1
»Ein andres Ideal läuft vor uns her, ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir Niemanden überreden möchten, weil wir Niemandem so leicht das Recht darauf zugestehn: das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess...« (FW 636f.) So schreibt Nietzsche gegen Ende seiner Fröhlichen Wissenschaft, und man darf sich fragen, wem er dieses Recht zugestanden hätte außer sich selbst oder, besser gesagt, seinen Idealfiguren, diesen höheren Menschen, die er mal zu Über‑, mal zu Unmenschen stilisiert.
Aber was hat es eigentlich mit der Naivität auf sich, der ersten Eigenschaft des angekündigten Wesens? In seinem Spätwerk verzettelt sich Nietzsche regelrecht im Willen zu allem möglichen und faßt die diversen Strebungen unter dem Schlagwort eines Willens zur Macht zusammen, der eine Steigerung aller Lebenskräfte zum Ziel habe. Mit dem Wort »Lebenskräfte« – oder einfach: »das Leben«, ein denkbar vager Terminus – benennt Nietzsche häufig Instinkte, also Regungen, die körperlich, nicht geistig und wohl auch nicht durch den Willen bestimmt sind. Je länger der Philosoph die Instinkte fixierte, desto höher drehte sich die Spirale der Reflexion und des Willens, während der Abstand von dem, was der Körper möglicherweise brauchte, immer größer wurde. Schon Kleist hatte die Wiedererlangung von Naivität durch ein immerzu gesteigertes Bewußtsein angedacht: das berühmte Marionettentheatertheorem. Wie man eine unendliche Wegstrecke zurücklegt, hat freilich auch Nietzsche nicht zu zeigen vermocht. Im Gegenteil, seine neuen Schöpfungen blieben aus, sie wurden immer nur angekündigt und umschrieben. Die Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit hat sich in die Form und Dynamik seines Werks eingeschrieben. Liest man den Marionettentheateraufsatz genau, Wort für Wort, kommt man zu dem Schluß, daß Kleist an die Erfüllbarkeit des von ihm formulierten Programms nicht glaubte. Es muß – im strengen Wortsinn – ein Ideal bleiben, ein unerreichbarer Stern, der vor uns, den Denkenden, herzieht und uns möglicherweise leiten kann, zu einem unbekannten Ort. Der Denkende in seiner Wirklichkeit ist kein »Gliedermann«, kein geistloses Wesen, doch er ist auch kein Gott. Menschliches Sinnen und Trachten wird sich wohl oder übel zwischen diesen beiden Figuren abspielen müssen. Oder kann man durch einen Willensentschluß zum Gott werden?
Diese Möglichkeit scheint Nietzsche trotz allem vorgeschwebt zu sein, besonders während der Niederschrift der Zarathustra-Stücke. Andererseits schreckte er vor jeder positiven Stiftung zurück, als handelte es sich um eine Versuchung, die nur mit einer Katastrophe enden konnte. Aus dieser Spannung zwischen Antizipation und Zurücknahme bezieht das »Buch für Alle und Keinen« seine eigentümliche Intensität. Zarathustra versteht sich als Lehrer, doch er hat keine Schüler, und wenn sich einmal welche zeigen, weist er sie früher oder später ab. Er will sich an alle wenden, weil sein Werk als allumfassendes gedacht ist, aber in Wahrheit isoliert er sich mehr und mehr. Natürlich ist das Buch eine Art von Fiktion, ein Produkt des Phantasierens, doch die Bezüge zu Nietzsches persönlicher Lebensproblematik liegen auf der Hand, und sie lassen sich an vielen Einzelstellen nachprüfen. Jedenfalls kann und muß man feststellen: Naiv ist weder Zarathustra noch sein Erfinder. Nietzsche selbst ist der Inbegriff des Bildungsbürgers, aufgewachsen wie so viele deutsche Intellektuelle vor ihm in einem protestantischen Pfarrershaus, jahrelang von Lehrern erzogen, noch als Erwachsener sich an Lehrer klammernd – Schopenhauer, Wagner – und eine Zeitlang dann selbst Professor, wenngleich fast ohne Schüler.
