Fi­gu­ren der Um­wer­tung: Nietz­sche und Ge­net (I)

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»Ein and­res Ide­al läuft vor uns her, ein wun­der­li­ches, ver­su­che­ri­sches, ge­fah­ren­rei­ches Ide­al, zu dem wir Nie­man­den über­re­den möch­ten, weil wir Nie­man­dem so leicht das Recht dar­auf zu­ge­stehn: das Ide­al ei­nes Gei­stes, der na­iv, das heisst un­ge­wollt und aus über­strömender Fül­le und Mäch­tig­keit mit Al­lem spielt, was bis­her hei­lig, gut, unberühr­bar, gött­lich hiess...« (FW 636f.) So schreibt Nietz­sche ge­gen En­de sei­ner Fröh­li­chen Wissen­schaft, und man darf sich fra­gen, wem er die­ses Recht zu­ge­stan­den hät­te au­ßer sich selbst oder, bes­ser ge­sagt, sei­nen Ide­al­fi­gu­ren, die­sen hö­he­ren Men­schen, die er mal zu Über‑, mal zu Un­men­schen sti­li­siert.

Aber was hat es ei­gent­lich mit der Nai­vi­tät auf sich, der er­sten Ei­gen­schaft des angekün­digten We­sens? In sei­nem Spät­werk ver­zet­telt sich Nietz­sche re­gel­recht im Wil­len zu al­lem mög­li­chen und faßt die di­ver­sen Stre­bun­gen un­ter dem Schlag­wort ei­nes Wil­lens zur Macht zu­sam­men, der ei­ne Stei­ge­rung al­ler Le­bens­kräf­te zum Ziel ha­be. Mit dem Wort »Le­bens­kräf­te« – oder ein­fach: »das Le­ben«, ein denk­bar va­ger Ter­mi­nus – be­nennt Nietz­sche häu­fig In­stink­te, al­so Re­gun­gen, die kör­per­lich, nicht gei­stig und wohl auch nicht durch den Wil­len be­stimmt sind. Je län­ger der Phi­lo­soph die In­stink­te fi­xier­te, de­sto hö­her dreh­te sich die Spi­ra­le der Re­fle­xi­on und des Wil­lens, wäh­rend der Ab­stand von dem, was der Kör­per mög­li­cher­wei­se brauch­te, im­mer grö­ßer wur­de. Schon Kleist hat­te die Wieder­erlangung von Nai­vi­tät durch ein im­mer­zu ge­stei­ger­tes Be­wußt­sein an­ge­dacht: das be­rühm­te Ma­rio­net­ten­thea­ter­theo­rem. Wie man ei­ne un­end­li­che Weg­strecke zu­rück­legt, hat frei­lich auch Nietz­sche nicht zu zei­gen ver­mocht. Im Ge­gen­teil, sei­ne neu­en Schöp­fungen blie­ben aus, sie wur­den im­mer nur an­ge­kün­digt und um­schrie­ben. Die Unab­geschlossenheit und Un­ab­schließ­bar­keit hat sich in die Form und Dy­na­mik sei­nes Werks ein­ge­schrie­ben. Liest man den Ma­rio­net­ten­thea­ter­auf­satz ge­nau, Wort für Wort, kommt man zu dem Schluß, daß Kleist an die Er­füll­bar­keit des von ihm for­mu­lier­ten Pro­gramms nicht glaub­te. Es muß – im stren­gen Wort­sinn – ein Ide­al blei­ben, ein unerreich­barer Stern, der vor uns, den Den­ken­den, her­zieht und uns mög­li­cher­wei­se lei­ten kann, zu ei­nem un­be­kann­ten Ort. Der Den­ken­de in sei­ner Wirk­lich­keit ist kein »Glieder­mann«, kein geist­lo­ses We­sen, doch er ist auch kein Gott. Mensch­li­ches Sin­nen und Trach­ten wird sich wohl oder übel zwi­schen die­sen bei­den Fi­gu­ren ab­spie­len müs­sen. Oder kann man durch ei­nen Wil­lens­ent­schluß zum Gott wer­den?

