Was die Digitalisierung bringt und was sie zerstört
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Es gibt in der Menschheitsgeschichte Entwicklungen, die unvermeidlich scheinen. Waren sie einmal in Gang gekommen, mußten sie weitergehen, nichts konnte sie aufhalten, am wenigsten die Proteste konservativer, auf Bewahrung des Überlieferten bedachter Menschen. Das gilt, in der neueren Zeit, für die Industrialisierung, die Elektrifizierung, den weltweiten Handel, die Globalisierung, die Vermassung des Zusammenlebens, die Ausbreitung und den Einfluß der Massenmedien, die Verwissenschaftlichung der Ökonomie und anderer Lebensbereiche, die Erforschung und Manipulation des pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens, die Automatisierung und Roboterisierung, die Satellitenkommunikation, die Ausbreitung und zunehmende Verdichtung eines weltweiten elektronischen Kommunikationsnetzes. Es gilt ebenso für die Digitalisierung, die sich mit einigen dieser Entwicklungen überschneidet. Nichts davon kann man rückgängig machen. Man kann versuchen, die entsprechenden Vorgänge und Phänomene zu regeln, zu gestalten, zu begrenzen. Mehr nicht.
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Die Digitalisierung wird im Alltagsleben von vielen als Segen erlebt, von anderen als Fluch, oder abwechselnd, sogar gleichzeitig, als beides, Segen und Fluch. Ein Segen, wenn man mit weit entfernten Menschen kommunizieren kann, ohne eigens dafür zu bezahlen. Bequem, zu Hause – also im »Netz« – einkaufen zu gehen, Hotelzimmer zu buchen, Fahrkarten zu kaufen. Unterhaltsam, zu spielen, zu surfen, zu chatten. Bequem und unterhaltsam ist sie, unsere digitale Welt. Und billig.
Auf der anderen Seite: Wir haben zunehmend das Gefühl, überwacht zu werden. Ständig geben wir, ohne es recht zu merken, Informationen über uns preis, die dann für ewige Zeiten gespeichert bleiben, und doch können wir ohne das Smartphone nicht leben, es ist Teil von uns selbst, wir sind vom Internet, dieser totalen Verbundenheit, abhängig. Die Vernetzung und das Dasein darin ist per se ein Zustand der Abhängigkeit. Je weiter die digitale Personalisierung voranschreitet, desto unfreier werden wir. Nicht Menschen, sondern Maschinen bestimmen über uns.
innen … außen … innen
In ein und derselben Ausgabe der Süddeutschen Zeitung las ich neulich zwei Artikel, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun hatten und ganz verschiedenen Redaktionsbereichen zugeordnet waren. Der eine stand auf Seite 2, Innenpolitik und Kommentare, der andere im Feuilleton auf Seite 11. Auf Seite 2 forderte der Leiter des »Berliner Büros des Zukunftsinstituts«, ein studierter Jurist und Ökonom, die deutsche Bundesregierung auf, die Chancen der Digitalisierung zu erkennen und besser zu nutzen. In seinem Artikel stieß ich auf die klare, fast schon manifestartige Behauptung: »Das Versprechen der Digitalisierung heißt Teilhabe und Arbeit für alle.«
Im Feuilleton hingegen betrachtete ein freier Journalist unter dem Titel »Kontaktlos« den Komplex der Digitalisierung nicht vom Standpunkt der Ökonomen und Produzenten, sondern von der Seite der Konsumenten, der Käufer und »Nutzer«, die sich durch den Gebrauch von Kreditkarten und immateriellen Zahlungsmethoden den diversen, oft oftmals dunklen, undurchsichtigen Netzwerken und Datenverwertungssystemen einfügen und unterordnen. Auch das bargeldlose Bezahlen in allen Lebenslagen ist auf den ersten Blick praktisch (ich erinnere mich an einen mindestens zwei Jahrzehnte alten Fernsehspot, wo ein gut trainierter und gebräunter junger Mann mit Kreditkarte im Bund seiner Badehose in einen Hotelswimmingpool springt, um anschließend mit dem Plastikkärtchen winkend bei einer hübschen jungen Kellnerin einen Cocktail zu bestellen). Der Feuilletonjournalist der SZ beschloß seine Warnungen mit dem düsteren Satz: »Wer das Bargeld abschafft, schafft letztlich auch die Menschlichkeit ab.«
Der Kommentar des Zukunftsforschers stand in der Rubrik »Außenansicht«, und auch der Beitrag des freien Journalisten entsprach nicht zwangsläufig der Auffassung der Feuilletonredaktion. Genau das schätze ich an Zeitungen wie der Süddeutschen, daß sie unterschiedliche, manchmal konträre und sogar extreme Ansichten zu Wort kommen läßt und koordiniert oder in ein – sei’s auch untergründiges – Spannungsverhältnis setzt. Das fördert, ganz im Unterschied zu den digitalen Filterblasen, die geistige Regheit der Leser.