2
Die Biographie Jean Genets, der ein Jahrzehnt nach Nietzsches Tod geboren wurde, ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von der des Philosophen (obwohl es auch Parallelen gibt, vor allem das Nomadentum der beiden). Wenn auf einen Autor das oft so leichtfertig gebrauchte Wort »Autodidakt« zutrifft, dann auf Genet. Seine Schulbildung endete im 14. Lebensjahr, und was seine Bücher an Bildung verraten – gar nicht so wenig, nebenbei bemerkt –, das hat er sich selbst angeeignet, meist in der Erziehungsanstalt, im Gefängis und mit Hilfe von zweifelhaftem Lernmaterial. Seine Erzählliteratur, behauptet Genet mehrfach, fuße auf billigen Abenteuerromanen. Briefe zeigen, daß sein Französisch nicht einwandfrei war, wenn es darum ging, Gebrauchstexte zu verfassen. Das hinderte ihn nicht daran, einen preziösen literarischen Stil zu entwickeln; ja, man kann sogar vermuten, daß die mangelhafte Beherrschung der Normalsprache der Entfaltung einer literarischen »Fremdsprache« förderlich war. Alle Bestimmungen, die Nietzsche für jenes »wunderliche Ideal« gegeben hatte, treffen auf Genet zu: Naivität, überströmende Fülle, Spiel mit dem Heiligen, mit überlieferten ethischen Werten, mit dem Göttlichen; Umkehrung dieser Werte, Erhebung von Verbrechern, besonders von Mördern, in den Rang von Göttern, all dies auf direkte, unumwundene Weise, nicht in dem elliptischen Stil, der Nietzsches Zarathustra kennzeichnet. Sartre legt schon mit dem Titel seines Genet-Buchs, 1952 als erster (!) Band von Genets Werken erschienen und bei weitem die umfangreichste Schrift der zunächst vierbändigen Ausgabe, den Akzent auf Genets »Heiligkeit«. Dieses Buch – Monographie, Biographie oder Anwendungsübung Sartrescher Existentialdialektik – nährt sich von zahlreichen Gesprächen, die Sartre im Nachkriegsparis mit Genet führte, und natürlich von der Lektüre seiner Werke, die getränkt sind von religiösem Vokabular und religiöser Bildlichkeit. Schon ein Titel wie Das Wunder der Rose verweist auf katholische Reminiszenzen, ebenso die frei erfundenen Namen der Schwulen und Zuhälter, der Verbrecher und Transvestiten: Notre-Dame-des-Fleurs, Première Communion (»Erstkommunion«), Divine (»Die Göttliche«). Auf den Namen Vase de Sainte-Marie tauft Genet einen Gerichtspräsidenten, was in diesem Fall einen parodistischen Effekt zur Folge hat. »Zwischen diesen Namen«, schreibt Genet in Notre-Dame des Fleurs, »besteht eine Verwandtschaft, ein Duft von Weihrauch und schmelzenden Kerzen, und ich habe manchmal den Eindruck, ich hätte sie aufgelesen unter künstlichen oder natürlichen Blumen, im Monat Mai, in der Kapelle der Jungfrau Maria, unter und neben jener Statue aus gierigem Gips, in die Alberto« – eine Zentralfigur in der Kindheit des Erzählers – »verliebt war und hinter der ich als Kind die Phiole mit meinem Samen verbarg.« (NDF 277) Vokabular aus dem katholischen Erfahrungsbereich findet man fast auf jeder Seite dieses Romans; seine moralisch herausfordernde, Werte erschütternde Kraft lauert aber vor allem in der Geste des oft hyperbolischen Rühmens und Preisens, die der von Genet in seiner Kindheit vernommenen Sprache der Gebete und Litaneien nachempfunden ist, nur daß ihr Gegenstand nicht Gott und die Jungfrau Maria sind, sondern die vorhin erwähnten Zuhälter, Transvestiten und Mörder, besonders deren körperliche Eigenschaften wie Kraft, Schönheit und männliche Potenz. Diese Figuren sind gewalttätig und oft auch sentimental. Die von Genet für die Buchausgaben gestrichenen Passagen enthalten Angaben zu ihren Penissen, die erwartungsgemäß von gewaltigen Ausmaßen sind. Denkt man an Nietzsche, kommt einem Dionysos in den Sinn, der Gott mit dem Thyrsosstab, dessen Machtzeichen bereits ins Phallisch-Symbolische entrückt ist, während Genet sehr konkrete Angaben macht – fast wie in einem polizeilichen Steckbrief. Aber Genets Götter sind eben Verbrecher mit realen Biographien. Nietzsche beruft sich noch in seinem Spätwerk, wenn von der Umwertung der Werte die Rede ist, gern auf Dionysos. Der Gott des Rauschs und der Instinkte bleibt für ihn eine der Masken seines Ideal-Ichs, dem er vergeblich nachstrebte.