Die­se Mög­lich­keit scheint Nietz­sche trotz al­lem vor­ge­schwebt zu sein, be­son­ders wäh­rend der Nie­der­schrift der Za­ra­thu­stra-Stücke. An­de­rer­seits schreck­te er vor je­der po­si­ti­ven Stif­tung zu­rück, als han­del­te es sich um ei­ne Ver­su­chung, die nur mit ei­ner Ka­ta­stro­phe en­den konn­te. Aus die­ser Span­nung zwi­schen An­ti­zi­pa­ti­on und Zu­rück­nah­me be­zieht das »Buch für Al­le und Kei­nen« sei­ne ei­gen­tüm­li­che In­ten­si­tät. Za­ra­thu­stra ver­steht sich als Leh­rer, doch er hat kei­ne Schü­ler, und wenn sich ein­mal wel­che zei­gen, weist er sie frü­her oder spä­ter ab. Er will sich an al­le wen­den, weil sein Werk als all­um­fas­sen­des ge­dacht ist, aber in Wahr­heit iso­liert er sich mehr und mehr. Na­tür­lich ist das Buch ei­ne Art von Fik­tion, ein Pro­dukt des Phan­ta­sie­rens, doch die Be­zü­ge zu Nietz­sches per­sön­li­cher Lebens­problematik lie­gen auf der Hand, und sie las­sen sich an vie­len Ein­zel­stel­len nach­prüfen. Je­den­falls kann und muß man fest­stel­len: Na­iv ist we­der Za­ra­thu­stra noch sein Er­fin­der. Nietz­sche selbst ist der In­be­griff des Bil­dungs­bür­gers, auf­ge­wach­sen wie so vie­le deut­sche In­tel­lek­tu­el­le vor ihm in ei­nem pro­te­stan­ti­schen Pfar­rers­haus, jah­re­lang von Leh­rern er­zo­gen, noch als Er­wach­se­ner sich an Leh­rer klam­mernd – Scho­pen­hau­er, Wag­ner – und ei­ne Zeit­lang dann selbst Pro­fes­sor, wenn­gleich fast oh­ne Schü­ler.

