrochen werden.
Ooops?
Plötzlich reden wir von kodifiziertem Recht, nicht mehr von Moral? Ersetze »Recht« durch »jeweilige Moral« und der obige Passus wird unhaltbar.
Ähnlich ist es mit der Menschenrechtsdeklaration. Diese muss nicht dem Buchstaben nach, sondern nach ihrem Sinn befolgt werden, und sie ist nur eine Handlungsrichtlinie neben vielen anderen, und sie ist kein Naturgesetz, kann nicht von den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen getrennt betrachtet werden. Wer sie als Dogma vor sich her trägt, ist eine besondere Form von Fundamentalist und auf seine Art gefährlich, weil nicht nach Argumenten suchend sondern gläubig.
Interessante Argumentation. Gilt sie für JEDE nur denkbare Form überindividueller Norm oder nur für die Menschenrechtsdeklaration? Im letzteren Falle wüsste ich gerne, wie man die Deklaration verändern müsste, um sie allgemein anwendbar zu machen. Im ersten Falle, den ich für wahrscheinlich halte, wüsste ich gerne, ob die obige Aussage
– ein GLAUBENSSATZ ist (was ihr einiges an Legitimität nimmt)
– logisch aufweisbar sein soll (was ich für ausgeschlossen halte) oder
– ein Erfahrungsurteil ist.
Im letzten Falle hätten wir den (logisch unmöglichen) Fall, dass aus individuellen Erscheinungen ein allgemeines Gesetz gefolgert werden könnte.
Sieht nach einem hässlichen Dilemma aus, gell?
@DHK
Es fehlt noch die Erläuterung, warum just solche Umstände beim Todesurteil für Saddam gegeben sind.
Das habe ich nicht behauptet. Nein, beim vollstreckten Todesurteil gegen Saddam war das nicht gegeben, in diesem Fall sind sich hier alle weitgehend einig. (Für die »normalen« Todesurteile in den USA, China, Japan, etc. gilt das sowieso, sie sind in keinem Fall akzeptabel.) Wie soeben a.a.O. in einem Kommentar an dich ausgeführt, ist in diesem Fall nicht sicher, ob durch das Urteil erheblicher Schaden von anderen Menschen abgewendet werden kann, oder ob nicht im Gegenteil der Schaden so noch größer geworden ist.
Das ist überhaupt kein Widerspruch.
Bis jetzt bin ich davon ausgegangen, dass (in unserer Gesellschaft) die überwiegende Anzahl der Gesetze mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung einigermaßen konform geht. (Ausnahmen von dieser Regel sind Prozesse gegen Kinderschänder und Ackermann & Co.)
Plötzlich reden wir von kodifiziertem Recht, nicht mehr von Moral?
Eigentlich enthält der davor stehende Absatz zwei verschiedene Fälle:
In beiden Punkten kann es für die Gesellschaft, genauer gesagt für die Menschen, aus moralischen Überlegungen heraus notwendig sein, in Einzelfällen die bestehenden Gesetze zu brechen.
In deinem Trilemma würde ich mich für den dritten Punkt, »Erfahrungsurteil« entscheiden. Dass aus Einzelerscheinungen kein allgemeines Gesetz geschlussfolgert werden kann, ist zwar logisch unmöglich, wird aber in allen empirischen Wissenschaften so gemacht: Experiment -> Theorie -> Verwendung bis zur Falsifikation. In dem hier zur Diskussion stehenden Fall ist es in jedem Fall so, anders würden sich die verschiedenen Gesetze, die miteinander im Widerspruch stehen, gar nicht anwenden lassen. Wie verträgt sich denn sonst die Menschenrechtsdeklaration, die jedem Menschen das unbedingte Recht auf Leben zugesteht, mit der Genfer Konvention, die Regeln fürs Töten definiert?
Immer größer werden die Probleme...
@Köppnick
Bis jetzt bin ich davon ausgegangen, dass (in unserer Gesellschaft) die überwiegende Anzahl der Gesetze mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung einigermaßen konform geht. (Ausnahmen von dieser Regel sind Prozesse gegen Kinderschänder und Ackermann & Co.)
Nu, da machst Du Dich wieder einer weiteren heftigen Begriffsverwirrung schuldig. Mittlerweile haben wir VIER Dinge auseinanderzuhalten: kodifiziertes Recht (im Sinne von Gesetzgebung), Rechtsprechung (Dein Verweis auf Prozesse), Gerechtigkeit und Moral. Diese Dinge hängen zwar zusammen, aber ganz sicher nicht im Sinne einer Identität oder auch nur Teilmengenbeziehung. Um weiteren Verwirrungen vorzubeugen: Vielleicht doch noch einmal über Deine original Aussage nachdenken? Was genau wolltest Du eigentlich sagen?
In deinem Trilemma würde ich mich für den dritten Punkt, »Erfahrungsurteil« entscheiden. Dass aus Einzelerscheinungen kein allgemeines Gesetz geschlussfolgert werden kann, ist zwar logisch unmöglich, wird aber in allen empirischen Wissenschaften so gemacht: Experiment -> Theorie -> Verwendung bis zur Falsifikation. In dem hier zur Diskussion stehenden Fall ist es in jedem Fall so, anders würden sich die verschiedenen Gesetze, die miteinander im Widerspruch stehen, gar nicht anwenden lassen. Wie verträgt sich denn sonst die Menschenrechtsdeklaration, die jedem Menschen das unbedingte Recht auf Leben zugesteht, mit der Genfer Konvention, die Regeln fürs Töten definiert?
Nönö, so billig kommst Du mir nicht davon. Deine Aussage war Wer sie [die Menschenrechtscharta, DHK] als Dogma vor sich her trägt, ist eine besondere Form von Fundamentalist und auf seine Art gefährlich, weil nicht nach Argumenten suchend sondern gläubig.
Nirgendwo war die Rede davon, dass derjenige auch die Genfer Menschenrechtskonvention ebenso dogmatisch anerkennt, richtig?
Wenn Du also für Dich in Anspruch nimmst (wie ein guter empirischer Wissenschaftler) induktiv vorzugehen, dann musst Du eine hinreichend große Anzahl von Fällen vorlegen, wo Leute, die den Buchstaben der Menschenrechtscharta gefolgt sind, als »gläubig« respektive »dogmatisch verbohrt« aufweisbar waren. Wird schwer werden. Interessant ist ja, dass Du zwar reklamierst, empirisch vorzugehen, aber dann einen rein logischen Widerspruch (allerdings mit einer erst von Dir eingeführten Prämisse) anführst. Nönö, so wird das nichts.
sinnlos
auf das niveau »wer hat den längeren« lass ich mich nicht mehr ein (das wort »herunter« vermeide ich...). maturanten unter sich. soll so bleiben. jedem seine welt. die kleine.
#24 rauch – Sie geben aber schnell auf
nachdem Sie erfolglos Namedropping betrieben haben... Sie ziehen sich aus der Diskussion zurück, weil Ihre Argumente keine sind, sondern nur Postulierungen?
Welche »kleine Welt« meinen Sie?
[EDIT: 2007-01-05 08:31]
@Steppenhund
Mit »Maturanten unter sich« hat er formallogisch sogar recht, da ich davon ausgehe, dass alle hier Diskutierenden mindestens das Abitur haben. Da »Maturant« der östereichische adäquate Ausdruck für »Abiturient« ist, muss man das nicht beleidigend auffassen. Von mindestens zwei der Kommentatoren weiß ich, dass sie promoviert haben.
Ich habe auch schon grün gewählt, aber letztlich haben sich die Grünen in Deutschland, an der Macht seiend, als genauso »pragmatisch« erwiesen wie die anderen Parteien auch. Ich erinnere an den Kriegseinsatz im Kosovo, der – kann man in der Wikipedia nachlesen – von der UNO nicht sanktioniert, aber trotzdem von der NATO durchgeführt wurde. Das wäre nicht gegangen, wenn nicht die rot-grüne Bundesregierung dem zugestimmt hätte.
Dazu passt ein Zitat von Heinrich Heine: „Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, ich kenn auch die Herren Verfasser, sie trinken heimlich Wein und predigen öffentlich Wasser.“
[EDIT: 2007-01-07 10:22]
Also das »maturanten unter sich« ist ziemlich untergriffig. Da geniere ich mich ja als Österreicher für jedes Mal, an dem ich grün gewählt. Doch! Das kam auch schon ein paarmal vor.
Aber diese Art der Diskussionshandhabung macht die Grünen seit einiger Zeit unwählbar, obwohl ich mich mit einigen Inhalten sehr gut identifizieren könnte.