Kosten und Nutzen
Vielleicht hat er ja Recht, der Zukunftsforscher. Körperliche Tätigkeit wird überflüssig; geistige, rechnende, kontrollierende Tätigkeiten sind zunehmend gefragt. Supervision, Überwachung und Wartung von Maschinen und Systemen, die zumeist selbsttätig funktionieren; einspringen und Entscheidungen treffen, wenn die Maschine ausfällt oder unzuverlässig wird; Entwicklung und Steuerung von komplexen Systemen; Gewährleistung von digitaler Sicherheit, aber auch im realen Leben (Gefährder schaffen Arbeitsplätze); Tätigkeiten in der Werbebranche, (Selbst)darstellungsberatung, Reputationsmanagement, Rating und Ranking beziehungsweise, allgemeiner gesprochen, Datenauswertung und ‑verwertung; Marketing, Erforschung und Beeinflussung von Kundenverhalten; natürlich auch Forschung und Entwicklung im herkömmlichen Sinn; Youtube als profitables Tätigkeitsfeld, sogenanntes Influencing, Bereitstellung von audiovisuellen Inhalten popkultureller Art, was in vielen Fällen bedeutet: von unterhaltsamem Nonsens; Plattenauflegen in Clubs (das vor der Digitalisierung aufkam, nun aber neue Möglichkeiten erhält); Klick- und Datenhandel… Man sieht, es sind zahllose neue Bereiche entstanden oder im Entstehen, und es werden neue hinzukommen, der Digitalisierung sei Dank. Was als Arbeit gilt, und vor allem, was als solche remuneriert wird, hat mit den Arbeitsbegriffen, die vor einem halben Jahrhundert herrschten, nicht mehr viel zu tun. Die Kriterien, die bei der Entlohnung bzw. Rechnungstellung zur Anwendung kommen, sind oft undurchsichtig oder nach herkömmlichen fragwürdig. Der Markt wird sich schon irgendwie regulieren.
Welche Formen der Arbeit verlorengehen, weiß jeder; in vielen Fällen wird man ihnen keine Träne nachweinen. Die Handwerksberufe sind schon mit der Industrialisierung randständig geworden, doch bald wird man auch keine Sportreporter, Lehrer, Pfleger, Fahrer, Schaffner, Transporteure, Verkäufer, Kassierer, Reisebüros, Schallplatten- oder Buchgeschäfte mehr brauchen. Ein Beispiel: Die großen japanischen Anime-Studios wie Ghibli beschäftigten ein Heer von Zeichnern; die Fortschritte der Computergraphik haben sie inzwischen überflüssig gemacht. Der (in die Jahre gekommene) Regisseur und Gründer der Firma Hayao Miyazaki beendete auch aus diesem Grund seine Karriere. Natürlich braucht man eine – viel geringere – Anzahl von Leuten, die die Computerprogramme entwickeln, steuern und überwachen. Aber das gehört auf die Nutzen-Seite, siehe oben. Und verschweigen sollten wir auch nicht, daß unter diesen Bedingungen Nischen entstehen (oder größere Einheiten auf kleine, aber nachhaltige Konturen schrumpfen). Echte, reale Buchhandlungen, Schallplattenläden, Lederschuhgeschäfte für Eliten... Die Masse ist mit dem digitalen Mainstream und dem Plastik aus dem Internet vollauf zufrieden.
Vielleicht hat er ja Recht, der freie Journalist. Vielleicht führen die täglich in eine schale Unendlichkeit hochgetriebenen »Kontakte«, die meist nicht viel mehr als abstrakte Schnittstellen und Datenpunkte sind, zu Kontaktlosigkeit; zu einem Mangel an echter, d. h. menschlicher Kommunikation, bei der man auf ein Gegenüber eingeht, es befragt, ihm antwortet, es versteht und wertschätzt oder auch kritisiert. Eingerichtet in der virtuellen Welt, müssen wir uns nicht mehr vom Fleck bewegen. Allenfalls gehen wir ins Fitneßcenter, solange unsere Körper noch nicht beliebig reparierbar sind. Aber auch das Denken und Fühlen wird ja durch den Körper betrieben. So wären wir am Ende dieser »Entwicklung« vollends, in jeder Hinsicht, austauschbar? Und insofern dann verzichtbar? Die kulturpessimistische Perspektive sagt: Ja, so ist es, so wird es kommen.
