Die westlichen Demokratien und das Regime Mubarak haben eines gemeinsam: Beide haben Angst vor dem ägyptischen Volk. Die Bekenntnisse in den Sonntagsreden zu Demokratie, Freiheit und Menschenrechten verpuffen, wenn die Realpolitik übermächtig und »Stabilität« zum alleinentscheidenden politischen Kriterium wird. Die sorgenvollen Mienen bei der deutsch-israelischen Kabinettsitzung gestern sprechen Bände. Die USA und Israel wollen das System Mubarak erhalten. Vielleicht haben sie ihm ja eine Pille entwickelt, damit der 82jährige noch zwanzig oder dreißig Jahre lebt. Ihnen ist ein autokratischer Mubarak mit seiner »richtigen« Politik lieber als die Perspektive eines freien Landes. Als wäre es sicher, dass Ägypten wie weiland der Iran zum Gottesstaat wird (die Auguren sagen das Gegenteil).
War man 2009 noch auf Seiten der iranischen Opposition gegen ein ungeliebtes Regime, so wünscht man jetzt »Stabilität«. Die Doppelzüngigkeit des Westens ist wieder einmal zum Greifen nahe. Wie damals 1991, als die wahhabitische Diktatur Saudi-Arabien zu einem engen Verbündeten gegen Saddam Hussein wurde. Dann stört man sich an lästige Menschenrechte nicht, für die man im Irak und Afghanistan angeblich Kriege führt und die man im Iran bei jeder Gelegenheit einfordert. Die Perfidität, dass Saudi Arabien aus den Öleinnahmen den weltweiten islamischen Terrorismus finanziert und fördert, nimmt man in Kauf. Hauptsache, es bleibt »stabil«.
»Stabilität« ist schon jetzt ein Unwort. Es ist nahe verwandt mit »alternativlos«. 1957 errang der deutsche Bundeskanzler mit einem simplen wie genialen Wahlspruch »Keine Experimente« die absolute Mehrheit. Zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte der Bundesrepublik. Und die amerikanische Außenpolitik funktioniert immer noch nach dem Motto: »Er ist ein Schweinehund, aber er ist unser Schweinehund.«
Was will man anderes von den lahmen westlichen Demokratien erwarten, die Demokratie immer mehr durch eine »Bürgerausschaltung durch Stillhalteprämien« und »Bürgerlähmung durch Resignation« (Peter Sloterdijk) ersetzen? Sie selbst unterhöhlen längst die hehren Ansprüche durch eine Realpolitik, die nur notdürftige Reparaturen statt Implementierung neuer Strukturen vornimmt.
Du hast ja recht. Die Doppelzüngig des Westens ist zum Greifen. Dennoch kann ich die besorgten Mienen bei den israelisch-deutschen Konsultationsgesprächen gut verstehen, denn das Aufbegehren der Bevölkerungen der arabischen und magrebinischen Mittelmeeranrainerstaaten könnte einen Flächenbrand der Gewalt auslösen, mit weltweit unkalkulierbaren Auswirkungen. Insofern erscheint mir “Stabilität” in diesen Ländern nicht als Euphemismus, sondern als wichtige Voraussetzung, um einen einigermaßen friedlichen, geordneten Wandel herbeizuführen. Dafür scheint die Zeit reif. Wollen wir hoffen, dass nicht nur besorgt geschaut wird, sondern von den politisch Verantwortlichen umsichtig und mit Sorgfalt gehandelt wird. Das von den Medien nun so beklagte “Rumgeeiere“ der westlichen Politiker lässt diese Sorgfalt erkennen und ist meines Erachtens momentan die einzig richtige Reaktion.
Was tut denn Israel, um mit den Nachbarn deeskalierend zu kommunizieren? Welche Politik ist das, das Regime eines 82jährigen, todkranken Autokraten als stabilen Faktor bis zum Nimmerleinstag vorauszusetzen? Ist es nicht gerade so, dass die Anbetung des jeweilien Status quo erst die ungewünschte Radikalisierung der Massen erzeugen könnte?