[EDIT: 2007-01-07 02:55]
Nachtrag
@Köppnick
Mir ist aufgefallen, dass man Dich auch anders verstehen kann: Die allgemeine Aussage (verkürzt: »überindividuelle Richtlinien bedürfen immer der relativierenden Interpretation«) siehst Du als belegt durch individuelle Fälle (wie Menschenrechtsdeklaration, Genfer Konvention etc.). Das wäre im Prinzip methodisch sauber (wenn denn ein induktiver Schluß so genannt werden darf), aber dann darfst Du dennoch keine zusätzlichen Prämissen einführen. Du mußt als Belege Situationen anführen, wo eine Regel (oder Regelsammlung) nicht widerspruchsfrei befolgt werden kann. Und Du musst darlegen, dass diese Situationen in einem gewissen Sinne »typisch« für Regeln (oder Regelsammlungen) sind.
Auch nicht einfach.
Menschenrechtserklärung – @DHK
Ich verstehe Köppnicks Dogma-Vorwurf hinsichtlich einiger Interpreten der Menschenrechtserklärung im Sinne dessen, wie es bei den amerikanischen Neokonservativen geschah bzw. geschieht. Fukuyama arbeitet als eine der vier Grundprinzipien des Neokonservatismus heraus: Die Überzeugung, dass die amerikanische Macht zu moralischen Zwecken eingesetzt wurde und werden sollte und dass die Vereinigten Staaten sich auch weiterhin in internationalen Angelegenheiten engagieren müssen.
Einer der Gründe für den Irakkrieg 2003 war, im Irak Demokratie und Menschenrechte zu implementieren. Wer also die Menschenrechtserklärung universalistisch setzt, kann dem ernsthaft nicht widersprechen, sondern höchstens zwei Fragen stellen: 1. Warum ausgerechnet der Irak? Es gibt noch rd. 100 andere Diktaturen. Und 2.: Warum jetzt? (Vielleicht noch 3.: Welcher Staat ist der nächste?)
Eine völkerrechtliche Legitimation für diesen Krieg gab es trotzdem nicht. Die gab es übrigens auch nicht 1998 in Jugoslawien und nur sehr eingeschränkt 2001 in Afghanistan. Auch diese Kriege wurden weitgehend mit Menschenrechtsaspekten begründet. Warum dies nicht vorher schon an anderen Orten sanktioniert wurde (beispielsweise Ruanda), bleibt ein Geheimnis (so ganz geheimnisvoll ist’s dann nicht; Gunnar Heinsohn hat das versucht, zu erklären und dabei die Doppelzüngigkeit des Westens entlarvt).
Fukuyamas Beschreibung leicht abgewandelt trifft auch auf viele europäische politische Eliten zu – von links bis rechts (aus freilich unterschiedlichen Gründen und Blickwinkeln heraus): Auch hier gibt es immer stärker die Überzeugung, dass Europa sich verstärkt auch weiterhin in internationalen Angelegenheiten zu moralischen Zwecken engagieren muss. (Belege hierfür im europäischen Verfassungsentwurf.) Man unterhalte sich beispielsweise einmal mit Chinesen. Dann wird man feststellen, dass die grossartig formulierten Rechte dort gesellschaftlich teilweise ganz anders beurteilt werden (und das hat höchstens am Rande etwas mit dem kommunistischen Regime dort zu tun).
Dass die Menschenrechtserklärung für aussen- und auch innenpolitische Zwecke missbraucht werden kann (und missbraucht wird), schmälert natürlich nicht ihre Notwendigkeit. Ich gebe jedoch zu bedenken, dass es sich um eine allgemeine Erklärung handelt. Sie hat nicht in den Anspruch, ein Gesetzeskanon zu sein; Sanktionen wider ihre Artikel sind gar nicht beschrieben. Legt man beispielsweise Artikel 3 wörtlich aus (»Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.«), so dürfte es keinerlei Strafjustiz mit dem Ergebnis von Freiheitsstrafen geben. Umso »überraschter« ist man dann, wenn man Artikel 5 liest, dass es das doch offensichtlich gibt (und geben kann). Dort ist dann festgehalten: »Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.«
Noch eine Randnotiz, die schon zu endlosen Diskussionen geführt hat: Artikel 11 Absatz 2 sagt: »Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war...« Somit wären wir direkt bei Köppnicks Genfer Kriegskonvention, in der kriegerisches Handeln als Möglichkeit durchaus beschrieben ist (während die Interpretation der Menschenrechtserklärung dies nicht zulässt).
Ich sage damit nicht, dass die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« unsinnig ist oder zweifle gar an ihrer Notwendigkeit. Sie ist allerdings untauglich, ethische oder moralische Konflikte wie die Todesstrafe (um die es in diesem Thread nicht geht) zu bewerten.
Man betrachte Art. 1 GG :»Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Dieser Satz ist an sich vollkommen unklar (das muss ich DIR sicherlich nicht sagen), solange nicht definiert ist, was Würde ist. Inzwischen wird sogar argumentiert, »Hartz IV«, also die Zahlung von 345 Euro im Monat (zzgl. Wohnkosten), sei ein Verstoss gegen Art. 1 GG, da es nicht möglich sein, von einem solch geringen Betrag »menschenwürdig« leben zu müssen, usw.
Komplexe Systeme wie das unsere definieren Würde anders als Gesellschaften, die noch in Stämmen leben oder in Elendsvierteln. Wir müssen ihnen Gründe nennen, warum unser »System« besser ist, warum unsere Betrachtungsweise auf Dauer grösseren Erfolg hat und warum ihre über Jahrhunderte gewachsenen Strukturen »falsch« sind.
Jep @Keuschnig
Das stimmt ja alles. Aber Ausgangspunkt der (Sub-) Diskussion war ja
Ähnlich ist es mit der Menschenrechtsdeklaration. Diese muss nicht dem Buchstaben nach, sondern nach ihrem Sinn befolgt werden, und sie ist nur eine Handlungsrichtlinie neben vielen anderen, und sie ist kein Naturgesetz, kann nicht von den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen getrennt betrachtet werden. Wer sie als Dogma vor sich her trägt, ist eine besondere Form von Fundamentalist und auf seine Art gefährlich, weil nicht nach Argumenten suchend sondern gläubig.
Keines Deiner Argumente, die ich wie gesagt nachvollziehen kann, macht diese Aussage plausibler oder widerlegt meine – zugegebenermaßen sehr formale – Kritik daran.
Um mal etwas produktiver zu werden: Die Menschenrechtsdeklaration ist »für sich« nicht ausreichend. Versucht man sie mit kodifiziertem Recht anderer überindividueller Institutionen zusammen zu gebrauchen, wird man in der Regel auf Widersprüche stoßen. Und dann wird ein bloßes Festhalten an Ersterer in der Regel zu einem unfruchtbaren, verbortem Dogmatismus.
Eine derartige Aussage würde ich sofort mittragen.
@DHK
Ich freue mich, dass du inzwischen eine gnädigere Interpretation meiner Aussagen ins Auge gefasst hast. Dein letzter Kommentar mit deiner eigenen Formulierung findet meine Zustimmung, so in etwa hatte ich es gemeint. Trotzdem nochmals ein Erklärungsversuch meinerseits, ausgehend von den folgenden drei Sätzen:
Menschenrechte: Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben.
Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Köppnick: Manchmal hat man die moralische Pflicht zu töten.
Was für induktive wissenschaftliche Schlüsse gilt, dass nämlich durch einzelne Experimente nur bedingt Schlüsse auf allgültige Theorien möglich sind, gilt auch für einzelne geschriebene oder gesprochene Sätze, sie können nicht das gesamte Bedeutungsspektrum wiedergeben, müssen interpretiert werden. (Und können einem auch „im Munde herumgedreht“ werden.)
Der erste der Sätze wird durch zwei Aspekte problematisch:
Menschliches Leben ist endlich, und seine Definition ist weder zu seinem Beginn (Abtreibung) noch zu seinem Ende (Koma) unumstritten. Ignoriert man das, verwickelt man sich in Widersprüche. Zweitens kommt man durch das Wort „jeder“ in bestimmten Situationen in Schwierigkeiten. Beispiel: Ein Scharfschütze der Polizei hat einen Geiselnehmer im Visier, der seinerseits eine Geisel bedroht. Wenn der Geiselnehmer erschossen wird, dann wurde „Recht auf Leben“ dem Buchstaben nach verletzt, dem Geiste nach aber eingehalten.
An diesen Aspekten macht sich auch der Dogmatismusvorwurf fest. Ein Dogmatiker ist, wer sich an den Buchstaben eines Gesetzes festhält, ohne in der konkreten Situation die Anwendbarkeit zu prüfen. Auch hier gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten: Das Gesetz kann an dieser Stelle gar nicht angewendet werden, das Gesetz ist falsch, das Gesetz muss anders interpretiert werden. Das induktive Problem, wie bereits erwähnt, besteht immer.