Eine Zeitlang, als die Rede von Big Data aufkam und die Überwachung der Bürger durch eine US-amerikanische Sicherheitsbehörde ans Tageslicht kam, dachte ich, daß ein Normalbürger wie ich sich davor nicht fürchten müsse. Was sollten die mit meinen Daten schon groß anstellen? Das sehe ich nicht mehr ganz so. Erstens möchte ich auch vor dem »normalen« bürokratischen und kommerziellen Zugriff der Datenverwerter geschützt sein; zweitens legen die von mir gesammelten Daten meinen Handlungsspielraum fest und engen ihn möglicherweise ein; und drittens bin ich mir nicht mehr sicher, daß die Demokratien, in denen wir leben, noch lange halten werden. Daß sich die Geschichte der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts, also die totalitäre Radikalisierung, zu Beginn des 21. Jahrhunderts wiederholen könnte, habe ich noch vor kurzem für unmöglich gehalten. Inzwischen müssen wir mit dieser Möglichkeit rechnen, und es steht – in pessimistischer Perspektive – zu befürchten, daß die Digitalisierung und »Vernetzung« dem Rechtsextremismus in die Hände spielt.
Drittens, die Daten als solche. Mit Hilfe von Algorithmen können wir mehr Korrelationen zwischen Datenpunkten herstellen denn je. Es hat sich aber gezeigt, daß viele dieser Korrelationen unsinnig oder irreführend sind. Deshalb ist immer wieder zu fragen, ob das numerische Denken der Maschinen, so rasend schnell es sich auch vollziehen mag, wirklich Erkenntnisgewinne bringt.
Haben und Sein
Zwischen Kosten und Nutzen wäre also eine Beziehung herzustellen, im Sinn einer Rechnung, aber nicht nur. Ich kenne die Statistiken nicht – und bezweifle, daß sich eine verläßliche Gesamtstatistik überhaupt herstellen läßt –, habe aber den Eindruck, daß alles in allem mehr Arbeitsplätze und Berufe (im Sinn eines dauerhaften Tätigkeitsprofils) vernichtet als neue geschaffen werden. Hier kann und soll man durchaus zwischen Plus und Minus abwägen. Langfristig gesehen werden immer mehr Tätigkeiten, auch solche intellektueller Art, von Maschinen übernommen werden, so daß die Menschen in einem positiven Sinn frei von Arbeit werden könnten: frei für schöpferische Aktivitäten, darunter solche, die keinerlei materiellen Nutzen abwerfen. Man könnte dem Entweder-Oder entkommen und könnte, wie Deleuze und Guattari es nannten, eine Fluchtlinie ziehen und die Bedeutung von Arbeit, das Verhältnis von freier und zwangsweiser Tätigkeit, von Menschen und Robotern neu definieren. So kämen wir zu einem anderen Feld, das ich hier nicht betreten will, das aber seit etlichen Jahren öffentlich diskutiert und auch politisch beackert wird. Und was den digitalen, »kontaktlosen« Geldverkehr betrifft, so könnte im selben Zusammenhang die Notwendigkeit des Geldverdienens überhaupt verschwindet. Auch aus dieser Notwendigkeit würde dann eine Freiheit: Wer will, soll materielle Reichtümer scheffeln; zu einem menschenwürdigen Leben hat man auch so genug… Ich weiß, so ticken die meisten Menschen nicht. Die meisten, also die Masse, reibt sich zwischen Haben und Nicht-Haben (von Arbeit bzw. Geld) auf.