2

Die Bio­gra­phie Jean Ge­nets, der ein Jahr­zehnt nach Nietz­sches Tod ge­bo­ren wur­de, ist in vie­ler­lei Hin­sicht das Ge­gen­teil von der des Phi­lo­so­phen (ob­wohl es auch Par­al­le­len gibt, vor al­lem das No­ma­den­tum der bei­den). Wenn auf ei­nen Au­tor das oft so leicht­fer­tig ge­brauch­te Wort »Au­to­di­dakt« zu­trifft, dann auf Ge­net. Sei­ne Schul­bil­dung en­de­te im 14. Le­bens­jahr, und was sei­ne Bü­cher an Bil­dung ver­ra­ten – gar nicht so we­nig, ne­ben­bei be­merkt –, das hat er sich selbst an­ge­eig­net, meist in der Er­zie­hungs­an­stalt, im Ge­fän­gis und mit Hil­fe von zwei­fel­haf­tem Lern­ma­te­ri­al. Sei­ne Er­zähl­li­te­ra­tur, be­haup­tet Ge­net mehr­fach, fu­ße auf bil­li­gen Aben­teu­er­ro­ma­nen. Brie­fe zei­gen, daß sein Fran­zö­sisch nicht ein­wand­frei war, wenn es dar­um ging, Ge­brauchs­tex­te zu ver­fas­sen. Das hin­der­te ihn nicht dar­an, ei­nen pre­ziö­sen li­te­ra­ri­schen Stil zu ent­wickeln; ja, man kann so­gar ver­mu­ten, daß die man­gel­haf­te Be­herr­schung der Nor­mal­spra­che der Ent­fal­tung ei­ner li­te­ra­ri­schen »Fremd­spra­che« för­der­lich war. Al­le Be­stim­mun­gen, die Nietz­sche für je­nes »wun­der­li­che Ide­al« ge­ge­ben hat­te, tref­fen auf Ge­net zu: Nai­vi­tät, über­strö­men­de Fül­le, Spiel mit dem Hei­li­gen, mit über­lie­fer­ten ethi­schen Wer­ten, mit dem Gött­li­chen; Um­keh­rung die­ser Wer­te, Er­he­bung von Ver­bre­chern, be­son­ders von Mör­dern, in den Rang von Göt­tern, all dies auf di­rek­te, un­um­wun­de­ne Wei­se, nicht in dem el­lip­ti­schen Stil, der Nietz­sches Za­ra­thu­stra kenn­zeich­net. Sart­re legt schon mit dem Ti­tel sei­nes Ge­net-Buchs, 1952 als er­ster (!) Band von Ge­nets Wer­ken er­schie­nen und bei wei­tem die um­fang­reich­ste Schrift der zu­nächst vier­bän­di­gen Aus­ga­be, den Ak­zent auf Ge­nets »Hei­lig­keit«. Die­ses Buch – Mo­no­gra­phie, Bio­gra­phie oder An­wen­dungs­übung Sar­tre­scher Exi­sten­ti­al­dia­lek­tik – nährt sich von zahl­rei­chen Ge­sprä­chen, die Sart­re im Nach­kriegs­pa­ris mit Ge­net führ­te, und na­tür­lich von der Lek­tü­re sei­ner Wer­ke, die ge­tränkt sind von re­li­giö­sem Vo­ka­bu­lar und re­li­giö­ser Bild­lich­keit. Schon ein Ti­tel wie Das Wun­der der Ro­se ver­weist auf ka­tho­li­sche Re­mi­nis­zen­zen, eben­so die frei er­fun­de­nen Na­men der Schwu­len und Zu­häl­ter, der Ver­brecher und Trans­ve­sti­ten: Not­re-Da­me-des-Fleurs, Pre­miè­re Com­mu­ni­on (»Erst­kommunion«), Di­vi­ne (»Die Gött­li­che«). Auf den Na­men Va­se de Sain­te-Ma­rie tauft Ge­net ei­nen Ge­richts­prä­si­den­ten, was in die­sem Fall ei­nen par­odi­sti­schen Ef­fekt zur Fol­ge hat. »Zwi­schen die­sen Na­men«, schreibt Ge­net in Not­re-Da­me des Fleurs, »be­steht ei­ne Ver­wandtschaft, ein Duft von Weih­rauch und schmel­zen­den Ker­zen, und ich ha­be manch­mal den Ein­druck, ich hät­te sie auf­ge­le­sen un­ter künst­li­chen oder na­tür­li­chen Blu­men, im Mo­nat Mai, in der Ka­pel­le der Jung­frau Ma­ria, un­ter und ne­ben je­ner Sta­tue aus gie­ri­gem Gips, in die Al­ber­to« – ei­ne Zen­tral­fi­gur in der Kind­heit des Er­zäh­lers – »ver­liebt war und hin­ter der ich als Kind die Phio­le mit mei­nem Sa­men ver­barg.« (NDF 277) Vo­ka­bu­lar aus dem ka­tho­li­schen Er­fah­rungs­be­reich fin­det man fast auf je­der Sei­te die­ses Ro­mans; sei­ne mo­ra­lisch her­aus­for­dern­de, Wer­te er­schüt­tern­de Kraft lau­ert aber vor al­lem in der Ge­ste des oft hy­per­bo­li­schen Rüh­mens und Prei­sens, die der von Ge­net in sei­ner Kind­heit ver­nommenen Spra­che der Ge­be­te und Li­ta­nei­en nach­emp­fun­den ist, nur daß ihr Gegen­stand nicht Gott und die Jung­frau Ma­ria sind, son­dern die vor­hin er­wähn­ten Zu­hälter, Trans­vestiten und Mör­der, be­son­ders de­ren kör­per­li­che Ei­gen­schaf­ten wie Kraft, Schön­heit und männ­li­che Po­tenz. Die­se Fi­gu­ren sind ge­walt­tä­tig und oft auch sen­ti­men­tal. Die von Ge­net für die Buch­aus­ga­ben ge­stri­che­nen Pas­sa­gen ent­hal­ten An­gaben zu ih­ren Pe­nis­sen, die er­war­tungs­ge­mäß von ge­wal­ti­gen Aus­ma­ßen sind. Denkt man an Nietz­sche, kommt ei­nem Dio­ny­sos in den Sinn, der Gott mit dem Thyr­so­s­stab, des­sen Macht­zei­chen be­reits ins Phal­lisch-Sym­bo­li­sche ent­rückt ist, wäh­rend Ge­net sehr kon­krete An­ga­ben macht – fast wie in ei­nem po­li­zei­li­chen Steck­brief. Aber Ge­nets Göt­ter sind eben Ver­bre­cher mit rea­len Bio­gra­phien. Nietz­sche be­ruft sich noch in sei­nem Spät­werk, wenn von der Um­wer­tung der Wer­te die Re­de ist, gern auf Dio­ny­sos. Der Gott des Rauschs und der In­stink­te bleibt für ihn ei­ne der Mas­ken sei­nes Ide­al-Ichs, dem er ver­geb­lich nach­streb­te.