Der „Würde“-Artikel des Grundgesetzes ist, wie Gregor anmerkte, ebenfalls problematisch, weil man unter dem Begriff der Würde vollkommen Unterschiedliches verstehen kann. Aber jedenfalls ist wohl common sense, dass die Würde eines Menschen bereits vor seiner Geburt beginnt und mit seinem Tod nicht endet. Beim Recht auf Leben ist das anders. Das verliert mit dem Tod seinen Sinn. Zwei Beispiele: Das Posieren mit Totenschädeln ist sicherlich unwürdig. Aber Sterbehilfe, um unnötiges Leiden zu verhindern, verstößt meiner Meinung nach nicht gegen das Grundgesetz.
Moralische Pflicht zu töten: Beispiele wie das obige mit dem Geiselnehmer hatte ich im Kopf, als ich von dieser Pflicht sprach. Nicht deine utilitaristischen Konstrukte mit dem Mörder und einer möglichen Organentnahme im Krankenhaus. Dieses Beispiel ignoriert nämlich, dass ich mich zuvor bereits gegen die Todesstrafe ausgesprochen hatte. Der Unterschied zwischen der Todesstrafe und meinem Beispiel ist auch recht leicht zu finden: Die Todesstrafe kann eine Tat in der Vergangenheit nicht rückgängig machen, der gezielte Schuss verhindert (moralisch) größeren Schaden in Gegenwart und Zukunft.
Letztendlich bleibt jedem Einzelnen nur die Wahl, „nach bestem Wissen und Gewissen“ zu handeln. Wissen steht in diesem Ausdruck für die Kenntnis von Gesetzen, Gewissen für das eigene Moralverständnis. „Nach bestem Wissen“ bedeutet außerdem, dass es Fälle gibt, in denen man unwissentlich, andere, in denen man wissentlich gegen Gesetze verstößt. Letzteres kann, außer in kriminellen Fällen, auch dadurch begründet sein, dass man sein Gewissen in manchen Stellen stärker gewichtet als sein Wissen. Außerdem steckt in dem Ausdruck, dass jegliche menschliche Entscheidung in begrenzter Zeit und mit niemals vollständigen Kenntnissen zu treffen ist. Man kann sich in existenziellen Fragen zwar um logische Widerspruchsfreiheit bemühen, wird sie aber nicht erreichen können.
Wenn du das anders siehst, musst du erklären, wie du das erreichen willst.
@DHK
Noch einmal:
Köppnick: Ähnlich ist es mit der Menschenrechtsdeklaration. Diese muss nicht dem Buchstaben nach, sondern nach ihrem Sinn befolgt werden, und sie ist nur eine Handlungsrichtlinie neben vielen anderen, und sie ist kein Naturgesetz, kann nicht von den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen getrennt betrachtet werden. Wer sie als Dogma vor sich her trägt, ist eine besondere Form von Fundamentalist und auf seine Art gefährlich, weil nicht nach Argumenten suchend sondern gläubig.
DHK: Interessante Argumentation. Gilt sie für JEDE nur denkbare Form überindividueller Norm oder nur für die Menschenrechtsdeklaration? Im letzteren Falle wüsste ich gerne, wie man die Deklaration verändern müsste, um sie allgemein anwendbar zu machen. Im ersten Falle, den ich für wahrscheinlich halte, wüsste ich gerne, ob die obige Aussage
– ein GLAUBENSSATZ ist (was ihr einiges an Legitimität nimmt)
– logisch aufweisbar sein soll (was ich für ausgeschlossen halte) oder
– ein Erfahrungsurteil ist
Ich dachte, ich hätte relativ eindeutig ein Beispiel für dogmatischen Gebrauch »überindividueller Norm« genannt: Die amerikanischen Neokonservativen, die Werte wie »Demokratie«, »Freiheit« und »Menschenrechte« auch mit Gewalt in andere Entitäten übertragen wollen, und zwar in ihrem Sinne. Bushs »Achse des Bösen« ist nichts anderes, als eine Definition von »vogelfreien« Staaten. Jeder Menschenrechtsaktivist kann dem natürlich zustimmen und noch rd. 60 andere Länder hinzufügen. Gewonnen ist damit jedoch rein gar nichts.
In abgeschwächter Form finden sich diese dogmatischen Missbildungen auch in der deutschen Gesellschaft; wie man beispielsweise hier nachlesen kann. Der Vergleich des Kopftuches mit dem Judenstern unter dem Nationalsozialismus ist sicherlich ein besonders schönes Beispiel für diese Art von Dogmatismus.
Grundsätzlich ist jede von Menschen geschaffene Norm solange gültig, bis sie durch eine andere abgelöst wird. In demokratischen Gesellschaften geschieht dies (theoretisch) durch Mehrheitsentscheidungen, die am Ende von Prozessen stehen. (Die hieraus eventuell resultierenden Probleme mit dieser Form habe ich versucht, an anderem Ort zu diskutieren; leider erfolglos.)
Den Versuch, die Menschenrechtserklärung griffiger zu machen, gab es durchaus. 1997 hat eine Organisation, die sich aus ehemaligen Staatsmännern zusammengesetzt, eine Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten vorgelegt. Indem jeder zu diesen Artikeln verpflichtet ist, könnten Sanktionsmassnahmen schneller definiert und umgesetzt werden. Das diese Erklärung ebenfalls allgemein ist, fehlen diese Mechanismen natürlich.
Köppnicks Satz würde ich am ehesten als ein Erfahrungsurteil bezeichnen. Es gibt eine Fülle von anderen Beispielen, in denen verabsolutierte Normen, die an sich eine hohe Ethik und Moral begründen, pervertiert wurden.
Damit kommen wir Deiner Definition sehr nahe: Die Menschenrechtsdeklaration ist »für sich« nicht ausreichend. Versucht man sie mit kodifiziertem Recht anderer überindividueller Institutionen zusammen zu gebrauchen, wird man in der Regel auf Widersprüche stoßen. Und dann wird ein bloßes Festhalten an Ersterer in der Regel zu einem unfruchtbaren, verbohrtem Dogmatismus. Was natürlich nicht die Frage beantwortet, wie ein Kodex aussehen müsste, der Figuren wie S. H. erst gar nicht erst reüssieren lässt...
All- und Existenzquantoren
DU, Gregor, bist doch nun der letzte, dem ich den Unterschied erklären muss, oder?
Für alle anderen:
DHK:Gilt sie für JEDE nur denkbare Form überindividueller Norm oder nur für die Menschenrechtsdeklaration?
Gregor Keuschnig: Ich dachte, ich hätte relativ eindeutig ein Beispiel für dogmatischen Gebrauch »überindividueller Norm« genannt
Propädeutikum Logik: Mit Beispielen kann man nie allgemeine Gesetze begründen.
Übrigens finde ich es eine extrem wichtige Frage, und nicht nur formale Spielerei, ob jemand glaubt, dass es PRINZIPIELL undenkbar ist, allgemeine Verhaltensmaßregeln (-kataloge) aufzustellen. Dass diese unvollständig sein werden, liegt auf der Hand, aber sind sie denkbar?
Gregor?
Köppnick?
Konsistenz?
@Köppnick
Du schreibst »Dieses Beispiel ignoriert nämlich, dass ich mich zuvor bereits gegen die Todesstrafe ausgesprochen hatte«.
Das mag ja sein, aber es ändert nichts daran, dass Du eine moralische Pflicht zu töten postuliert hast. Deine Voraussetzungen
-Der Betreffende hat sich bereits schuldig gemacht (in derselben oder einer größeren Weise, als es ihm jetzt selbst droht).
– Ihm war das Verbotene bewusst und er hatte eine Wahl.
Durch meine Handlung verhindere oder minimiere ich weiteren Schaden bei anderen.
Nimmt man diese Bedingungen an, und sie gelten in meinem Beispiel, dann führt Deine Argumentation zu einem Tötungsgebot für einen Mörder, wenn seine Organe multipel verwendet werden können. Zugegeben, Du würdest das nicht »Todesstrafe« nennen, aber der Sachverhalt selbst, der sollte Dir Bauchschmerzen bereiten und Dich nach weiteren impliziten Annahmen suchen lassen.
Beispiele und so (@ DHK)
Ausgangspunkt meines Beispiels war diese, Deine Aussage an Köppnick:
Wenn Du also für Dich in Anspruch nimmst (wie ein guter empirischer Wissenschaftler) induktiv vorzugehen, dann musst Du eine hinreichend große Anzahl von Fällen vorlegen, wo Leute, die den Buchstaben der Menschenrechtscharta gefolgt sind, als »gläubig« respektive »dogmatisch verbohrt« aufweisbar waren.
