Am Anfang des Buches sitzt der österreichische Literaturprofessor Stein, der in den USA lebt und arbeitet, im Flugzeug. Für ihn, dem heimatlosen Weltbürger, sind dies fast die schönsten Stunden; Horte der Ruhe; Zeiten, in dem von ihm keine Handlungen, keine Entscheidungen abverlangt werden. Stein sieht eine politische Talkshow im Flugzeugfernsehen. Er nimmt nicht sofort den Kopfhörer, sondern schaut nur dem Fernsehbild zu.
Dann wurde ihm plötzlich die Lächerlichkeit dieser Fernsehrunde bewusst. Wie wenig die hier zum Gespräch geladenen Herrschaften zu überzeugen vermochten, solange der Ton ausgeschaltet blieb! Allein am Gehörtwerden hing ihre Existenz; wie sie da mit den Händen grosse Gesten in den Raum schrieben und mit ihren durchwegs müden – denn begeistert war da keiner mehr – Gesichtern ein wenig Leidenschaft für ihr Thema vorzutäuschen versuchten, ergab ein trauriges Bild...Das »Weltgeschehen« bestand darin, dass darüber geredet wurde.
Stein, 48 Jahre alt, verheiratet, hat zwei fast erwachsene Töchter (15 und 19), einen nicht besonders anstrengenden, aber gut dotierten Beruf, der ihm allerdings keine Befriedigung verschafft, weil ihm die Anerkennung versagt bleibt (was wohl daran liegt, dass er irgendwann schlichtweg das Interesse an der Literatur verloren hat [interessante Innenansicht eines zum Nichtleser gewordenen]). Seine Flüge nach Europa dienen meist nur oberflächlich seinem Beruf; er besucht seinen Freund Stéphane in Paris, ein sehr erfolgreicher und bekannter Anwalt – in vielem das Gegenstück zu Stein. Und er besucht seine Geliebten. Stéphane, der dem Beruf verhaftete Mensch, extrovertiert, mit wechselnden Frauenaffären, in den Tag hineinlebend – Stein der Grübler, introvertiert; aber ebenfalls mit wechselnden Gebliebten.
Der auktoriale Erzähler, eher Stein zugewandt, weiss viel zum Verhältnis der beiden zu erzählen – bis zur Frage, was sie denn tatsächlich als Freunde verbindet oder ob es nicht nur eine Art Bindung ist, die keiner von beiden bisher beendet hat (aus Bequemlichkeit oder Gewohnheit). Freilich sind die Bande der Deserteure des Lebens nicht mit den gängigen Mustern einer normalen »Freundschaft« zu charakterisieren. Obwohl Stein sich dann fast selbst entrüstet zusieht, als er Stéphane zu dessen 50. Geburtstag einen Flug in die Staaten schenkt. Sehnsüchtig erwartet Stein, dass der Fluggutschein verfallen möge – kurz vorher jedoch kündigt der quirlige Freund sein Ankommen jedoch an.
Die Erzählungen über Stein und dessen trostloses Alltagsleben, sein Verdruss, seine Melancholie, seine Unbehaustheit – mit sehr schönen Metaphern, nein: Bildern, gelingt es Skwara diese Person entstehen zu lassen, ohne sie in Spiessertum, Langeweile oder Larmoyanz entgleiten, ersticken zu lassen; von Denunziation natürlich erst recht keine Spur. Herrlich die Schilderung des Vaters der 15jährigen Tochter gegenüber – die Sehnsucht, sie zu verstehen, mit ihr einmal wirklich zu reden und dann wieder Steins Unmöglichkeit, solche Situationen entsprechend herbeizuführen oder zuzulassen.
Und immer wieder die Reminiszenzen an die Affären, insbesondere mit Sophie, die Frau, die sich mehrmals für ihn umbringen wollte, weil sie seine Verdächtigungen und auch Demütigungen nicht mehr aushielt und dann plötzlich aus seinem Leben für immer verschwand. All diese gescheiterten Liebschaften, von ihm minutiös protokolliert (jeder Höhepunkt schriftlich festgehalten), dazu die Ehe mit seiner Frau (seltsam ausweichend und kühl) – Stein scheint nicht nur unfähig Liebe zu geben, zu zeigen – sondern auch noch unfähig Liebe zuzulassen.
Nein, es klingt jetzt vielleicht ein bisschen nach Groschenroman. Das ist es nicht. Wirklich nicht. Skwara gelingen (insbesondere im ersten Teil) Formulierungen von entzückender Schönheit.