3

Ein gu­tes Bei­spiel, vor dem sich das Werk des nai­ven Spie­lers Ge­net aufs deut­lich­ste ab­hebt, ist das »Tanz­lied« im zwei­ten Teil von Al­so sprach Za­ra­thu­stra. Die­se Er­zäh­lung ist die my­tho­lo­gi­sche, fast möch­te man sa­gen: ana­kre­on­ti­sche Ver­brä­mung ei­nes Be­gehrens, das auch in­ner­halb der Fik­ti­on auf ei­ne zwei­te Fi­gur ab­ge­la­den wird, den »klei­nen Gott« Cu­pi­do, ne­ben dem Za­ra­thu­stra als der gro­ße, aber letzt­lich un­greif­ba­re, kör­per­lo­se Gott er­scheint: ein im­mer nur »kom­men­der«, zu­künf­ti­ger, ver­spro­che­ner, noch nicht einge­löster Gott. Der Blick Za­ra­thu­stras auf das di­mi­nu­tiv ero­ti­sche Trei­ben ist der ei­nes Voy­eurs, der durch Zu­schau­en im Ver­bor­ge­nen auf sei­ne Ko­sten kommt. Er gleicht dem hin­ter dem Spie­gel her­vor­spä­hen­den Al­ten auf Tin­to­ret­tos Ge­mäl­de Su­san­na im Ba­de, wo sich die nack­te Schö­ne un­be­küm­mert im Spie­gel be­wun­dert. Im Tanz­lied schaut Za­rathustra »dem Le­ben« in die Au­gen. Das Le­ben wird al­le­go­risch vor­ge­stellt, in weib­licher Ge­stalt, ver­kör­pert durch ei­nes der tan­zen­den Mäd­chen. Die Spre­che­rin be­schwert sich über die Män­ner, die sie im­mer nur mit Tu­gen­den be­schen­ken. Was sie wünscht, ist of­fen­bar et­was an­de­res; es ist das, was Cu­pi­do ihr ge­ben kann. Nichts deu­tet dar­auf hin, daß Za­ra­thu­stra selbst sich da­zu auf­rafft; er bleibt der re­flek­tie­ren­de Be­ob­ach­ter, der Voy­eur, der Wol­len­de, der al­lem An­schein nach nicht kann. »Du willst, du be­gehrst, du liebst, dar­um al­lein lobst du das Le­ben!« (Za 140) ruft das Mäd­chen, und sei­ne Wor­te sind »zor­nig«. Was Nietz­sche hier dar­stellt, ist das Be­geh­ren als we­sent­li­cher Man­gel: ein Be­geh­ren, das kei­ne Er­fül­lung kennt und kei­ne Er­fül­lung zu schen­ken im­stan­de ist; ein un­frucht­ba­res Be­geh­ren. Za­ra­thu­stra ant­wor­tet dem Mäd­chen nicht, we­der durch Wor­te noch durch ei­ne Hand­lung. Wie so oft, flüch­tet er sich ins Rät­sel­haf­te: Er lie­be das Le­ben (= das Mäd­chen) am mei­sten dann, wenn er es has­se. Wie soll man den Haß in die­ser Sze­ne, die an Nietz­sches Be­zie­hung zu Lou An­dre­as-Sa­lo­mé den­ken läßt, ver­ste­hen? Viel­leicht als Res­sen­ti­ment des Zu­kurz­ge­kom­me­nen... Über die­sen Ty­pus hat sich Nietz­sche als »kri­ti­scher Psy­cho­log« im­mer wie­der ver­ächt­lich ge­äu­ßert. Rhe­to­ri­sches Lie­bes­lob wä­re in sol­cher Be­trach­tung das ein­zig ver­füg­ba­re Heil­mit­tel ge­gen die Krank­heit der Lieb­lo­sig­keit. Ob es wirkt, steht auf ei­nem an­de­ren Blatt.