Dabei gleich die Motivationshilfe: Wird schwer werden.
Natürlich ist es nicht korrekt, anhand von Beispielen allgemeine Gesetze zu begründen. Das habe ich auch gar nicht gemacht; eher im Gegenteil. Ich habe lediglich versucht, Köppnicks These zu belegen, dass auch so etwas wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte dogmatisch missbraucht werden können.
Das ist natürlich nicht besonders originell, da fast alles ein »dual-use«-Produkt sein kann. Man schafft keine Küchenmesser ab, weil im Jahr 1000 Menschen weltweit mit Küchenmessern ermordet werden.
Ich habe mit keinem Wort davon gesprochen, dass man deshalb allgemeine Verhaltenskataloge nicht versuchen soll, zu implementieren. Es macht nur wenig Sinn, sie als Monstranz vor sich hinzutragen und die Nichteinhaltung folgenlos zu lassen. Hierin liegt der entscheidende Punkt: Die Menschenrechtserklärung ist von weit über einhundert Staaten unterschrieben worden – die Anzahl der Staaten, die bewusst (d. h. von staatlicher Seite) gegen sie verstossen, ist enorm. Für die gängigen Gremien der VN spielt das keine Rolle – und zwar bis in den Sicherheitsrat hinein. Hierin liegt ein Fehler. Verstösse gegen Verträge müssen sanktioniert werden können. Geht das nicht (aus den unterschiedlichsten Gründen), ist diese Erklärung leblos – was natürlich nicht bedeutet, dass man sie nicht befolgen braucht.
Theoretisch ist es natürlich denkbar, allgemeine Verhaltenskataloge aufzustellen, die auch den unterschiedlichen Mentalitäten in der Welt Rechnung tragen. Die Mindestvoraussetzung wäre jedoch, dass die VN auch umfassende legislative Kompetenzen bekommen – praktisch also: die Abschaffung des Nationalstaates.
Um auf S. H. zu kommen: Eine funktionierende Weltregierung (der ich nicht das Wort rede) hätte nach den ersten Verbrechen von ihm die Pflicht gehabt, ihn abzusetzen und gegen ihn zu prozessieren. Dann wäre es zu etlichen Verbrechen erst gar nicht gekommen.
Biologistisch
@DHK
Übrigens finde ich es eine extrem wichtige Frage, und nicht nur formale
Spielerei, ob jemand glaubt, dass es PRINZIPIELL undenkbar ist,
allgemeine Verhaltensmaßregeln (-kataloge) aufzustellen. Dass diese
unvollständig sein werden, liegt auf der Hand, aber sind sie denkbar?
Warum nicht mal aus der biologistischen Ecke betrachten:
1. Menschen handeln in Gruppen bis ca. 150 Personen mit angeborenen Verhaltensweisen.
2. Angeborene Verhaltensweisen sind bei Menschen durch den mehrschichtigen Aufbau des Gehirns häufig ein »innerer Kompromiss«
Ist damit nicht schon eine prinzipielle Handlungsforderung Makulatur? Mögliche Beispiele:
1. In der Wohnung unter mir findet ein Tötungsdelikt statt, bei dem ich alle Beteiligten seit vielen Jahren kenne. Eine gleichartige Tat findet in einem Vorort von Manila statt. Man kann leicht Bedingungen konstruieren, bei denen ich zu unterschiedlichen Bewertungen komme.
2. Nach einem Flugzeugabsturz in den Anden finde ich meinen vorherigen Sitznachbarn am ersten Tag eher unschmackhaft, was sich nach einiger Zeit drastisch ändert.
Damit sollte eine Maxime immer situations- und/oder kulturabhängig sein, im Falle der Menschenrechtsdeklaration die der westliche Welt. Wie viel Heuchelei in den Bekundungen der westlichen Meinungsherolde liegt, ist manchmal unfassbar.
@DHK
Übrigens finde ich es eine extrem wichtige Frage, und nicht nur formale Spielerei, ob jemand glaubt, dass es PRINZIPIELL undenkbar ist, allgemeine Verhaltensmaßregeln (-kataloge) aufzustellen. Dass diese unvollständig sein werden, liegt auf der Hand, aber sind sie denkbar?
Ich beschränke mich auf Moral & Menschenrechte. In einem der letzten Spiegel war ein Artikel, in dem eine Art „Moralinstinkt“ aller Menschen postuliert wurde, der kulturübergreifend gilt. Ähnlich kann man die Menschenrechtsdeklaration oder den Dekalog interpretieren. Letztlich ist es ja egal, ob man diese Gebote als von Gott gegeben oder von der Evolution ins menschliche Wesen „einprogrammiert“ ansieht. „Erfunden“ im Sinne von „willkürlich ohne jede Ursache“ sind sie auf gar keinen Fall.
Wenn man sich jetzt aber die Kausalkette von der Wirklichkeit zu den „allgemeinen Verhaltensmaßregeln“ ansieht, dann erkennt man sofort die Stolperstellen: Von der Wirklichkeit zu den Gedanken jedes Einzelnen gibt es eine Komplexitätsreduktion, eine zweite bei der Formulierung der Gedanken in Worte. In umgekehrter Richtung wird die Komplexität wieder rekonstruiert, aber es fehlen die weggelassenen Einzelheiten. Bei der Transformation der Worte in Gedanken entstehen Missverständnisse, weil der eine die Worte anders versteht, als sie sein Gegenüber gedacht hat. Die zweite Übertragung, also die Anwendung der „allgemeinen Regeln“ auf die Wirklichkeit ist noch problematischer, weil die vorgenommene Reduktion noch stärker ist.
Was lernt man daraus: Regeln sind nützlich und wichtig (und immer unbewusst präsent), weil sie ein schnelles instinktives Reagieren in Standardsituationen ermöglichen. Aber praktisch jeder Fall in der Wirklichkeit hat seine Besonderheiten, für die es noch keine Regeln gibt, weil er erstmalig auftritt.
(Aus diesem Grund habe ich auch keine große Lust, noch weiter über deine „chinesische“ Transplantationsmethode zu diskutieren. Meine Meinung dazu habe ich schon geschrieben, aber ich kann formulieren wie ich will, du wirst immer noch einen problematischen Fall finden, der von meinen Worten nicht ausreichend berücksichtigt ist. Und du hast zwei Ansatzmöglichkeiten: Entweder interpretierst du meine Worte anders als von mir gemeint, oder du findest einen Fall in der Realität, der nicht von meinen Regeln abgedeckt wird.)
Prinzipien
Peter: Ist damit nicht schon eine prinzipielle Handlungsforderung Makulatur?
Nun, so ganz allgemein gilt das ja nicht. Handlungsmaximen mögen ja für sich »konditionalisiert« sein. Handlungsmaximen können ja auch als Entscheidungsregel formuliert sein, die unterschiedliche kulturelle Hintergründe berücksichtigt. Beispiele:
»Handle stets so, dass Du die Summe des (individuell gefühlten) Guten maximierst.« Das wäre eine kulturrelativistische Version des Utilitarismus. Sie würde z.B. Gewalt gegen jemanden erlauben, der es schätzt, gewalttätig behandelt zu werden. (NB.: Über die praktische Durchführbarkeit dieser Regel sage ich hier nichts)
Oder
»Solange dabei kein Mensch (objektiv oder subjektiv) zu Schaden kommt, bist Du in Deinen Handlung frei.« Wäre eine konditionalisierte Handlungsregel, die Tierquälerei in weitem Umfange erlauben würde.
Summa: Wenn man »Handlungsregeln« nicht so ganz alttestamentarisch versteht, sondern konditionalisiert, individaulisiert oder als Meta-Regeln formuliert, sehe ich nicht, warum sie ausgeschlossen sein sollen.
Regelpessimismus
@Köppnick
Was lernt man daraus: Regeln sind nützlich und wichtig [...]. Aber praktisch jeder Fall in der Wirklichkeit hat seine Besonderheiten, für die es noch keine Regeln gibt, weil er erstmalig auftritt.
Formulierungsvariante für den letzten Satz (ansonsten stimmt er sicher nicht): »Reale Fälle haben oft Nebenbedingungen, die die Regelanwendbarkeit begrenzen, ohne dass diese Nebenbedingungen vollständig antizipierbar wären«.
Nun, das ist doch eine Antwort auf meine Frage. Eine ziemlich pessimistische, wie ich meine.
(Aus diesem Grund habe ich auch keine große Lust, noch weiter über deine „chinesische“ Transplantationsmethode zu diskutieren. Meine Meinung dazu habe ich schon geschrieben, aber ich kann formulieren wie ich will, du wirst immer noch einen problematischen Fall finden, der von meinen Worten nicht ausreichend berücksichtigt ist. Und du hast zwei Ansatzmöglichkeiten: Entweder interpretierst du meine Worte anders als von mir gemeint, oder du findest einen Fall in der Realität, der nicht von meinen Regeln abgedeckt wird.)
