Nach Wahlen wie dieser (in Bremen) schwillt der Jammergesang der ach so niedrigen Wahlbeteiligung bei nahezu allen Kommentatoren wieder an. Da ist von Defiziten in der Demokratie die Rede, wenn noch nicht einmal 50% der Wahlberechtigten von ihrem Recht Gebrauch machen. Graphiken werden erstellt, in der die »Fraktion« der Nichtwähler mit 50% als stärkste Gruppe dargestellt wird.
Als sei die Teilnahme an einer Wahl per se schon Ausweis für die Verfassung einer demokratischen Gesellschaft. Als sei ein Ergebnis besser, wenn 80% abgestimmt hätten statt 50%.
Freilich ist der Gedanke der Repräsentation durch niedrige Wahlbeteiligung zunächst einmal beschädigt. Dabei ist es aber nicht so, dass die Nichtwähler keine Möglichkeiten gehabt hätten. Sie haben es nur vorgezogen, der Wahl fernzubleiben. Wie immer auch dieses Vorgehen interpretiert werden mag (Affirmation, also Einverständnis? Oder einfach nur Verdruss?): Sie haben freiwillig auf die Möglichkeit zur Teilnahme am politischen Prozess verzichtet.
Wahlforscher – d. h. diejenigen, die nach einer Wahl wortreich erklären, warum die Wahl so ausgegangen ist wie sie es vorher nicht prognostiziert hatten – führen stets ein Bündel von Gründen für das Fernbleiben an. Früher glaubte man sogar ernsthaft, dass das Wetter ein Grund sein könnte. Je nach Argumentionsszenario war schönes Wetter gut oder schlecht.
Dabei genügt ein Blick auf die letzten Landtagswahlen um den vermeintlich tatsächlichen Grund zu entdecken: Mit Wahlen werden keine signifikanten politischen Veränderungen mehr verknüpft.
Bremen 10.05.2015
Zwar ist das amtliche Endergebnis noch nicht bekannt. Aber trotz Verlusten von insgesamt mehr als 13%-Punkten setzen SPD und Grüne ihre Koalition fort.
Hamburg 15.02.2015
Die absolute Mehrheit der SPD wird zwar gebrochen, aber sie regiert mit der Koalition mit den Grünen weiter. Olaf Scholz bleibt Regierender Bürgermeister (vulgo: Ministerpräsident).
Brandenburg 14.09.2014
SPD und Linke setzen ihre Koalition trotz Verlusten von insgesamt 9,7%-Punkten einfach fort.
Thüringen 14.09.2014
Die Ausnahme. CDU/SPD-Koalition verschwindet zu Gunsten »2RG«, s. h. einer Koalition aus SPD, Grünen und der Linken. Letzere stellt den Ministerpräsidenten. Die drei Parteien haben zwar gegenüber der letzten LTW 5,8%-Punkte verloren. Aber auch schon die Koalition vorher schloß sich trotz eines Verlustes von 7,8%-Punkten zusammen.
Sachsen 31.08.2014
Da die FDP aus dem Landtag flog, bediente sich die CDU bei der 12,4%-Partei SPD. Der Ministerpräsident blieb der gleiche.
Die Landtagswahlen seit der Bildung der Großen Koalition haben zu zum Teil massiven Verlusten der jeweils regierenden Parteien bzw. Koalitionen geführt. Dennoch sind – bis auf eine Ausnahme – die amtierenden Ministerpräsidenten die gleichen geblieben. Ob es sich nun um eine Koalition mit Partei X oder Y handelt, wird dabei kaum noch wahrgenommen. Es handelt sich dabei um Regierungen von Wahlverlierern und nicht mehr von Wahlgewinnern. Das Signal nach außen: Egal, wie wir wählt, wir bleiben.
Landtagswahlen, in den es zu Regierungswechseln kam (Schleswig Holstein 2012, Hessen und Niedersachsen 2013) scheinen nur noch die Ausnahme aus Zeiten der schwarz-gelben Bundesregierung zu sein.
Während noch bis in die 1990er Jahre Wahlen als Richtungsänderungen ausgegeben wurden (»Lagerwahlkampf«), werden inzwischen die Unterschiede in den politischen Parteien – insbesondere was die Bundesländer angeht – nur noch als marginal eingestuft. Selbst der Regierungswechsel in Thüringen – von der Großen Koalition (CDU/SPD) zu »Rot-Rot-Grün« – schockierte mehr leitartikelnde Journalisten und das politische Establishment als die Bevölkerung. Immerhin gab es hier einen Regierungswechsel.
Dabei wissen die Wähler vermutlich längst, dass die Bundesländer zwar über den Bundesrat mitregieren, aber durch die Große Koalition im Bund sind die Abstimmungsverhalten der Länderregierungen entsprechend reglementiert. Die Schlüsselrolle fällt hier der SPD zu, die einerseits als Ländermacht auftreten könnte, andererseits jedoch durch die Teilnahme an der Regierung im Bund gefesselt ist. Allzu große Störfeuer aus den Ländern sind also nicht zu erwarten. Der Antrieb des zur Landtagswahl aufgerufenen Bürgers, über den Bundesrat der amtierenden Regierung sozusagen einen Gegenpart zu verschaffen, entfällt damit als potentieller Anreiz zur Wahlteilnahme.
Man sollte also weniger einen Fetisch Wahlbeteiligung anbeten, sondern Wählern Alternativen anbieten. Solange man das Gefühl hat, die anstehende Wahl verändert wenig bis nichts, entfallen für immer mehr Wähler die Gründe. Das muss nicht unbedingt nur ein schlechtes Zeichen sein.
PS 11.05.2015 – 13.40 Uhr: Böhrnsen, der SPD-Spitzenmann und bisherige Bürgermeister von Bremen, tritt zurück. Obwohl er weiterregieren könnte. Das zeigt eine Grösse, die selten geworden ist.