Wäh­rend die Mäd­chen tan­zen, »singt« Za­ra­thu­stra, aber ei­gent­lich re­det er nur. Tan­zen ist ihm schein­bar nur mit Wor­ten mög­lich. Als die Mäd­chen zu tan­zen auf­hö­ren und fort­ge­hen, wird Za­ra­thu­stra trau­rig. War­um bleibt er trau­rig zu­rück? Ei­ne Ant­wort wird, wie so oft, al­len­falls an­ge­deu­tet. Za­ra­thu­stra hät­te tan­zen kön­nen, er hät­te die Rol­le Cu­pi­dos über­neh­men und ein wirk­li­cher, tat­kräf­ti­ger, wenn auch klei­ner Gott wer­den kön­nen, doch er war wie­der ein­mal nicht da­zu im­stan­de. »Abend ward es: ver­gebt mir, dass es Abend ward!« (Za 141) Aber ist das sei­ne Schuld? Was ihm die Mäd­chen zu ver­ge­ben ha­ben, ist nicht, daß es Abend ge­wor­den ist, son­dern daß er den Tag nicht ge­nutzt hat. Car­pe diem, die­se Ma­xi­me, die recht gut in Nietz­sches Pro­gramm ei­ner Um­wer­tung al­ler Wer­te pas­sen wür­de, ist wie­der ein­mal Lip­pen­be­kennt­nis ge­blie­ben. Ver­giß die Ver­gan­gen­heit, küm­me­re dich nicht um die Zu­kunft... Ge­hor­che dei­nen In­stink­ten, dei­nen Wün­schen, dei­nen Be­dürf­nis­sen. Wie schwer das schein­bar so Leich­te zu ver­wirk­li­chen ist!

Ge­net ist der kom­men­de klei­ne Gott, er ist der Tän­zer, der Nietz­sche nicht sein konn­te. Nicht nur in der Fik­ti­on, nicht nur im Ide­al-Ich und in den Al­ter Egos, son­dern auch in der Wirk­lich­keit. Und im Film, der ja be­kannt­lich die Wirk­lich­keit als Stoff für sei­ne Zei­chen ver­wen­det (das Ki­no ist, mit den Wor­ten Pa­so­li­nis, die »na­tür­li­che Se­mio­lo­gie der Wirk­lich­keit«). Der ein­zi­ge Film, den Ge­net dreh­te, trägt den Ti­tel Un chant d’amour: ein klei­nes, mit ge­rin­gen Mit­teln her­ge­stell­tes Werk, das man als Tanz­film be­trach­ten kann. Der Film ver­zich­tet auf Wor­te und Tö­ne; die be­tö­ren­de, rhyth­misch ak­zen­tu­ier­te Mu­sik von Ga­vin Bry­ars wur­de erst 1974 hin­zu­ge­fügt. Ei­ner der drei Haupt­dar­stel­ler ist Lu­ci­en Sé­né­maud, Ge­nets Ge­lieb­ter in der Nach­kriegs­zeit, ein klei­ner Gau­ner, der sich ei­ne bür­ger­li­che Exi­stenz schaf­fen woll­te und die herr­schen­de Mo­ral an­er­kann­te, was Ge­net in ei­nen Zwie­spalt brach­te, denn bis­her hat­te er stets die »ei­sig lä­cheln­den Mon­ster« ange­betet. (TD 259) Kunst und Le­ben über­schnei­den und ver­mi­schen sich bei Ge­net auf viel­fältige Wei­se, oh­ne daß er als Au­tor es je­mals dar­auf an­ge­legt hät­te. Wir woh­nen, wenn wir uns der Bio­gra­phie und den Wer­ken Ge­nets wid­men, dem Spiel ei­ner durch­aus nai­ven, leb­haf­ten, kon­flikt­rei­chen Be­zie­hung zwi­schen Kunst und Le­ben bei. Re­fle­xi­on ist aus die­ser Kunst nicht aus­ge­schlos­sen, sie stellt je­doch kein Pro­blem, kein Hin­der­nis und in der Fol­ge auch kein The­ma dar.