Haltung…
Den Lauf der Dinge kann man, ganz allgemein, auf zweierlei Art betrachten: mit Optimismus, also dem Glauben, daß alles besser werden wird; oder pessimistisch, der Verschlechterung, der Entropie, dem (noch) fernen Tod entgegensehend. Über diesen Dualismus rümpfen Anspruchsvolle gern die Nase, und Wissenschaftler halten das Begriffspaar für »unwissenschaftlich«. Dennoch läßt sich ein Gutteil der europäischen Geistesgeschichte damit sinnfällig und sinnvoll ordnen. Rousseau, Marx, Habermas gingen von der Verbesserungsfähigkeit der menschlichen Gesellschaft aus, und in deren Schutzraum sahen sie schöne Möglichkeiten für das Individuum, sich zu entfalten (wenngleich jedes einzelne sterblich war und ist). Nietzsche, Freud, Cioran oder auch Botho Strauß skizzierten pessimistische, tragische Weltbilder, in deren Rahmen allenfalls eine kleine Elite etwas Bleibendes zuwege bringen konnte (auch wenn Nietzsche alias Zarathustra mit der Rolle des Retters liebäugelte).
…und weg
Skepsis ist eine dritte Haltung, aber kein Weg. Der Skeptiker zögert, er verweigert die Entscheidung, verschiebt sie ein ums andere Mal. Warum nicht, er hat gute Gründe dafür… Diese Haltung läßt sich als Pragmatismus in die wirklichen Verhältnisse einbringen. Kleine Entscheidungen statt großer; kakanisches Fortwursteln. Aber manchmal sind eben doch große Entscheidungen notwendig; sie nicht zu treffen, kann lebensgefährlich werden, z. B. beim Umweltschutz. Manchmal aber scheint es mir notwendig, sich nach einem Ausweg umzusehen. Nach Wegen, die fruchtlos gewordene Alternativen links und rechts liegen lassen.
Losgelöst von den beiden genannten Artikeln in der SZ wirft der Text interessante Fragen auf. Ich mache mal den Anfang.
Eine These meinerseits geht dahin, dass »wir« (d. h. diejenigen, die sich als kritische Öffentlichkeit verstehen) die Digitalisierung lange Zeit als eine neue Spielart von Kommunikation verstanden haben. Da gab es ja diese »Gurus«, die das regelrecht abgefeiert haben. Stichwort: Demokratisierung. Und es gab die Mahner und Bedenkenträger, die diese Entwicklungen von Anfang an kritisch bis ablehnend begleiteten.
Heute weiss man, das beides falsch war. Es ist wertvolle Zeit verstrichen, um die Digitalisierung einzuzäunen. Ich meine damit nicht nur die sogenannten »Hasskommentare«. Beziehungsweise: Ich meine sie natürlich auch.
Man mache sich aber nichts vor: Die Unflätigkeiten, die einem in den Kommentarbereichen in den sogenannten sozialen Netzwerken zuweilen entgegenschlagen (es gibt übrigens auch andere Möglichkeiten des Umgangs, auch auf Facebook und Twitter), werden inzwischen von den Massenmedien als satisfaktionsfähig gemeldet und kommentiert. Das grösste Problem besteht darin, dass jegliche Äusserung von »Freund und Feind« kommentiert, bewertet, skandalisiert oder applaudiert wird. Damit entsteht erst der Resonanzraum, der dann abermals eine rhetorische Eskalationsspirale erzeugt. Es ist sehr schwierig, sich diesem Sog zu entziehen, wenn man selber dort erst einmal drinsteckt.
Gravierender noch ist der Einfluss der Digitalisierung auf das »normale« Leben. Etwas nonchalant wird in dem Essay darauf hingewiesen, dass sich die Berufswelt ändern wird (sie tut es ja bereits) und z. B. Handwerksberufe zurückgehen. Genau diese sind allerdings längst Mangelberufe. Wir warten auf den Kostenvorschlag eines Dachdeckers bereits ein Jahr; er nimmt zuerst die Eil-Aufträge an, dann diejenigen, mit denen er grosse Einnahmen generieren kann. Fragestellungen nach den Kosten braucht er nicht mehr zu beantworten. Elektriker nehmen bis zu 120 Euro für die Anfahrt. Ähnlich desaströs sieht es mit Dienstleistungen aus, die – vermeintlich – durch die Digitalisierung entbehrlich sind.
Meine Bank hat mir vor einigen Wochen mitgeteilt, dass sie eine EU-Richtlinie zur besseren Sicherheit der Online-Bankverfahren umsetzen muss. Hierzu ist es jetzt notwendig ein Smartphone zu besitzen (bisher reichte ein Handy für den SMS-Empfang aus). Zusätzlich muss ich mir dann ein Gerät kaufen (bis zu 30 Euro), welches bei mir zu Hause eine TAN generiert (das ich als Kunde diese Kosten bezahlen muss, stand sicherlich nicht in der EU-Richtlinie). Wir checken noch, was meine Frau machen soll, die kein Smartphone hat und keines möchte. Freilich kann man auch Überweisungen von Hand ausfüllen und der Bank zuschicken. Das kostet dann bis zu 4,90 Euro.