3
Ein gutes Beispiel, vor dem sich das Werk des naiven Spielers Genet aufs deutlichste abhebt, ist das »Tanzlied« im zweiten Teil von Also sprach Zarathustra. Diese Erzählung ist die mythologische, fast möchte man sagen: anakreontische Verbrämung eines Begehrens, das auch innerhalb der Fiktion auf eine zweite Figur abgeladen wird, den »kleinen Gott« Cupido, neben dem Zarathustra als der große, aber letztlich ungreifbare, körperlose Gott erscheint: ein immer nur »kommender«, zukünftiger, versprochener, noch nicht eingelöster Gott. Der Blick Zarathustras auf das diminutiv erotische Treiben ist der eines Voyeurs, der durch Zuschauen im Verborgenen auf seine Kosten kommt. Er gleicht dem hinter dem Spiegel hervorspähenden Alten auf Tintorettos Gemälde Susanna im Bade, wo sich die nackte Schöne unbekümmert im Spiegel bewundert. Im Tanzlied schaut Zarathustra »dem Leben« in die Augen. Das Leben wird allegorisch vorgestellt, in weiblicher Gestalt, verkörpert durch eines der tanzenden Mädchen. Die Sprecherin beschwert sich über die Männer, die sie immer nur mit Tugenden beschenken. Was sie wünscht, ist offenbar etwas anderes; es ist das, was Cupido ihr geben kann. Nichts deutet darauf hin, daß Zarathustra selbst sich dazu aufrafft; er bleibt der reflektierende Beobachter, der Voyeur, der Wollende, der allem Anschein nach nicht kann. »Du willst, du begehrst, du liebst, darum allein lobst du das Leben!« (Za 140) ruft das Mädchen, und seine Worte sind »zornig«. Was Nietzsche hier darstellt, ist das Begehren als wesentlicher Mangel: ein Begehren, das keine Erfüllung kennt und keine Erfüllung zu schenken imstande ist; ein unfruchtbares Begehren. Zarathustra antwortet dem Mädchen nicht, weder durch Worte noch durch eine Handlung. Wie so oft, flüchtet er sich ins Rätselhafte: Er liebe das Leben (= das Mädchen) am meisten dann, wenn er es hasse. Wie soll man den Haß in dieser Szene, die an Nietzsches Beziehung zu Lou Andreas-Salomé denken läßt, verstehen? Vielleicht als Ressentiment des Zukurzgekommenen... Über diesen Typus hat sich Nietzsche als »kritischer Psycholog« immer wieder verächtlich geäußert. Rhetorisches Liebeslob wäre in solcher Betrachtung das einzig verfügbare Heilmittel gegen die Krankheit der Lieblosigkeit. Ob es wirkt, steht auf einem anderen Blatt.