4

Un chant d’amour spielt in ei­nem Ge­fäng­nis, der Film bie­tet sämt­li­che Mo­ti­ve auf, um die sich Ge­nets Ro­ma­ne ent­spin­nen. Er wirkt wie ein Kon­zen­trat der li­te­ra­ri­schen Ar­beit des Au­tors, die sich im we­sent­li­chen auf den kur­zen Zeit­raum von fünf Jah­ren be­schränkt, von der Ab­fas­sung von Not­re-Da­me-des-Fleurs bis zu Ta­ge­buch des Die­bes. Der Tanz­film setzt ei­nen Schluß­punkt, in­dem er die ba­rocke, aus­schwei­fen­de, eher cho­reo­gra­phi­sche als ar­chi­tek­to­ni­sche Struk­tur des Er­zähl­werks kon­den­siert. Zur Zeit der Vor­herr­schaft des Exi­sten­tia­lis­mus, als er von Coc­teau, Sart­re und an­de­ren Be­rühmt­hei­ten pro­te­giert wur­de, rang Ge­net mit sei­nen dra­ma­ti­schen Tex­ten und mit In­sze­nie­run­gen, die sei­ne Wer­ke, wie er mein­te, ver­bür­ger­lich­ten. Auf frei­em Fuß, ein Lieb­kind des kul­tu­rel­len Estab­lish­ments (so kri­tisch die­ses ge­gen­über »der Ge­sell­schaft« sein moch­te), fand Ge­net nicht mehr zu dem schöp­fe­ri­schen Elan, den er im Ge­fäng­nis oder als Pa­ria in ei­nem Man­sar­den­zim­mer fand, um sich als je­ne Aus­nah­me be­haup­ten zu kön­nen, für die er sich hielt. Lan­ge Zeit wa­ren sei­ne Schrif­ten ei­ner mo­ra­lisch-po­li­ti­schen Zen­sur aus­ge­setzt, in Frank­reich ge­nau­so wie in Deutsch­land. Sei­ne Ver­tei­di­ger leg­ten und le­gen Wert auf die Fest­stel­lung, daß de­ren Ob­szö­ni­tät kein Selbst­zweck sei. (NDF 339f., Nach­wort) Sie be­fin­den sich im Wi­der­spruch zur Selbst­ein­schät­zung des Au­tors, der sei­ne Bü­cher als por­no­gra­phi­sche be­zeich­ne­te. (TD 155) Es ist nur kon­se­quent, daß im Mit­tel­punkt von Un chant d’amour das eri­gier­te Glied Lu­ci­ens steht, das so­wohl der voy­eu­ri­sti­sche Ge­fäng­nis­wär­ter als auch Lu­ci­ens Zel­len­nach­bar be­geh­ren. War­um soll­te die kör­per­li­che, se­xu­el­le Be­frie­di­gung kein Selbst­zweck sein? Ein Selbst­zweck wie die Kunst, und das Kunst­werk ein Ort für die Ver­brü­de­rung der frei­en Zwecke, der Zweck­frei­hei­ten, als da sind: Schön­heit (abstra­hierend in männ­li­chen Kör­per­for­men dar­ge­stellt), se­xu­el­ler Ge­nuß und Provo­kationslust, wo­bei letz­te­re den Wi­der­stand des an­stän­di­gen Bür­gers und sei­ner Insti­tutionen braucht, um sich ver­wirk­li­chen zu kön­nen.

Ei­ne lan­ge Sze­ne von Un chant d’amour zeigt ei­ne Frei­heits­phan­ta­sie, die der Ge­fan­ge­ne just im Au­gen­blick höch­ster Be­dräng­nis hat, als er von ei­nem Wär­ter, des­sen Be­gier­de sich über­haupt nicht von sei­ner ei­ge­nen un­ter­schei­det, mit der Pi­sto­le be­droht wird (der Au­gen­blick ballt phal­lisch-sym­bo­lisch die Ge­walt des Ge­fäng­nis­all­tags). Die Sze­ne ist ei­ne Fik­ti­on in­ner­halb der Fik­ti­on und wie­der­holt das, was Ge­net selbst tat, als er in sei­ner Zel­le Blatt um Blatt mit sei­nen Phan­ta­sien füll­te. Ge­nets Pro­sa will, nicht an­ders als die Ly­rik Ril­kes, de­zi­diert rüh­men, der Schreib­akt voll­zieht aber auch ei­ne im­mer aufs neue an­setzende Flucht in ei­ne schö­ne, an­de­re, kraft­voll männ­li­che Welt, in der frei­lich Struk­tu­ren herr­schen, die auch die Ge­fäng­nis­welt kenn­zeich­nen: Au­to­ri­tät, Hier­ar­chie, Ge­walt... Um es ganz un­miß­ver­ständ­lich zu sa­gen: Liest man die Ur­fas­sung der Ro­ma­ne, wird deut­lich, daß es sich zu­nächst um das han­delt, was der pu­ber­tä­re Jar­gon als »Wichs­vor­la­gen« be­zeich­net. Aus­ge­dach­te, aus­ge­mal­te Bil­der von Män­nern, an de­nen der Ge­fäng­nis­in­sas­se sei­ne se­xu­el­len Ge­lü­ste we­nig­stens er­satz­wei­se be­frie­di­gen kann. Ei­ni­ge »ech­te« Bil­der, Pho­to­gra­phien, hän­gen an der Zel­len­wand (so wird es zu­min­dest in der Fik­ti­on mit­ge­teilt): Bil­der von Mör­dern, al­le­samt Cha­rak­ter­köp­fe, die der Er­zäh­ler be­wun­dert, so wie an­de­re In­sas­sen – im Ge­fäng­nis oder in der Welt – Pin-up-Girls be­wun­dern und als Wichs­vorlagen ver­wen­den. Man weiß es nicht mit Si­cher­heit, aber wahr­schein­lich hat der Au­tor selbst die li­te­ra­ri­schen Wichs­vor­la­gen vor ih­rer Veröffent­lichung ge­säu­bert und sich in den mei­sten Fäl­len mit An­deu­tun­gen des Ob­szö­nen be­gnügt. Im Grun­de ge­nom­men än­dern die­se Leer­stel­len nichts an der Funk­ti­ons­wei­se des Tex­tes. Die Phan­ta­sie des Le­sers ent­hält brei­te­ren Raum, sie wird aber kei­nes­wegs auf an­de­re – nicht-se­xu­el­le – Din­ge ge­lenkt. Mög­li­cher­wei­se be­steht die ge­stei­ger­te Kunst dar­in, die­se Phan­ta­sie­tä­tig­keit zu sti­mu­lie­ren, statt den Le­ser mit ab­ge­bil­de­ten oder vor­ge­zeich­ne­ten Sti­mu­lan­ti­en zu ver­se­hen.