Nun, ich denke, wenn man so etwas wichtiges wie ein Tötungsgebot postuliert, dann sollte man schon in der Lage sein, Bedingungen zu nennen, unter denen dieses Gebot gilt. (Wohlgemerkt: Ich verlange kein VOLLSTÄNDIGES Regelwerk, welches IMMER eine Entscheidung erlaubt, sondern lediglich Regeln, die in manchen Fällen eindeutig das Tötungsgebot rechtfertigen. Dies aber eben unmissverständlich). Wenn das nicht möglich ist, dann ist, so leid es mir tut, das Tötungsgebot nicht mehr als ein Glaubensartikel. zumindest hat es keine praktische Relevanz.
Kultur versus Natur
DHK Summa: Wenn man »Handlungsregeln« nicht so ganz alttestamentarisch
versteht, sondern konditionalisiert, individaulisiert oder als
Meta-Regeln formuliert, sehe ich nicht, warum sie ausgeschlossen sein
sollen.
Durch die biologistische Herangehensweise wollte ich gerade den ganzen verwirrenden kulturellen Überbau bei Seite schieben. Mit den beiden genannten Prinzipien wird Moral eine Funktion von Raum und Zeit. Eine gruselige Vorstellung für die Jurisprudenz.
Konstatiere ich als einfachstes Naturrecht das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, mag man kulturell vielerlei Gründe suchen oder finden Ausnahmen zu definieren. Biologisch übernimmt das Kleinhirn im genannten Fall z.B. das Zepter und von einer Schuld- und/oder Handlungsfähigkeit im herkömmliche Sinn ist man weit entfernt.
Wem sich das eher abgehoben darstellt, würde ich entgegenen, dass das Gerechtigkeitsempfinde schon ein Erbe unserer biologischen Geschichte ist.
Handlungsmaxime
Die in meinen Augen (ich bin allerdings kein Experte) griffigste Handlungsmaxime wurde von Kant postuliert: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«
Kant variiert diesen Imperativ immer wieder – ohne den Kern zu verlassen: Wenn jeder seine Handlungen so ausrichtet, dass sie immer und jederzeit auch Gesetz, d. h. generelle Anwendung sein können, so müsste ein »vernünftiges« soziales Leben möglich sein. Zur Diskussion um Todesstrafe oder nicht oder gar um ein evtl. »Tötungsgebot« für besonders abscheuliche Menschenrechtsverletzter würde es erst gar nicht kommen. Diktatoren gäbe es beispielsweise nicht, da sie annehmen müssten, dass ihr Handeln irgendwann »allgemeines Gesetz« wird – und sich gegen sie selber wendet und es daher vorher lieber lassen. Man könnte so übrigens – bei bösartiger und sinnentstellender Betrachtung – die Exekution von Menschheitsverbrechern à la S. H. damit sogar rechtfertigen.
Die Grundvoraussetzung für ein solches Denken liegt in zwei Punkten: Es gibt eine Art universaler Moralvorstellung, die unabhängig von kulturellen Differenzen existiert (das, was Köppnick bspw. »Moralinstrinkt« nennt). Und es gibt etwas, was man (grob gesprochen) »menschliche Vernunft« nennen könnte. Von beidem ist Kant ausgegangen – sonst wären diese Sätze nicht möglich. Implizit steckt dann noch der Wunsch dahinter, dass dieses »vernünftige« Denken (und Handeln) für das Individuum mehr Vor- als Nachteile bringt.
Das es kulturübergreifend gültige (und auch praktizierte) Moralvorstellungen gibt, ist zweifellos richtig. Ich persönlich glaube nur, dass der »weltweite« Konsens kleiner ausfällt, als viele denken. Fast alle Gesellschaften haben etwas Dekalog-ähnliches – aber wie mit denen umgehen, die sich diesem Konsens entziehen (und meistens zunächst einmal Vorteil hieraus schöpfen)?
Selbst archaische Gesellschaften fordern inzwischen Begründungen für Imperative, die ihre bisherigen Verhaltensweisen grundlegend verändern. In Köppnicks Blog wird kurz die Genitalverstümmelung angesprochen. Ein zweifellos widerliches Vorgehen, welches heute noch in Teilen Afrikas praktiziert wird. Alleine: Unsere blosse Abscheu und das Entsetzen sind keine Begründungen, die Afrikaner davon zu überzeugen, es zu lassen und die Frauen nicht zu verstümmeln. Der blosse Rekurs auf allgemeine Menschenrechte genügt so nicht.
Der Vorteil »göttlicher Gebote« läge (genauer gesagt: lag; bis zur Aufklärung) in der Unhinterfragbarkeit von Gott. Der Faktor, dass die »menschengemachte« Gesetze entsprechend fehlerhaft sind, fällt dann weg, wenn ich die Imperative göttlich ausfüttere. Auch dort stellt sich dann aber wieder die Frage des Glaubens an diesen Gott, usw.
Ähnlich verhält es sich ja mit dem Gedanken, die Demokratie mit Gewalt zu exportieren (Irak; Afghanistan). Es fehlt schlichtweg Legitimation; das Auftraten ist entsprechend den Kreuzzügen vor 600 Jahren; nur geringfügig verfeinert.
Tötungsgebot?
Es besteht m. E. ein Unterschied, zwischen den möglichen und dann vielleicht gebotenen Tötungen bspw. eines »finalen Rettungsschusses« und dem, was pauschal als »Todesstrafe« bezeichnet wird. Ich glaube, dass es einen weitgehenden Konsens in unserer Gesellschaft gibt, der Tötungen aus Situationen der unmittelbaren, tödlichen Gefahrenabwehr für andere möglich macht bzw. geboten erscheinen lässt bzw. als das kleinere Übel bezeichnet (s. finaler Rettungsschuss).
Köppnicks Argumentation geht dahin, dass dies immer der Fall ist, wenn (1.) unmittelbar bevorstehende Kapitalverbrechen damit verhindert werden können und (2.) andere, Unschuldige, dabei (so weit dies möglich ist), nicht auch zu Schaden kommen. Ich finde das recht schlüssig; auch wenn es nicht »vollständig« ist.
Die typische Situation wäre die eines Banküberfalls, wenn der Geiselnehmer droht, die Geisel zu erschiessen und bereits entsprechende »Massnahmen« eingeleitet hat. Hierbei gibt es naturgemäss wieder unzählige Probleme: Was, wenn seine Waffe nicht geladen ist? Was, wenn er es nicht beabsichtigt und »nur« droht, usw? – Trotz dieser im einzelnen relevanten Fragen, bleibt m. E. hier ein grosser Konsens.
Um auf den ursprünglichen Fall zurückzukommen: Ich glaube nicht, dass es ein Gebot war, S. H. hinzurichten. Ich glaube aber auch nicht, dass es unbegründet verboten gehört, solche Leute a priori hinzurichten. Schon gar nicht mit dem Reflex der Humanität. Humanität sollte auch an die Opfer denken.
Irgendwo habe ich es schon einmal gefragt: Wie hätten die Alliierten 1946 entscheiden sollen? Ich habe keine erschöpfende Antwort erhalten. Warum eigentlich nicht? Ich vermute, weil es einen Konsens gab (und gibt), dass die Verbrechen des Nationalsozialismus derart monströs waren, dass es keine Alternative gab. Alles andere wäre vom Empfinden her als eine Verharmlosung aufgefasst haben (das Argument, die Menschenrechtserklärung sei erst 1948 verabschiedet worden, gilt übrigens nicht; es hab bereits vorher entsprechendes).
Meine Argumentation ist natürlich nicht stringent. Sie erhebt auch nicht den Anspruch darauf. Sie hat etwas selbstgerechtes, zweifellos. Aber der blosse, fast apallische Reflex, der sich Silvester in der Medienlandschaft breitmachte, war und ist mir ebenfalls zu wohlfeil.
Aber vielleicht schreibt DHK ja hier einen Artikel [Contributorenrechte gibt’s ganz schnell], der die Problematik bündelt und vom vorliegenden Fall abstrahiert?
Kant, Tötungsgebot und Artikel
@Gregor
Alles, was Du zu Kant schreibt, glaube ich gerne, unterschreibe ich auch. Ändert aber immer noch nichts an meiner Frage, ob es PRINZIPIELL ausgeschlossen ist, allgemeine Maximen (Regeln, Gebote) so zu formulieren, dass, wer ihren Buchstaben verfolgt, auch ihren Geist trifft. Finde ich spannend, wenngleich es eher eine linguistische, denn eine ethische Frage ist. Allerdings nicht ohne Auswirkung auf Ethik.