Die »Stabilität«, die der Westen jahrzehntelang beschworen hat, war gepflastert mit Leichen und Folteropfern. Das kann man für eine gewisse Zeit in Kauf nehmen. Aber wenn sich Volk aufbegehrt, sollte man klar Stellung nehmen. Das ist keine EInmischung in innere Angelegenheiten. Denn auch ein Statement für Mubarak oder für eine »Moderate« Regelung kann als solches ausgelegt werden.
Die Befürchtung, der Unruheherd Ägypten könnte einen Aufschwung für islamistischen Radikalismus bedeuten halte ich für nicht unbedingt. Es sind nicht mehr die Menschen, die den Nahost-Konflikt um Israel und die muslimische Welt am Leben erhalten, es sind die Regierungen. Ich habe vor einiger Zeit mal gelesen – es kann sein, dass das ein Spiegel-Artikel war, ich weiß es nicht mehr -. dass der Großteil (oder zumindest ein bedeutender Teil) der israelischen Bevölkerung mit einer Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palästina einverstanden wäre, doch in den Liturgien des Islam und des Judentums heißt es angeblich, das heilige Land und Jerusalem seien nur im ungeteilten Zustand unbefleckt heilig. Viel mehr sind es die Regierungen und sonstige politisch-motivierte Instanzen, die das Feuer am brennen halten.
Könnte es mit Ägypten nicht genauso sein? Das Volk dort hat auch viel durchgemacht, mehrere Kriege mit Israel (welches militärisch überlegen ist), das System Mubarak und nun die Unruhen, vielleicht wünschen sie sich einfach nur Frieden für sich und ihr Land, selbst wenn sie dann etwaig Israel anerkennen müssten.
Man kann nur hoffen, dass das aufgebracht Volk sich nicht irgendwelchen Hasspredigern, die zum Dschihad gegen Israel aufrufen folgt. Das wäre zudem äußerst töricht, denn jede Form des Konfliktes mit Israel bringt nur neues Leid in das Land der Pyramiden.
»1957 errang der deutsche Bundeskanzler mit einem simplen wie genialen Wahlspruch »Keine Experimente« die absolute Mehrheit.«
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Simpel wie genial: stimmt. Was aber nicht den Reklamefuzzi-Kurzschluss zulässt, dass es (nur) an diesem Slogan lag. Vielleicht hätte es – aus ganz anderen Gründen – das gleiche Ergebnis gegeben mit dem Slogan »Freibier für alle« oder ohne jeden Slogan, oder mit irgend einem anderen der Sprüche, die damals gerade schick waren. Will sagen: Wahlen werden (doch hoffentlich) nicht gewonnen, weil eine Reklamagentur sich einen Spruch einfallen läßt. Oder?
@Count Lecrin
Ägypten hat seit 1973 keinen Krieg mehr mit Israel geführt; es ist das einzige arabisch eLand mit einem Friedensvertrag (seit 1978). Ich glaube, dass jede Regierung der Nach-Mubarak-Ära andere Probleme haben dürfte, als diesen Zustand zu ändern. Die Gefahr eines islamistischen Ägypten halte ich langfristig nicht für ganz gebannt; zumindest dürften die entsprechenden Kräfte auf 20–30% der Stimmen kommen. Es liegt dann an den anderen kräften durch eine vernünftige Wirtschaftspolitik den Parolenrittern das Wasser abzugraben.
@Jeeves
Nicht nur, aber auch. Adenauer galt in den späten 50er Jahren als Garant für »Stabilität« gegen die »bösen« Kommunisten in der SPD. Tatsächlich wurde die SPD erst durch das Godesberger Programm 1959 und der Abkehr von einigen abstrusen Ideen für breitere Teile der Bevölkerung interessant. Hinzu kam, dass Adenauer 1955/56 die »letzten Soldaten« aus Russland geholt hatte. Zudem vermittelte er das Gefühl, den Bürger von allzu intensivem Interesse mit der Politik zu »entlasten«.