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Not­re-Da­me-des-Fleurs, Ge­nets er­ster Ro­man, ist ein un­aus­ge­go­re­nes Werk. In die­sem Sinn äu­ßer­te sich der Ver­fas­ser selbst 1943 in ei­nem Brief an Jean Coc­teau: »Ich ver­sichere dir, daß es mich nicht ge­ra­de be­gei­stert. Pa­thos, kin­di­sche Sen­ti­men­ta­li­tät, schlech­te Ar­chi­tek­tur und zu gu­ter Letzt ein un­er­träg­li­cher, auf­ge­bla­se­ner, schril­ler Ton. Es müß­te über­ar­bei­tet wer­den. Ich ha­be es zu schnell ge­schrie­ben.« (White 219) Zwei­fel­los ließ sich Ge­net beim Schrei­ben von sei­nen Phan­ta­sien fort­rei­ßen, doch ge­nau die­ses mehr oder min­der plan­lo­se Hin und Her zwi­schen Kind­heits­er­in­ne­run­gen und Schwulenge­schichten hat ei­nen be­son­de­ren Reiz. Wie schon an­ge­deu­tet, lie­ße sich die Form der Er­zähl­be­we­gung als Cho­reo­gra­phie be­schrei­ben, in der Krei­se, Schlei­fen und Tan­gen­ten ge­zo­gen wer­den, wo­bei sich die Be­we­gung ab­rupt be­schleu­ni­gen oder ver­lang­sa­men kann. Im Be­geh­ren ei­nes Kör­pers, ei­ner At­mo­sphä­re, ei­ner Er­in­ne­rung liegt der An­trieb ei­nes Er­zäh­lens, das von ei­ner aus­ge­klü­gel­ten Ro­man­ar­chi­tek­tur nur be­hin­dert wer­den könn­te. An­stel­le von Kon­struk­ti­on oder Re­fle­xi­on ließ Ge­net den In­stinkt wal­ten. Er tat al­so ge­nau das, was Nietz­sche vom nai­ven Spie­ler er­war­te­te und mög­li­cher­wei­se für sein ei­ge­nes Werk er­sehn­te; ein li­te­ra­risch-phi­lo­so­phi­sches Werk, das sich tat­säch­lich aber in ei­ner sorg­fäl­tig nu­me­rier­ten Fol­ge von stark ver­dich­te­ten Frag­men­ten her­aus­bil­de­te, von rhe­to­risch auf­ge­la­de­nen Satz­ge­bil­den, die sich zu­meist um ei­nen scharf de­fi­nier­ten ge­dank­li­chen Kern le­gen. Wirk­lich tan­zen konn­te Nietz­sche erst im Wahn. (Vgl. Sa­fran­ski 322) Die er­ste, ex­al­tier­te Pha­se sei­nes Wahns könn­te man als Ein­lö­sung des­sen inter­pretieren, was sein Spät­werk an­ge­kün­digt hat­te. Den­ken will ge­lernt sein »wie Tan­zen«, be­ton­te Nietz­sche, es be­dür­fe »ei­ner Tech­nik, ei­nes Lehr­plans, ei­nes Wil­lens zur Mei­ster­schaft«. (Za 109) Lu­ci­en und der Schwar­ze tan­zen in Ge­nets Chant d’amour »ein­fach so«, spon­tan, oh­ne Tech­nik und Plan; trotz­dem ver­mit­telt ihr Tanz ei­ne star­ke In­ten­si­tät (was na­tür­lich kein Ar­gu­ment ge­gen das Ler­nen ist). Ge­net hat sei­ne Bü­cher »ein­fach so« ge­schrie­ben, aus ei­nem drän­gen­den Be­dürf­nis her­aus, das Leu­te wie Sart­re nicht emp­fin­den konn­ten – und auch Ge­net selbst nicht, nach­dem er die Pa­ria-Welt ver­las­sen hat­te und zu dem ge­langt war, wor­auf er es doch auch ab­ge­se­hen hat­te: Ruhm.