Tötungsgebot: Köppnicks Argumentation geht dahin, dass dies immer der Fall ist, wenn (1.) unmittelbar bevorstehende Kapitalverbrechen damit verhindert werden können und (2.) andere, Unschuldige, dabei (so weit dies möglich ist), nicht auch zu Schaden kommen. Ich finde das recht schlüssig; auch wenn es nicht »vollständig« ist.. Mag sein, ist aber problematisch. Allerdings aus anderen Gründen als den Deinen. Beispiel: In China mag es Kapitalverbrechen sein (oder morgen werden), ein regimekritisches Blog zu betreiben... UC?
Kern des Problems ist, dass »Kapitalverbrechen« eine juristische Konstruktion ist und somit erstens kontingent und zweitens einen Kategorienfehler verursacht.
Fällt Dir eine valide Variation ein?
Eigener Artikel: Würde ich liebend gerne, allerdings komme ich momentan nicht einmal dazu, hier regelmäßig zu antworten. Die Zeit, die Zeit...
Komme aber ggf. auf die Idee zurück.
Biologie und Kultur
@Peter
Durch die biologistische Herangehensweise wollte ich gerade den ganzen verwirrenden kulturellen Überbau bei Seite schieben.
Andererseits schrobst Du Damit sollte eine Maxime immer situations- und/oder kulturabhängig sein,...
Nu ja, wenn »kulturabhängig« im Raume steht, kann man nicht erwarten, dass... (weißt Du ja selbst).
Andererseits wird mir überhaupt nicht klar, wo Du die Verbindung zwischen Moral und Biologie ziehen willst. Nota bene, mir ist klar, dass es da legitime Verbindungen gibt (»Evolution von Moralen«, »Moral als Selektionsfaktor«, »Moralen als evolutionär konvergente Phänomene«, »Prinzipielle Ununterscheidbarkeit von moralischem Empfindungen und Instinkten« etc.) Nur, wie gesagt, worauf willst DU hinaus?
@DHK – Prinzipiell...
ist es vermutlich möglich, einen Handlungskanon zu implementieren, der sozusagen a priori einleuchtet. Es wird auch m. E. laufend versucht – mit allerdings geringem Erfolg. Entweder sind die Imperative zu allgemein oder derart detailliert, dass alle möglichen Ausnahmen gleich mit versucht werden, abzudecken. Letzteres ist beispielsweise eine Spezialität der EU (siehe Verfassungsentwurf)…
Wäre man ein bisschen grössenwahnsinnig, könnte man es selber auch noch versuchen…
Ich habe einen interessanten Aufsatz von Wolfgang Kersting gefunden, der in die Problematik hineinpasst: Plädoyer für einen nüchternen Universalismus. Kersting versucht nichts Geringeres, als den Menschenrechtsgedanken zu »retten«, und bemüht eine interessante Argumentation (die vielleicht in die Richtung von Peter geht):
Es gibt offensichtlich nur dann eine Lösung des Menschenrechtsproblems, wenn der Mensch des Menschenrechts im vorkulturellen Bereich gesucht wird. Der Mensch als solcher bildet die Zuschreibungsformel des Menschenrechts; sie verlegt jeder kulturellen Qualifizierung der Zuschreibungsbedingung den Weg. Der Mensch als solcher, das ist der natürliche Mensch, der nackte Mensch, der Mensch der biologischen Klassifikationslehre, der homo sapiens. Dieser steht auf der einen Seite, und die Menschenrechtssubjektivität steht auf der anderen Seite; und niemandem ist es erlaubt, dazwischenzutreten und durch kulturell kolorierte Bilder eigentlichen oder höheren Menschseins die Rechtszuschreibung zu reglementieren. Gerade darin zeigt sich der unüberbietbar revolutionäre Charakter des Menschenrechtskonzepts: dass es eine allen staatlichen Rechtsordnungen, allen geschichtlichen Kulturkreisen und allen moralischen, religiösen oder metaphysischen Deutungen menschlichen Seins und menschlicher Lebensführung vorangestellte normative Ordnung purer Zwischenmenschlichkeit errichtet, die für alle geschichtlichen Sozialformationen und kulturellen Selbstdeutungen unbedingte Verbindlichkeit besitzt. Nur über die strikte Naturalisierung des Menschen gelangt man also zum Kern des Menschenrechtsbegriffs. In der aller ideologischen Differenzierung und kulturellen Selbstinterpretation vorausliegenden biologischen Klassifikationsgleichheit ist das Gegenstück des normativen Egalitarismus des Menschenrechts zu finden. Der begründungstheoretisch einzig relevante menschenrechtliche Mensch ist ein endliches, sterbliches, verwundbares und leidensfähiges Wesen; der menschenrechtliche Schutz gründet sich auf die schlichte Evidenz menschlicher Verletzlichkeit und die nicht minder evidente Vorzugswürdigkeit eines Zustandes der Abwesenheit von Mord und Totschlag, Schmerz und Gewalt, Folter, Not und Hunger, Unterdrückung und Ausbeutung. Und dieser Schutz kann nur in einem Staat gewährt werden. Menschenrechte sind daher wesentlich staatsadressierte Institutionalisierungsaufträge.
Ich muss den Aufsatz sicherlich noch mehrmals lesen, um die Idee(n) dahinter genau zu verstehen. Er wäre – vermute ich – einen separaten Beitrag wert.
PS: Das mit einem evtl. Beitrag für Dich eilt ja nicht; die entsprechenden Möglichkeiten sind in jedem Fall vorhanden. Es ist auch ein Versuch, diesen Blog hier ein wenig aufzupeppen (in den Grenzen, die hier vielleicht gesetzt sind; obwohl ich glaube, dass eine niveauvolle und kontroverse Diskussion nicht primär an technischen Details scheitert.
PPS: »Anonym« ist Peter, weil er sich nicht bei twoday angemeldet hat...
Kultur versus Natur
@DHK
Andererseits wird mir überhaupt nicht klar, wo Du die Verbindung zwischen Moral und Biologie ziehen willst. Nota bene, mir ist klar, dass es da legitime Verbindungen gibt (»Evolution von Moralen«, »Moral als Selektionsfaktor«, »Moralen als evolutionär konvergente Phänomene«, »Prinzipielle Ununterscheidbarkeit von moralischem Empfindungen und Instinkten« etc.) Nur, wie gesagt, worauf willst DU hinaus?
Das war wohl etwas zu ungeordnet.
Du hattest gefragt, ob es prinzipiell möglich ist, allgemeine Verhaltensmaßregeln aufzustellen. Falls der Mensch biologisch nicht in der Lage ist
kongruent zu handeln, wie kann das dann ein kultureller Überbau leisten? Ich hatte versucht darzustellen, dass schon die biologischen Voraussetzungen
für ein codifizierbares, allgemeines Recht nicht gegeben sind (hochgradig situationsabhängig, nur für kleine Gruppen gültig). In einer Großstadt sind
wir schon aller Intuition entledigt, was in der Praxis gut nachvollzogen werden kann.
Da damit jede Situation im wesentlichen ein Einzelfall ist, sehe ich kaum Möglichkeiten dies in Regeln zu giessen. Mann stelle sich nur vor,
wie Kleinhirn, Grosshirn und kulturelle Prägung einen Kompromiss suchen. Da reicht die kleinste Parameteränderung, um zu unterschiedlichen Ergebnissen
zu kommen.
@Gregor
Ein sehr interessanter Aufsatz, den ich bisher nur überflogen habe. Für mich bleibt aber das Problem bestehen, dass auch der »nackte Mensch« glitschig
ist, wie ein Stück Seife.
Übrigens, um zum eigentlichen Thema zurück zukommen, ich teile deine Auffassung, die Nürnberger Prozesse und die
Hinrichtung S.H. nicht mit der Diskussion um die Todesstrafe in eine Topf zu schmeissen. S.H. hat dich sein Schicksal erarbeitet. Pinochet et al.
bleiben aber der Beweis, dass hier Moral nur die zweite Geige spielt.
@Gregor
Dein Zitat Es gibt offensichtlich nur dann eine Lösung des Menschenrechtsproblems, wenn der Mensch des Menschenrechts im vorkulturellen Bereich gesucht wird. ... Und dieser Schutz kann nur in einem Staat gewährt werden. Menschenrechte sind daher wesentlich staatsadressierte Institutionalisierungsaufträge. finde ich absolut katastrophal. Streicht man alles Überflüssige, dann bleibt als Wesentliches: »Der (politische) Staat soll das (biologische) Wesen Mensch schützen.« Das ist zuwenig, darum finde ich auch Peters Gedankengang schlecht. Wir unterscheiden uns von unseren haarigen Verwandten eben nicht nur darin, dass wir das Fleisch vor dem Verzehr braten.