Wir befinden uns m. E. immer noch in einer Umbruchphase. Im Moment spricht alles dafür, dass die Digitalisierung weiter voranschreiten soll. Das Problem ist in dem Essay anschaulich beschrieben: Wo bisher Maschinen Arbeitserleichterungen für Menschen boten, beginnen sie, den Menschen zu dominieren. In dem Maße, wie Menschen, d. h. Arbeitnehmer, überflüssig werden, wird die Digitalisierung keine neue Arbeitsplätze generieren können. Eine Zeit lang werden wir uns noch die Vorteile einrahmen, bis es irgendwann zu einem hässlichen Bild kommen wird. Aber der Geist kann nicht mehr zurück in die Flasche.
Die Digitalisierung verbreitet sich kapillar, sie durchdringt alle Lebensbereiche, die SM sind nur eines der besonders sichtbaren Phänomenen. Eine Änderung, womöglich Revolution, die derzeit in Gang ist, sind selbstlernende Maschinen, künstliche Intelligenz, die nicht nur intelligent ist, sondern aufgrund eigener Entscheidungen immer intelligenter wird.
Vorhin hab ich gerade »Palermo Shooting« von Wim Wenders gesehen, da beklagt sich der Tod, diese altbekannte Allegorie, über die Digitalisierung, die bewirke, daß Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit nur noch gestellt, manipuliert oder aus dem Nichts geschaffen sei oder sein werde – für manche Leute gilt das bestimmt schon heute. Ich würde dem hinzufügen, daß es mindestens ebenso bedenkenswert ist, daß das tägliche Leben in digital-medialer Umwelt Denkformen tiefgreifend ändert. Es entsteht, ob wir das wollen oder nicht und weitgehend ohne daß es bemerkt wird, ein »neuer Mensch«. Zum Beispiel durch Wissensauslagerung und ständige Zugänglichkeit von Wissen durch Speicher, Suchmaschinen, Filter, das ganze algorithmische Brimborium. Was unter solchen Bedingungen allein noch nötig scheint, ist digitale, technische Kompetenz, Anwendungsfähigkeit. Lehrpläne der Schulen versuchen dem schon seit geraumer Zeit zu entsprechen und glauben, auf Wissensaneignung, Erkenntnisfähigkeit, Herstellen von Zusammenhängen, Wertungen und deren Begründung usw. verzichten zu können. Statt Zusammenhänge: Korrelationen, die der Computer viel besser und umfangreicher – Big Data – errechnen kann als jeder Mensch. Statt Wertung verfügbare Rankings, die Agenturen oder irgendwer, irghendwas zusammenstellt (interessiert tatsächlich niemanden, woher sie stammen). Was mir als altgelerntem Humanisten in der gegenwärtigen Situation nötig scheint, wäre die Verbindung digitaler Kompetenz, ohne die man nicht auskommt, mit humanistischen Kompetenzen der Art, wie ich sie hier schon angedeutet habe. Ich habe allerdings das Gefühl, weltweit der einzige zu sein, der das »fordert«.
Letztes Wochenende habe ich im Standard, der Wiener Tageszeitung, einen Text von Doris Knecht gelesen, eine(r) jener JournalistInnen, die unter die Romanschreiber gegangen sind. Sie berichtet da von ihren Bemühungen, digitale Pausen einzulegen, was für sie offenbar in erster Linie (und unreflektiert) heißt: SM-Pausen. Es gibt ein digitales Programm dafür, namens Freedom, das man sich im PC installieren kann. Was mich verblüfft, ist nicht ihr Bericht, den ich pottlangweilig finde, sondern die Tatsache, wie selbstverständlich sie davon schreibt, daß es ein tägliches Vergnügen sei, sich in der SM zu tummeln, sogar Donald Trump hat sie in ihrem Feed und scheint sich über dessen Messages zu freuen (wahrscheinlich in der Rubrik Humor?). SM findet sie praktisch, denn man braucht sich nicht mit »echten« Freunden und Zeitgenossen herumzuschlagen – kurz, sie ist froh, daß sie mit der prädigitalen Wirklichkeit (so wie sie nach wie vor existiert) auseinandersetzen muß. Bei alldem versteht sich die gute Frau offenbar als »kritisch«, so wie Gregor K. sich und uns als kritisch versteht (mit mehr Recht?).f
Digitales Hineingleiten in den Alltag: der einstigen Erwerbsarbeit geschuldet war eine Auseinandersetzung mit der digitalen Welt unumgänglich.
