»Novelle« nennt Florian L. Arnold sein Buch »Ein ungeheuerlicher Satz«. Seit einigen Jahren bedienen sich Verlage dieser Gattungsbezeichnung vermehrt, um kurze Erzählungen, die nicht als Roman vermarktet werden können, aufzuwerten. »Novelle« dient dabei Fall als Distinktionsmerkmal gegenüber »Erzählung«. Hier trifft diese Spielerei jedoch nicht zu. Es handelt sich tatsächlich um eine »unerhörte Begebenheit«, wie Goethes Definition der Novelle lautete. Der namenlose Ich-Erzähler, ein 13jähriger Junge (?), wird eines Tages mit einem »ungeheuerlichen Satz« seines Vaters konfrontiert: »Wir gehen weg«. Die Folgen werden einschneidend sein.
Man lebt in einer Art Wildnis; für sich, alleine. Die Zeit, in der die Novelle spielt, ist nicht eruierbar. Zwei‑, dreimal im Jahr fährt die Familie mit einem alten, »selbstmordgefährdeten« Auto in die Stadt. Dort kauft man unter anderem schwarze, unlinierte Hefte, die vom Vater irgendwann zwanghaft vollgeschrieben und von der Mutter dann per Post nach »Ignatu« verschickt werden. Ansonsten lebt man vom Gemüsegarten. Es scheint weder Telefon noch Internet zu geben. Soziale Kontakte halten sich in Grenzen, bleiben schließlich bis auf einen gewissen Rösenmarrer gänzlich aus (und sofort denkt man bei diesem Namen an Roithamer aus Thomas Bernhards »Korrektur«).
Der Vater, eine Hermann-Burger-Figur, ist ein rauchender Melancholiker, geheimnisvoll in seinem scheinbar kindischen Hass auf das Licht, die Sonne, die Hitze, den Sommer. Ein Mann, der mit seinem Sohn über einen längst verwilderten Friedhof spaziert und Grabsteine buchstabiert, entziffert und sich von seinem Kind die Lebensdaten ausrechnen lässt.
Die Familie lebt in einem Haus, welches vor allem synästhetisch erzählt wird: der Rauch der Zigaretten des Vaters, die Gerüche der Küche, die »blaue Stunde«, das Leben am Ende der Welt oder – wer weiß? – nach einer Katastrophe. Schließlich der »ungeheuerliche Satz« und wenig später dieser Aufbruch, die »Flucht«. Mit zwei hartgekochten Eiern von der Mutter als Proviant geht es in eine Angeloupoulos-Landschaft. Der Vater stellt Regeln auf, am Ende eine Art Vermächtnis, ein Konvolut von Lebensweisheiten, die zuweilen zwischen Philosophie und Banalität balancieren. »Die Lüge ist das Einzige, auf das Verlass ist« heißt es einmal. Und: Niemandem sei zu trauen. Regel Nummer drei – »Die Wirklichkeit des Daseins passt in einen kleinen Koffer« – wird dann zur Programmatik dieser Novelle, die mit magischem Realismus eine archaische, unheimliche Wunderwelt auffächert. Auf Karten existieren noch – oder wieder? – weiße Flecken der Unerforschtheit. Orientierung, das Lesen der Topographie ist eine überlebenswichtige Kulturtechnik. Im Moor, dass die beiden direttissima zu durchqueren scheinen, droht der Junge einzusinken und erst im letzten Moment rettet ihn der Vater.
Und dann trennen sie sich, der Junge geht weiter, entdeckt ein »Haus wie ein Untier«. Es ist das Haus von Rösenmarrer, ein »äonischer Oger, ein kantiger, rotnäsiger, flatterohriger, rothaariger, weißhäutiger Blutsverwandter des Minotaurus«. Ein Schweigender, der wunderbare Eintöpfe aus allem was die Natur bietet kochen kann.
Ein paar Wochen leben diese beiden zusammen in diesem Haus, in dem überall Sand herumfliegt. Schließlich gibt es auch hier einen Aufbruch; eine lange Reise soll es werden. Zurück zu den Eltern? Sind sie noch da? Die Antwort bleibt aus. Es beginnt ein Gehen der besonderen Art, ein Durchschreiten, eine Zwei-Mann-Expedition durch vermeintlich unbekanntes Land. Und Rösenmarrer beginnt zu erzählen, zögerlich, dosiert: von seiner Familie, der Familie des Vaters des Jungen und dann stellt sich heraus, dass er der Onkel ist – und es ist dann doch noch mehr und in gleichem Maße, wie sich die Familiengeschichte ausbreitet und aufklärt, nimmt die Wildheit der Landschaft zu. Man erfährt von der Kindheit des Vaters, dessen Ängste, dem Schriftstellertum, das als Therapie diente und durch ihn, Rösenmarrer, initiiert wurde. Er erzählt von den Traumata des Vaters und »Momente[n] des spröden Glücks« in einer zerrissenen Familie. Er erzählt von Schreien und Stille, von Mitleid und Unbarmherzigkeit. Und dann sind sie angekommen in einer »nördliche[n] Wüste«, »ohne »Zeichen von Bewohntheit«: Ignatu nennt sich dieser Ort – hierhin wurden die in Raserei geschriebenen Hefte des Vaters verschickt und hier endete die Familientragödie. Nur noch »ein scharfer Schnitt« trennt ihn von der »Geborgenheit der Kindheit und dem Erwachsenensein«. Ein unheimlicher Schluss.
Es ist ein schmaler Grat, den Florian L. Arnold hier beschreitet. Er will keine Mystery-Story schreiben, aber den Leser in dieser Endzeitlandschaft gefangen halten. Es soll kein Märchen sein, aber eben auch kein Naturalismus. Rösenmarrers Umschreibung der »Katastrophenliteratur« des Vaters könnte das Motto dieses Buches sein: »Dort, wo sich die Realität am unwahrscheinlichsten gebärdet, dort nährt sie sich von der absoluten Wahrheit«.
Aber es wäre fatal, hier eine »absolute Wahrheit« zu suchen und die zahlreichen berührenden, zum Teil überraschenden (nur gelegentlich verunglückten) Bilder als bloße Allegorien auf eine Wirklichkeit zu lesen. Man muss, um den vollen Genuss zu erleben, die Entschlüsselung der vermeintlichen Symbolik mindestens verschieben. Ansonsten würde der Zauber dieser Prosa schnell zerstört, oder, genauer: man würde der Prosa nicht gerecht werden. In Anlehnung an Nietzsches Diktum des »ästhetischen Zuhörers«, der die Tragödie jenseits von realistischem Kausalitätsdenken als »Wunder« wahrnimmt und dadurch erst »begreift«, benötigt diese Novelle den »ästhetischen Leser«, der sich von der üblichen Bedeutungssucherei mindestens zunächst einmal verabschieden sollte. Die Zeichnungen des Autors unterstützen diese Form der Rezeption.
Und dann kommt es, dass man jenseits der tragischen Familiengeschichte sich an den Erzählungen der Wanderungen und Fluchten durch diese imaginären Landschaften erfreut und sich in ihr verliert. Da stört es kaum, dass manches noch etwas ungeschliffen wirkt; es erhöht sogar den Reiz. Man freut sich, dass ein solches Buch möglich ist. Nicht auszudenken, wenn dieser Text von Schreibschulprofis redigiert worden wäre.
Bemerkung: Ich habe zwei Bücher im Mirabilis-Verlag publiziert. Mein Text ist weder eine Auftragsarbeit noch ein »Freundschaftsdienst«.
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