Der Staat als gesellschaftliche und politische Machtinstitution ist der Zusammenschluss von Menschen, die dazu eben ihre gesellschaftlichen und politischen Fähigkeiten einbringen müssen. Damit der Staat überhaupt weiterexistieren kann, müssen deshalb diese Eigenschaften und Möglichkeiten aller Individuen geschützt werden.
Deshalb gehören zu den Menschenrechten nicht nur das Recht auf Leben, sondern auch solche wie das Recht auf Bildung, Kultur, Religions- und politische Freiheiten. Außerdem haben die einzelnen Menschen auch unterschiedliche Bedürfnisse, deshalb gehören auch Frauen‑, Alten- und Kinderrechte hinein. Dahinter kann man nicht zurückweichen, weil sich sonst der schützende Staat selbst auflösen würde und der Schutzauftrag nicht mehr erfüllt werden könnte.
Biologie und Sprache
@Peter
Du hattest gefragt, ob es prinzipiell möglich ist, allgemeine Verhaltensmaßregeln aufzustellen. Falls der Mensch biologisch nicht in der Lage ist kongruent zu handeln, wie kann das dann ein kultureller Überbau leisten? Ich hatte versucht darzustellen, dass schon die biologischen Voraussetzungen für ein codifizierbares, allgemeines Recht nicht gegeben sind. [...]
Da damit jede Situation im wesentlichen ein Einzelfall ist, sehe ich kaum Möglichkeiten dies in Regeln zu giessen. Mann stelle sich nur vor, wie Kleinhirn, Grosshirn und kulturelle Prägung einen Kompromiss suchen. Da reicht die kleinste Parameteränderung, um zu unterschiedlichen Ergebnissen
zu kommen.
OK, jetzt wird mir einiges klarer. Meine Frage ging, wie ich mittlerweile sehe, mehr auf die sprachphilosophische Frage, ob es für Regelsysteme, die handlungsleitend sein sollen, prinzipiell ausgeschlossen ist, mit Buchstabentreue auch »Gedankentreue« zu gewährleisten, so dass ein »Interpretieren nach dem Geist« obsolet wird.
Deine Aussage geht eher in die Richtung, dass auch der »Gedanke« eines Regelsystems immer nur relativen Wert hat, vor einem kulturellen und sozialen Hintergrund, und eben – dies die biologische Perspektive – evolutionär vermittelte Wertigkeiten und Handlungs(un-)möglichkeiten.
Führt das nicht doch zu einer arg pessimistischen Weltsicht (Du kannst mich gerne eines tatsachenblinden Optimismus zeihen)?
@Köppnick – Zu Kersting
Ich hätte besser nicht dieses Zitat gebracht, denn im Essay selber definiert Kersting exakt das, was Du mit recht auf Bildung und Kultur bezeichnest genauer.
Was er versucht, ist den Menschenrechtsbegriff nicht mit definitionsproblematischen Begriffen wie »Würde« zu begründen, sondern anthropologisch. Vielleicht ist es das, was Peter meint, wobei der Begriff der biologistischen Argumentation m. E. unglücklich gewählt ist. Wenn wir uns nach wie vor unseren biologischen »Trieben« derart hilflos ausgeliefert glauben, dann dürfen wir ja noch einige Regression erwarten. Ich bin da nicht so pessimistisch, obwohl ich glaube, dass in Extremsituationen durchaus der pure Wille zum Überleben über moralische Bedenken dominieren dürfte.
Kersting räumt den Kleiderschrank aus und möchte uns neu einkleiden. Dabei begeht er m. E. den Fehler, dass er viele, altgewohnte Kleidungsstücke wieder einräumt, mit der Begründung, dass wir sonst nackt herumlaufen würden. Seine Diagnose finde ich in jedem Fall sehr interessant – seine Therapie unterscheidet sich in vielem dann irgendwann nicht mehr von den aktuellen Pauschalisierungen.
Der Rekurs auf den »Staat« finde ich dabei auch nicht geglückt. Vielleicht meint er aber etwas anderes, als den Nationalstaat, den wir damit verbinden. Vielleicht ist einfach eine kleine, überschaubare Entität damit gemeint, die nicht einer so umfassenden Organisation bedarf wie die grossen Nationalstaaten.
In jedem Fall misstraut Kersting wohl – ohne dies zu sagen – den supranationalen Gebilden à la VN oder EU. Seine Ablehnung des Primats von Politik scheint recht ausgeprägt; leider füllt er sie m. E. nicht anderweitig aus.
Pessimismus
@DHK
Führt das nicht doch zu einer arg pessimistischen Weltsicht (Du kannst mich gerne eines tatsachenblinden Optimismus zeihen)?
Wenn die Lebensbedingungen stabil sind, sind Rechtssysteme doch zumindest lokal sehr erfolgreich. So gesehen könnte die Globalisierung tatsächlich die westlichen Menschenrechte weltweit hoffähig machen. Gleiche Bedingungen, gleiche allgemeine Menschenrechte? Möglich.
Bei dem Kant’schen Imperativ wäre ich allerdings skeptisch. Treffen der Hardcore-FDP-Apotheker, der gerade auf einer DocMorris-Demo seinen Artenschutz verteidigte und ein Grüner auf dem Heimweg von einem MultiKulti-Abend mit Percussiongruppen aus Afrika und der Karibik aufeinander, würde ihr gesetzgeberisches Gebaren nicht unbedingt zum gleichen Wortlaut führen. Gesetze in Form einer Gauss’schen Glockenkurve? Auch nicht uninteressant.
@Gregor
Der Begriff »Triebe«, ist tatsächlich zu biologisch. Es hilft aber nicht zu ignorieren, das verschiedene Instanzen (Kleinhirn,Großhirn,Kultur), die evolutionär weit auseinander liegen, an unseren Entscheidungen Teil haben. Absturzopfer in den Anden wurden zu Kannibalen und in der Situation zu recht. Andererseits sind die rein verkopften Ideologien weit weg von jeder Praktikabilität. Ich vermute, das Rechtssystem sollte annähernd ein Abbild des gesellschaftliche Wertekanons sein, um zu funktionieren. Und der ist in kleinen Gruppen stabiler und unterliegt Modifikationen längst der Zeitachse. Dort sind alle von Köppnik genannten Forderungen auch legitim.
@DHK
Meine Frage ging, wie ich mittlerweile sehe, mehr auf die sprachphilosophische Frage, ob es für Regelsysteme, die handlungsleitend sein sollen, prinzipiell ausgeschlossen ist, mit Buchstabentreue auch »Gedankentreue« zu gewährleisten, so dass ein »Interpretieren nach dem Geist« obsolet wird.
Ich bin ein bisschen erstaunt, dass du immer noch dem Gedanken anhängst, ein System von sprachlich formulierten Regeln könnte »vollständig« sein, denn genau das ist es ja, was du mit der gesuchten Negation von »prinzipiell nicht möglich« forderst. Meiner Meinung nach geht das aus zwei Gründen nicht.
Vom ersten hatte ich bereits geschrieben: Worte sind reduzierende Abbildungen von Gedanken, Gedanken wiederum reduzierte Abbildungen der Wirklichkeit um uns herum. Wenn du hierfür ein analoges Bild benötigst: Worte = zweidimensionales Röntgenbild, Gedanken = dreidimensionaler Patient auf der Pritsche unter dem Röntgenapparat, Wirklichkeit = zusätzliche Veränderungen des Patienten in der Zeit. Aus dem Röntgenbild kann nicht vollständig auf alles über das Leben des Patienten geschlossen werden. Die einzige Hoffnung besteht darin, dass es unter eingeschränkten Aspekten für den gerade interessanten Krankheitsfall ausreichend ist. Das ist aber etwas anderes als das logische »hinreichend«!
Der zweite, eher formale Grund liegt in Gödel begründet. Selbst wenn die Regeln ein vollständiges axiomatisches System begründen, verbleiben unentscheidbare Aussagen. Für die Regeln, um die es hier geht, kannst du praktisch immer eine Komplexität voraussetzen, die den Peano-Einwand nicht gelten lässt.
No Gödel, no fun!
@Köppnick
Sorry, da muss ich mich unklar ausgedrückt haben. Oben schrob ich
Übrigens finde ich es eine extrem wichtige Frage, und nicht nur formale Spielerei, ob jemand glaubt, dass es PRINZIPIELL undenkbar ist, allgemeine Verhaltensmaßregeln (-kataloge) aufzustellen. Dass diese unvollständig sein werden, liegt auf der Hand, aber sind sie denkbar?