Heute benutze ich das Smart Phone in erster Linie um online Banküberweisungen zu tätigen, das online Konto ist günstiger als das analoge Konto, spart Zeit. Facebook wurde stillgelegt, gelöscht habe ich deshalb nicht, weil es für mich ein Adressbuch geworden ist. Ich schätze das Begleitschreiben und andere Seiten mit Inhalt, es ersetzt weitgehend das Lesen von Magazinen. Beispielsweise Handke online und andere Dienste der Österreichischen Nationalbibliothek. Das gedruckte Buch bleibt, auch deshalb weil es ein Geoblocking für digitale Bücher gibt.
Wie beim Fotografieren, manchmal nehme ich die analoge Kamera, laß den Schwarz-Weiß-Film entwickeln, dann gibt es Situtationen, für die sich die digitale Kamera besser eignet. Ich schätze die Online Radiosendungen in verschiedenen Sprachen zu hören. Auf youtube Alan Watts (1915–1973) angehört: The Cosmic Network (FULL LECTURE), hört sich im nachhinein vorausschauend an.
Ich beteilige mich nicht an SM, aber ich bin in den neuen Öffentlichkeiten schon ein Stück weit angekommen. Es sind ja die positiven Erlebnisse, die dich anziehen. Es war vor ca. 5 Jahren, als ich auf die Vorlesungen von Robert Sapolsky (Stanford) aufmerksam gemacht wurde. Ich habe den Kurs Humanbiologie auf YouTube komplett absolviert, es war ein Selbstläufer. Der Typ war einfach Klasse. Inzwischen hat Sapolsky sein Opus Magnum vorgelegt, eine klassische Verbindung von Anthropologie und Ethik. Auf deutsch erschienen mit dem Titel »Gewalt und Mitgefühl«.
Was soll ich sagen, das war früher mal der Job der Philosophen, die umständliche Bücher schrieben?! Bei Sapolsky wurde mir klar, dass sich die »epistemologischen Aufgaben« neu verteilt hatten. Intellektuell war das eine Offenbarung, ebenso nachhaltig wie man in jungen Jahren das »Buch der Bücher« für sich entdecken konnte, beispielsweise Nietzsches »Morgenröthe«.
@Milena Findeis
Man kann sich der digitalen Welt entziehen, das ist aber schwierig und oft anstrengend. Ich vermute, daß Sie viel mehr in digitale Systeme eingebunden sind, als Sie selbst ahnen. Allein dadurch, daß Sie einen Computer verwenden und Suchmaschinen, mit personalisierenden Algorithmen, die Ihnen sagen und Sie darauf festlegen, was Sie wollen und brauchen; und die für sie erledigen, was Sie nicht können, zum Beispiel eine stets korrekte Orthographie. Sie werden automatisch optimiert. Sie werden in Blasen, also Gefängniszellen, gesetzt, und es ist mühsam, sich daraus zu befreien (falls überhaupt gewünscht und falls nötig). Wahr, wie üblich: Das gab es immer schon. Man braucht Filter der Wahrnehmung. Aber sie sind jetzt mehr denn je fremdgesteuert, nämlich durch Maschinen.
Onlineüberweisungen und generell Computer und intelligente Kommunikationsgeräte sparen Zeit. Sie klauen aber auch Zeit, und zwar mehr, als sie den »Nutzern« geben. In der digitalen Welt wirkt das Parkinsonsche Gesetz ebenso und mehr als in der realen. Maschinen ermüden nicht täglich. Einer ihrer Vorteile gegenüber organischen Lebewesen (was kein Pleonasmus ist).
Die digitale Welt ist wie alles Weltliche – »Gestell« (hehe) : – Fluch und Segen. Im postreligiösen Diskurs bildet sich an solchen Stellen gerne eine Dauerschleife, weil man heutzutage weniger geübt ist im Umgang mit existentiellen Paradoxa wie »Fluch & Segen« als auch schon. Mal wieder die »Maximen und Reflexionen« lesen, sag’ ich dann gern – oder Meister Eckhart, oder den Kusaner!