In sei­nem letz­ten Ro­man, Ta­ge­buch des Die­bes, be­haup­tet Ge­net: »Was ich mir für den Rest mei­nes Le­bens wün­sche, ist das Ge­gen­teil von Ruhm.« (TD 284) Das klingt so, als hät­te er mit ei­nem wich­ti­gen Le­bens­ab­schnitt ab­ge­schlos­sen, und in der Tat, der Lauf der Din­ge be­stä­tigt die­se Sicht. Der­sel­be Satz scheint aber zu im­pli­zie­ren, daß es Ge­net vor­her durch­aus um Ruhm zu tun war. Sei­ne Ro­ma­ne ha­ben ihm ge­nug da­von ein­ge­bracht, und jetzt ist Schluß, der au­to­di­dak­ti­sche Au­tor hat die Ori­en­tie­rung ver­lo­ren. Künf­tig wird er sich da­mit ab­mü­hen, neue Le­bens­zie­le für sei­ne No­ma­den­exi­stenz zu fin­den. We­ni­ge Sei­ten nach dem zi­tier­ten Satz heißt es in schein­ba­rem Wi­der­spruch zu die­sem, das Ba­g­no – al­so die Straf­ko­lo­nie – bie­te ihm »mehr Freu­den als Eu­re Eh­ren und Eu­re Fe­ste. Und doch sind sie es, die ich su­chen wer­de. Ich gie­re nach Eu­rer An­er­ken­nung, nach mei­ner Sal­bung.« (TD 297) Ge­net will zum Zeit­punkt sei­nes Er­folgs auf zwei Hoch­zei­ten tan­zen und weiß, daß ihn die­ses Be­stre­ben zer­rei­ßen wird. Die ei­ne Hoch­zeit ist die der Amo­ral, die sich bei nä­he­rer Be­trach­tung als um­ge­kehr­te Mo­ral er­weist und nicht we­ni­ger ri­gi­de ist als die in der Ge­sell­schaft fak­tisch herr­schen­de. Die an­de­re Hoch­zeit ist die der bürger­lichen Mo­ral und der Hoch­kul­tur, die an die Mo­ral ge­bun­den bleibt, auch wenn sie die­se kri­ti­siert. Das Pa­ra­dox be­kun­det sich am deut­lich­sten in der An­re­de an »uns«, die gebil­deten Le­ser, denn die An­ge­hö­ri­gen der Knast- und Gau­ner­welt, des Stri­cher- und Bettler­milieus kom­men, wie der Au­tor weiß, als Pu­bli­kum nicht in Be­tracht. Ge­net hat, ob­wohl nichts ihn da­zu prä­de­sti­nier­te, Zu­tritt zu die­ser Kul­tur ge­fun­den, doch er kann als Au­tor nur be­stehen, wenn er sich nicht an sie an­paßt und sie im­mer aufs neue pro­vo­ziert. Dies ist der Sinn der schein­bar nur ab­sur­den, ein ums an­de­re Mal wie­der­hol­ten Ge­ste, sei­ne För­de­rer zu be­steh­len oder sonst­wie zu schä­di­gen. Der Hund beißt die Hand, die ihn füt­tert: Va­ri­an­te des in Ge­nets Schrif­ten als Kar­di­nal­tu­gend ge­prie­se­nen Ver­rats.

© Leo­pold Fe­der­mair


Ver­wen­de­te Li­te­ra­tur.


Teil II
Die Kom­men­tar­mög­lich­keit be­steht im drit­ten und letz­ten Teil des Es­says. (G. K.)