Ich dachte damit klar gemacht zu haben, dass es mir darum geht, dass das Regelsystem gewissermassen »interpretationsfrei« ist. Natürlich werden sprachliche Äußerungen immer interpretiert, aber mir geht es um den juristischen Begriff der Interpretation. Um mal ein weniger belastetes Beispiel zu bringen: Ist es möglich eine Gebrauchsanweisung so zu schreiben, dass jeder, der lesen kann und guten Willens ist, sie KORREKT befolgen kann? Ich denke, ja. Wenn das so ist, gilt das dann auch für moralische Handlungsanweisungen?
Wie gesagt: Unvollständigkeit ist gesetzt.
Auch auf die Gefahr hin, von schlichtem Denken seiend zu outen, melde ich mich hier zu Wort. Ich sehe, es lassen sich sowohl für, als auch gegen die Todesstrafe Argumente finden, die zum moralisch und rechtlich korrekten Vorgehen eingespannt werden können.
Diejenigen Menschen, die die Todesstrafe für befürworten, werden gute Gründe finden, warum und in welchen Kontext sie angebracht sei.
Diejenigen, die die Todesstrafe ablehnen, werden ebenso gute Gründe finden, warum sie abzulehnen sei.
Im Falles von S. H. hat ein Gericht, darüber befunden, welcher Art von Strafe ihm für sein bisheriges Regiment im Irak zugedacht wird. E sind Menschen, die im Gericht darüber zu Rate sitzen, auf welchen Grund- und Rechtslagen sie eine Entscheidung treffen. Und es sind wiederum Menschen aus Fleisch und Blut, die den Strafvollzug durchführen.
Wenn wir über die Bestrafung von S.H. schreiben, dann sprechen wir über etwas, das von unserem alltäglichen mehr oder weniger Leben fern ist. Unsere Betroffenheit (mehr oder weniger) ergibt sich aus den Informationen über die Medien. Wir selbst haben im konkreten Fall nicht darüber zu befinden gehabt, was mit S.H. rechtsmäßig geschehen würde und auch den Vollzug haben nicht wir selbst mit eigener hand ausgeführt, sondern andere Menschen, die ihm an den Ort des Vollzugs geführt haben, die Schlinge um den Hals gelegt und den letzten Griff in Richtung Tod des Angeklagten getan.
Angesichts der Kommentare stelle ich mir als Denkanstoß die Frage, wie würden wir handeln, wenn wir die Thematik auf regionale Ebene der Betroffenheit holen, und uns vorstellen, eines unserer Familienmitglieder oder der Bürgermeister unseres Wohnortes hätte sich so gebärdet wie S.H. in seiner Regierungszeit. Wie würden wir entscheiden in Punkto Todesstrafe, wenn wir als einzelner und als Zünglein an der Waage, über die Strafe zu entscheiden hätten? Und wie würde unsere Entscheidung ausfallen, wenn wir selbst Hand anlegen müssten die Todesstrafe auszuführen? Worauf würden wir (würde ich) die Entscheidung begründen?
Vielen Dank, dass Sie sich doch noch entschlossen haben, den Kommentar hier zu posten.
Ich glaube nicht, dass wir hier in einer Diskussion um das für und wider der Todesstrafe sind. Ich habe keinen Kommentar gefunden, der die instutionalisierte, zivile Todesstrafe, wie sie beispielsweise in vielen Staaten der USA vollstreckt wird, gutheisst. Mein Beitrag resultierte aus der Überlegung heraus, dass Figuren wie S. H. (= ehemalige politische Führer) meines Erachtens u. U. nicht mit den üblichen Sanktionsmechanismen beigekommen werden kann. Und das die üblichen Betroffenheitsreflexe hier unangebracht sind. Es ist mir einfach nicht vorstellbar, irgendwelche Empathie für Leute wie beispielsweise Pol Pot, Hitler, Mao oder Stalin (um nur die grössten Verbrecher zu nennen; sie hatten alle willfährige Helfer) zu empfinden und die obligaten Menschenrechte für sie einzufordern.
Was sie zu der medialen Wirkung schreiben, ist natürlich vollkommen richtig. Ich bin mir dessen durchaus bewusst: Was wir von S. H. wissen, entstammt den Medien – wie auch immer. Das ginge uns strenggenommen vermutlich allerdings auch so, wenn wir im Irak leben würden. Die Kunst des Lebens in dieser Diktatur bestand ja u. a. darin, von S.H.’s Regime eben nicht wahrgenommen zu werden – andernfalls wäre man vermutlich ein Opfer seiner Repression geworden.
Würde man diesen Massstab streng anlegen, d. h. eine Bewertung historischer Ereignisse ablehnen, weil man sie nicht selber direkt erlebt hat bzw. nur aus indirekten Quellen kennt, dürfte es keine Forschung mehr geben und wir dürften überhaupt keine Einordnungen zu geschichtlichen Ereignissen vornehmen. War der Dreissigjährige Krieg so, wie er uns vermittelt wird? Oder sehr kontroverse Themen: Waren die napoleonischen Kriege Eroberungskriege? Ist das Deutsche Reich alleine verantwortlich für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs? – Diese Fragen sind teilweise umstritten – bis heute, weil das zur Verfügung stehende Material teilweise widersprüchliches aussagt und unterschiedliche Deutungen zulässt. Wie bewerten wir Figuren wie Napoleon oder Wilhelm II oder auch Bismarck? Oder sollen wir eine Bewertung erst gar nicht versuchen, weil die Quellenlage immer auch interessengesteuert ist bzw. sein könnte?
Ihr zweiter Einwand berührt auch ein heikles Feld: Inwieweit sind wir bereit, unsere Überzeugungen sozusagen selber umzusetzen und nicht an andere zu delegieren? (Etwas polemisch formuliert, könnte man auch fragen, ob ich zum Vegetarier würde, wenn ich Tiere selber schlachten und entsprechend präparieren müsste.)
Ich kann diese Frage für mich nicht abschliessend beantworten. Diese Zögerlichkeit entspringt natürlich einem grossen Privileg: Ich war nie in der Situation, eine solche Entscheidung treffen zu müssen. Und natürlich ist mir so etwas wie der Lynchmob verhasst.
Ich bin in der guten, schönen (westdeutschen) Wirtschaftswunderzeit aufgewachsen und kenne nur Demokratie (bzw. das, was dafür gehalten wird). So bin ich z. B. der Meinung, dass es unter gewissen Umständen durchaus legitim (und sogar geboten) ist, für die Verteidigung der Werte dieses Staates Gewalt anzuwenden (auch persönlich) und halte einen ‘A‑priori-Pazifismus’ für einen schweren Fehler; es beraubt einem einer Option. Ich bin aber z. B. nicht der Meinung, dass deutsche Soldaten in Afghanistan unsere Freiheit verteidigen...
Ich gehe davon aus, dass die systematische und/oder willkürliche Ermordung von Menschen, über die man wie auch immer eine politische und ökonomische Macht hat, von allen Kulturen grundsätzlich als verwerflich angesehen wird (bzw. würde). Politische Herrscher haben eine besondere, quantitativ und qualitativ grössere Verantwortung als »normale« Bürger (sie bleiben zwar Bürger, sind aber gleichzeitig [vorübergehend] mit höheren Rechten und Pflichten ausgestattet) – wie sie auch immer ihre Macht erworben haben. Die Legitimation, Figuren wie S. H. (und seine skrupellosesten Schergen) hinrichten zu dürfen, ja vielleicht sogar zu müssen, könnte aus dieser speziellen Verantwortung abgeleitet werden. Aus ihr darf natürlich nicht wiederum eine Willkür abgeleitet werden. Insofern ist das Dilemma natürlich gross.
Wie so oft bei Ihnen, eine sehr interessante Antwort, die sie darbieten und mich zum Weiterdenken anregt.
Nach dem Lesen Ihrer Zeilen drängt sich mir die Frage auf, ob wir als Bürger einem Irrtum aufsitzen, wenn wir meinen, politische Herrscher würden sich Kraft ihrer größeren Verantwortung auch entsprechend verantwortungsbewußter verhalten.
Ich möchte auch noch diese Aussage zum Thema Bewertung herausgreifen. »Wie bewerten wir Figuren wie Napoleon oder Wilhelm II oder auch Bismarck? Oder sollen wir eine Bewertung erst gar nicht versuchen, weil die Quellenlage immer auch interessengesteuert ist bzw. sein könnte?« Zitat Ende.
Mir fällt dazu ein, Geschichtsbücher mehrer Länder zu ein und demselben geschichtlichen Ereignis zu vergleichen. Und ich denke auch daran, Macht ist zugleich eine Verknüpfung mit Sprachmacht.