Im übrigen aber sage ich euch: Der Mangel an Dachdeckern in Nordrhein-Westfalen ist eklatant. Schaut daher in das volldigitalisierte Hochlohnland Die Schweiz und staunt. Überall werden Häuser gedeckt, die Schweizerischen Handwerker sind mit den dortigen Hausbesitzern zufrieden und vice versa, nirgends ein Dachschaden soweit das Auge reicht, alles wunderbar dicht! – Wie ist es nur möglich, dass außerhalb der EU solche paradiesischen Zustände währen – ich höre überdies von schweizerischen Handwerkern, es soll in Lichtenstein ganz gleich sein?
@Leopold Federmair
Es ist die Neugierde, die mich antreibt, etwas verstehen zu wollen. Im digitalen wie im analogen Leben. Das mit dem Wollen, Sollen, Müssen habe ich schon vor der Teilnahme ins Digitale hinterfragt, das Hinterfragen hat zugenommen. Danke für das Antworten.
Mit der industriellen Revolution wurden Gegenstände mehr und mehr durch Maschinen hergestellt; Handarbeit wurde auf ein Minimum reduziert. Der Grund lag zunächst darin, günstiger und vor allem schneller und in höherer Quantität produzieren zu können. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar. Man gehe nur einmal zu einem Schreiner und lasse sich dort einen Tisch oder Stühle von Hand fertigen.
Die Digitalisierung »industrialisiert« Entscheidungsprozesse. Wo früher der Bäcker mein Lieblingsteilchen verpackte, wenn ich den Laden betrat, oder der Buchhändler zielsicher zwei Neuerscheinungen hervorzog, weil er meine Vorlieben kannte, macht dies heute ein Algorithmus.
Im Antiquitätenhandel wird gerne unterschieden zwischen »Handarbeit« und maschineller Fertigung. Letztere gilt als weniger wertvoll (nicht zuletzt aufgrund der grösseren Verbreitung). Zuweilen wird darauf hingewiesen, dass die Maschinen am Ende von Menschen gefertigt wurden und das, was der Mensch ihnen einprogrammiert hat, umgesetzt haben.
An einem Algorithmus kann ich zunächst nichts Schlimmes entdecken. Er ersetzt mir beispielsweise bei Amazon schlecht bis gar nicht ausgebildete Buchhändlerangestellte, die nicht zwischen Robert und Martin Walser unterscheiden können. Es ist wenig bekannt, dass man durch die regelmässige Entfernung der Cookies von allzu streng vorgefertigten Suchergebnis sozusagen befreien kann. In den sozialen Netzwerken ist das schwieriger. Aber wenn seine »Freunde« bzw. den Personen, denen man folgt, etwas weiter fasst, erhält man sehr wohl ein umfassendes Meinungsbild.
Im Journalismus bestand so etwas wie der analoge Algorithmus (vulgo: Filter) jahrzehntelang in der sogenannten Redaktion. Hier wurde das publiziert, was einige wenige als relevant einstuften. Medien hatte – bei aller Überparteilichkeit, die zumeist behauptet wurde – eine Tendenz. Das ist heute auch noch so, übrigens unabhängig davon, ob man sich zuweilen ein Pro und Contra gönnt. Die Weltbilder von FAZ- und SZ-Lesern dürften enorm unterschiedlich sein, sofern man sich nur auf das jeweilige Medium beschränkt hat.
Noch mal zu YouTube: nachdem der Algorithmus meine stark diversifizierten Interessen verstanden hatte, habe ich sehr gute Empfehlungen bekommen. Das hätte ich bei einer proaktiven Suche nicht so schnell oder zielgenau gefunden.
Beispiel, das lange Gespräch zwischen Jordan Peterson und Camille Paglia. Ein Klassiker der zeitgenössichen intellektuellen Szene. Mehr an Klugheit, Bildung und Lebenserfahrung geht nicht. Auch die Podcasts von Joe Rogan, oder die Kamingespräche von John Anderson (australischer Politiker, National Party) liegen eigentlich außerhalb meines »aktiven Interesses«. Diese Empfehlungen erachte ich persönlich immer noch als »Netzfundstücke«, obwohl ich sie streng genommen nicht gesucht habe. Sie wurden für mich gesucht und gefunden. Dabei liegt auch keine Einschränkung des Meinungskorridors vor. In Deutschland funktioniert das auch, das Angebot ist aber klein. Ein ernsthafter Podcast-Unternehmer wie Joe Rogan fehlt im deutschsprachigen Raum leider völlig.
Überhaupt, bekommen nicht durch das digitale Medium das Gespräch und der Vortrag wieder ein neues Gewicht, in Konkurrenz zum Buch oder zum Leitartikel?!