Während die Mädchen tanzen, »singt« Zarathustra, aber eigentlich redet er nur. Tanzen ist ihm scheinbar nur mit Worten möglich. Als die Mädchen zu tanzen aufhören und fortgehen, wird Zarathustra traurig. Warum bleibt er traurig zurück? Eine Antwort wird, wie so oft, allenfalls angedeutet. Zarathustra hätte tanzen können, er hätte die Rolle Cupidos übernehmen und ein wirklicher, tatkräftiger, wenn auch kleiner Gott werden können, doch er war wieder einmal nicht dazu imstande. »Abend ward es: vergebt mir, dass es Abend ward!« (Za 141) Aber ist das seine Schuld? Was ihm die Mädchen zu vergeben haben, ist nicht, daß es Abend geworden ist, sondern daß er den Tag nicht genutzt hat. Carpe diem, diese Maxime, die recht gut in Nietzsches Programm einer Umwertung aller Werte passen würde, ist wieder einmal Lippenbekenntnis geblieben. Vergiß die Vergangenheit, kümmere dich nicht um die Zukunft... Gehorche deinen Instinkten, deinen Wünschen, deinen Bedürfnissen. Wie schwer das scheinbar so Leichte zu verwirklichen ist!
Genet ist der kommende kleine Gott, er ist der Tänzer, der Nietzsche nicht sein konnte. Nicht nur in der Fiktion, nicht nur im Ideal-Ich und in den Alter Egos, sondern auch in der Wirklichkeit. Und im Film, der ja bekanntlich die Wirklichkeit als Stoff für seine Zeichen verwendet (das Kino ist, mit den Worten Pasolinis, die »natürliche Semiologie der Wirklichkeit«). Der einzige Film, den Genet drehte, trägt den Titel Un chant d’amour: ein kleines, mit geringen Mitteln hergestelltes Werk, das man als Tanzfilm betrachten kann. Der Film verzichtet auf Worte und Töne; die betörende, rhythmisch akzentuierte Musik von Gavin Bryars wurde erst 1974 hinzugefügt. Einer der drei Hauptdarsteller ist Lucien Sénémaud, Genets Geliebter in der Nachkriegszeit, ein kleiner Gauner, der sich eine bürgerliche Existenz schaffen wollte und die herrschende Moral anerkannte, was Genet in einen Zwiespalt brachte, denn bisher hatte er stets die »eisig lächelnden Monster« angebetet. (TD 259) Kunst und Leben überschneiden und vermischen sich bei Genet auf vielfältige Weise, ohne daß er als Autor es jemals darauf angelegt hätte. Wir wohnen, wenn wir uns der Biographie und den Werken Genets widmen, dem Spiel einer durchaus naiven, lebhaften, konfliktreichen Beziehung zwischen Kunst und Leben bei. Reflexion ist aus dieser Kunst nicht ausgeschlossen, sie stellt jedoch kein Problem, kein Hindernis und in der Folge auch kein Thema dar.
4
Un chant d’amour spielt in einem Gefängnis, der Film bietet sämtliche Motive auf, um die sich Genets Romane entspinnen. Er wirkt wie ein Konzentrat der literarischen Arbeit des Autors, die sich im wesentlichen auf den kurzen Zeitraum von fünf Jahren beschränkt, von der Abfassung von Notre-Dame-des-Fleurs bis zu Tagebuch des Diebes. Der Tanzfilm setzt einen Schlußpunkt, indem er die barocke, ausschweifende, eher choreographische als architektonische Struktur des Erzählwerks kondensiert. Zur Zeit der Vorherrschaft des Existentialismus, als er von Cocteau, Sartre und anderen Berühmtheiten protegiert wurde, rang Genet mit seinen dramatischen Texten und mit Inszenierungen, die seine Werke, wie er meinte, verbürgerlichten. Auf freiem Fuß, ein Liebkind des kulturellen Establishments (so kritisch dieses gegenüber »der Gesellschaft« sein mochte), fand Genet nicht mehr zu dem schöpferischen Elan, den er im Gefängnis oder als Paria in einem Mansardenzimmer fand, um sich als jene Ausnahme behaupten zu können, für die er sich hielt. Lange Zeit waren seine Schriften einer moralisch-politischen Zensur ausgesetzt, in Frankreich genauso wie in Deutschland. Seine Verteidiger legten und legen Wert auf die Feststellung, daß deren Obszönität kein Selbstzweck sei. (NDF 339f., Nachwort) Sie befinden sich im Widerspruch zur Selbsteinschätzung des Autors, der seine Bücher als pornographische bezeichnete. (TD 155) Es ist nur konsequent, daß im Mittelpunkt von Un chant d’amour das erigierte Glied Luciens steht, das sowohl der voyeuristische Gefängniswärter als auch Luciens Zellennachbar begehren. Warum sollte die körperliche, sexuelle Befriedigung kein Selbstzweck sein? Ein Selbstzweck wie die Kunst, und das Kunstwerk ein Ort für die Verbrüderung der freien Zwecke, der Zweckfreiheiten, als da sind: Schönheit (abstrahierend in männlichen Körperformen dargestellt), sexueller Genuß und Provokationslust, wobei letztere den Widerstand des anständigen Bürgers und seiner Institutionen braucht, um sich verwirklichen zu können.