Wann wurde ein Mensch alt? Ein Mensch war alt, wenn er sich den neuen Anfang nicht mehr vorstellen konnte. Wenn er sich eingestand: gelungen oder misslungen, so ist es eben, so bleibt es nun.
Der neue Anfang – das sind seine Liebschaften; das einzige Gebiet, auf dem Stein noch so etwas wie Initiative ergreift. Sie enden im Verlassenwerden, und der Selbsthass wird dann fast geniesserisch zelebriert. Dem gegenüber immer der Antipode Stéphane und wenn sie dann zusammen sind, reden sie aneinander vorbei, unfähig einmal nur miteinander zu schweigen.
Plötzlich ein Wechsel der Erzählperspektive (Das Beschwören vergangener Mahlzeiten). Ein Ich-Erzähler in Italien, in einem Hotel, dem Universo, dort, wo seine grosse Jugendliebe Giovanni in ein paar Stunden zum Wiedersehen erwartet wird. Indizien sprechen dafür, dass hier Stein erzählt oder einfach nur der Beginn eines Romans von Stein zu lesen ist. Was ist es? Ein Traum? Eine Epiphanie?
Und natürlich denkt man an Aschenbach und seinen Tadzio und das Erwecken des neuen Gefühls, welches gerade in der Nichterfüllung (oder besser: Unmöglichkeit) erst gross, einzigartig wird. Aber der Ich-Erzähler bei Skwara will den neuen Anfang oder zumindest noch einmal die Beschwörung der vergangenen Zeiten. In der Hotelhalle trifft er einen Mann, der dort Tag und Nacht sitzt. Sie tauschen ihre Geschichten aus. Parabelhaft erfährt er von dem alten Mann und seiner Liebe Rosanna, auf die er seit Jahrzehnten wartet – das Warten ist zum einzigen Lebenszweck geworden. Das Warten als das Versprechen der Liebe; der Beweis, als einziger von allen sie jemals geliebt zu haben.
Die Konsequenz des Greises, das Spiegeln der eigenen Unfähigkeit zu lieben und das Urteil des Mannes über den Versuch der Wieder-Holung des Liebestaumels mit Giovanni (der nur dezent angedeutet wird) – all das veranlasst den Ich-Erzähler wenige Minuten vor dem geplanten Treffen zur überstürzten, ja panischen Abreise.
Dialogisch und atmosphärisch beweist Skwara in diesem Kapitel die höchste Meisterschaft. Geschickt changiert er zwischen Szenen von Bernhardschem Dialogfuror zwischen den beiden wartenden(etwa wenn es um ein Gastspiel eines berühmten Operntenors geht [zweifellos ist Pavarotti hier karikiert]), Mannscher Verzückung eines platonisch-homosexuellen Schwärmens und kafkaesker Parabel, was die Schilderung der Vorgänge am Ort und speziell im Hotel angeht. Das wirkt dabei mitnichten eklektizistisch oder epigonal – im Gegenteil: es entsteht ein eigener Sound, ein faszinierender Sog.
Im letzten Drittel (wieder auktorial erzählt; manchmal nicht immer von der Intensität der vorherigen Kapitel) reisen Stein und Stéphane durch die Welt; nach Italien (Stein will das Grab von Giovanni und seiner Giovannis Mutter besuchen), Spanien, wieder zurück in den Staaten – es bleibt manchmal unklar, ob diese Reisen, diese fortwährende Bewegung, nur in der Phantasie stattfinden oder in der Realität. Skwara wird surreal – die Verwirrung Steins wird zur Verwirrung des Lesers.
Zu einer Annäherung der beiden Freunde kommt es nicht – das Reden hatte ihnen doch nicht gut getan und Stéphanes Brief an die Menschen, in einem Spielcasino bei einigen Drinks auf einem Zettel geschrieben, entwickelt sich zu einer Art Entschuldigungsschreiben des Stéphanschen Temperaments, ein Eingeständnis, nie nach seinem Rhythmus gelebt zu haben – und das in langen, appellativen Sätzen. Aber auch hier ist nicht klar, was davon Stéphane geschrieben hat und was Stein einfach weiterphantasiert.
Am Ende sitzt Stein wieder im Flugzeug und denkt an seinen einzigen und letzten Concorde-Flug zurück, als er um 20 Uhr abflog und um 17.40 Uhr ankam. Wie glücklich ich an jenem Tag gewesen bin, dachte Stein...
Wir müssen uns Stein als einen unglücklichen Menschen vorstellen.