Eine lange Szene von Un chant d’amour zeigt eine Freiheitsphantasie, die der Gefangene just im Augenblick höchster Bedrängnis hat, als er von einem Wärter, dessen Begierde sich überhaupt nicht von seiner eigenen unterscheidet, mit der Pistole bedroht wird (der Augenblick ballt phallisch-symbolisch die Gewalt des Gefängnisalltags). Die Szene ist eine Fiktion innerhalb der Fiktion und wiederholt das, was Genet selbst tat, als er in seiner Zelle Blatt um Blatt mit seinen Phantasien füllte. Genets Prosa will, nicht anders als die Lyrik Rilkes, dezidiert rühmen, der Schreibakt vollzieht aber auch eine immer aufs neue ansetzende Flucht in eine schöne, andere, kraftvoll männliche Welt, in der freilich Strukturen herrschen, die auch die Gefängniswelt kennzeichnen: Autorität, Hierarchie, Gewalt... Um es ganz unmißverständlich zu sagen: Liest man die Urfassung der Romane, wird deutlich, daß es sich zunächst um das handelt, was der pubertäre Jargon als »Wichsvorlagen« bezeichnet. Ausgedachte, ausgemalte Bilder von Männern, an denen der Gefängnisinsasse seine sexuellen Gelüste wenigstens ersatzweise befriedigen kann. Einige »echte« Bilder, Photographien, hängen an der Zellenwand (so wird es zumindest in der Fiktion mitgeteilt): Bilder von Mördern, allesamt Charakterköpfe, die der Erzähler bewundert, so wie andere Insassen – im Gefängnis oder in der Welt – Pin-up-Girls bewundern und als Wichsvorlagen verwenden. Man weiß es nicht mit Sicherheit, aber wahrscheinlich hat der Autor selbst die literarischen Wichsvorlagen vor ihrer Veröffentlichung gesäubert und sich in den meisten Fällen mit Andeutungen des Obszönen begnügt. Im Grunde genommen ändern diese Leerstellen nichts an der Funktionsweise des Textes. Die Phantasie des Lesers enthält breiteren Raum, sie wird aber keineswegs auf andere – nicht-sexuelle – Dinge gelenkt. Möglicherweise besteht die gesteigerte Kunst darin, diese Phantasietätigkeit zu stimulieren, statt den Leser mit abgebildeten oder vorgezeichneten Stimulantien zu versehen.
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Notre-Dame-des-Fleurs, Genets erster Roman, ist ein unausgegorenes Werk. In diesem Sinn äußerte sich der Verfasser selbst 1943 in einem Brief an Jean Cocteau: »Ich versichere dir, daß es mich nicht gerade begeistert. Pathos, kindische Sentimentalität, schlechte Architektur und zu guter Letzt ein unerträglicher, aufgeblasener, schriller Ton. Es müßte überarbeitet werden. Ich habe es zu schnell geschrieben.« (White 219) Zweifellos ließ sich Genet beim Schreiben von seinen Phantasien fortreißen, doch genau dieses mehr oder minder planlose Hin und Her zwischen Kindheitserinnerungen und Schwulengeschichten hat einen besonderen Reiz. Wie schon angedeutet, ließe sich die Form der Erzählbewegung als Choreographie beschreiben, in der Kreise, Schleifen und Tangenten gezogen werden, wobei sich die Bewegung abrupt beschleunigen oder verlangsamen kann. Im Begehren eines Körpers, einer Atmosphäre, einer Erinnerung liegt der Antrieb eines Erzählens, das von einer ausgeklügelten Romanarchitektur nur behindert werden könnte. Anstelle von Konstruktion oder Reflexion ließ Genet den Instinkt walten. Er tat also genau das, was Nietzsche vom naiven Spieler erwartete und möglicherweise für sein eigenes Werk ersehnte; ein literarisch-philosophisches Werk, das sich tatsächlich aber in einer sorgfältig numerierten Folge von stark verdichteten Fragmenten herausbildete, von rhetorisch aufgeladenen Satzgebilden, die sich zumeist um einen scharf definierten gedanklichen Kern legen. Wirklich tanzen konnte Nietzsche erst im Wahn. (Vgl. Safranski 322) Die erste, exaltierte Phase seines Wahns könnte man als Einlösung dessen interpretieren, was sein Spätwerk angekündigt hatte. Denken will gelernt sein »wie Tanzen«, betonte Nietzsche, es bedürfe »einer Technik, eines Lehrplans, eines Willens zur Meisterschaft«. (Za 109) Lucien und der Schwarze tanzen in Genets Chant d’amour »einfach so«, spontan, ohne Technik und Plan; trotzdem vermittelt ihr Tanz eine starke Intensität (was natürlich kein Argument gegen das Lernen ist). Genet hat seine Bücher »einfach so« geschrieben, aus einem drängenden Bedürfnis heraus, das Leute wie Sartre nicht empfinden konnten – und auch Genet selbst nicht, nachdem er die Paria-Welt verlassen hatte und zu dem gelangt war, worauf er es doch auch abgesehen hatte: Ruhm.
In seinem letzten Roman, Tagebuch des Diebes, behauptet Genet: »Was ich mir für den Rest meines Lebens wünsche, ist das Gegenteil von Ruhm.« (TD 284) Das klingt so, als hätte er mit einem wichtigen Lebensabschnitt abgeschlossen, und in der Tat, der Lauf der Dinge bestätigt diese Sicht. Derselbe Satz scheint aber zu implizieren, daß es Genet vorher durchaus um Ruhm zu tun war. Seine Romane haben ihm genug davon eingebracht, und jetzt ist Schluß, der autodidaktische Autor hat die Orientierung verloren. Künftig wird er sich damit abmühen, neue Lebensziele für seine Nomadenexistenz zu finden. Wenige Seiten nach dem zitierten Satz heißt es in scheinbarem Widerspruch zu diesem, das Bagno – also die Strafkolonie – biete ihm »mehr Freuden als Eure Ehren und Eure Feste. Und doch sind sie es, die ich suchen werde. Ich giere nach Eurer Anerkennung, nach meiner Salbung.« (TD 297) Genet will zum Zeitpunkt seines Erfolgs auf zwei Hochzeiten tanzen und weiß, daß ihn dieses Bestreben zerreißen wird. Die eine Hochzeit ist die der Amoral, die sich bei näherer Betrachtung als umgekehrte Moral erweist und nicht weniger rigide ist als die in der Gesellschaft faktisch herrschende. Die andere Hochzeit ist die der bürgerlichen Moral und der Hochkultur, die an die Moral gebunden bleibt, auch wenn sie diese kritisiert. Das Paradox bekundet sich am deutlichsten in der Anrede an »uns«, die gebildeten Leser, denn die Angehörigen der Knast- und Gaunerwelt, des Stricher- und Bettlermilieus kommen, wie der Autor weiß, als Publikum nicht in Betracht. Genet hat, obwohl nichts ihn dazu prädestinierte, Zutritt zu dieser Kultur gefunden, doch er kann als Autor nur bestehen, wenn er sich nicht an sie anpaßt und sie immer aufs neue provoziert. Dies ist der Sinn der scheinbar nur absurden, ein ums andere Mal wiederholten Geste, seine Förderer zu bestehlen oder sonstwie zu schädigen. Der Hund beißt die Hand, die ihn füttert: Variante des in Genets Schriften als Kardinaltugend gepriesenen Verrats.
© Leopold Federmair
Teil II
Die Kommentarmöglichkeit besteht im dritten und letzten Teil des Essays. (G. K.)