Daran hängt jede Menge Psychologie, denn beim Vortrag und beim Gespräch herrschen die Gesetze der Anwesenheit. Es gibt keine schnellen Schreibtisch-Siege mehr, und die Versuchung zum »Leser-Betrug« wird kleiner...
Dieter K. hat das von Gregor K. in die Diskussion geworfene Handwerkerbeispiel aufgenommen: schön zu hören, daß es in der Schweiz keine Dachschäden gibt. Die Schweizer, also die Konsumenten, die Bedürftigen, sie bezahlen halt die hohen Preise, oder? Ich bin überzeugt, daß eine Art Kohabitation zwischen prädigitalen und digitalen Sphären/Tätigkeiten/Personen nötig ist, auch ein Ineinanderwirken – die Dachdecker werden vermutlich auch nicht ganz ohne Computer agieren, oder? Ich glaube allerdings, daß diese Notwendigkeit zu wenig gesehen wird und, nicht zuletzt in der Pädagogik, das Prinzip herrscht, man müsse sich bzw. die Heranwachsenden so gut wie möglich an Digitalisierungsprozesse anpassen. Nein, ich denke, man muß in der Lage sein, dazu auf Distanz zu gehen, nicht nur, um die reale Welt respektieren und verstehen zu können, sondern auch, zum zu begreifen, woher das alles – mein S‑Phone, kurz gesagt – woher das alles kommt. Und wie es sich weiter entwickeln könnte, sollte, nicht sollte.
Wenn ich die bisherigen Kommentare hier lese: Man geht spontan von den eigenen Erfahrungen aus, und die sind vor allem die des Konsumenten, des Users. Aber die Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche, v. a. auch die Produktion, die Administration, das Versicherungswesen, die Krankenhäuser, die ganze Verwaltung der Gesellschaft. Ein sehr schönes Beispiel für die Segnungen der Computerisierung und Roboterisierung sind die selbsttätigen Lastwagen, die in Minen Erz scheffeln und ans Tageslicht befördern. Eine schwere, ungesunde, gefährliche, teilweise von Menschen gar nicht zu bewältigende Arbeit ist überflüssig geworden, Gott sei Dank! Statt dessen Arbeitsplätze in der Steuerung und vor allem Überwachung der Maschinen, denn steuern tun sie sich auch mehr und mehr selbst. Im Grunde genommen ist so eine Transportmaschine nicht anders als ein vollautomatisierter Mercedes (in einem solchen durfte ich einmal ein paar Kilometer fahren – wunderbar!), denn auch der tägliche Autoverkehr ist ein schwieriges, gefährliches Gelände, das Menschen gar nicht so gut beherrschen, wie die Unfallstatistiken zeigen.
Ein anderes Beispiel, die Chirurgie. Meine Kardiologin leitet die Operation am Bildschirm, die Maschine kann die notwendigen Vorgänge mit viel größere Sicherheit und geringerem Risiko bewältigen als sie es mit den Händen könnte. Es gibt millionenfach mehr Daten über das Funktionieren unserer Körper, die Interpretationen und Erklärungen für Dysfunktionen werden rasend perfektioniert- »perfektioniert«, denn immer noch erlebe ich bei Ärzten, daß sie mich und meine Dysfunktionen gut verstehen, wenn sie mich kennen, sich einfühlen, Humor haben, plötzliche Einfälle, Intuitionen, Zusammenhänge herstellen (und eben nicht Korrelationen), und vor allem: das alles integrieren können. Es ist möglich, daß intelligente Maschinen in absehbarer Zeit das auch können. Bis jetzt nicht, zumindest nicht ausreichend. Man muß sich nur Alexa anhören (sagt der Konsument in mir): Ihre Schlagfertigkeit beim einfühlsamen antworten, vorprogrammierten Antworten nervt. Aber man hört und liest von Pflegecomputern, von perfekten, unermüdlichen Unterhalten, von digitalen Nachhilfelehrern, die selbstverständlich auf die persönlichen Bedürfnisse des SChülers eingehen (»Personalisierung«), und in den SF-Filmserien verlieben sich Computer in Menschen und umgekehrt, usw.
Hier breche ich ab, wieder einmal, die Kommentare sollen nicht zu lang sein. Es läuft alles auf das Überflüssigwerden menschlicher Mühsal hinaus. Schwarzseherisch formuliert: Auf das Verschwinden des Menschen. Technokratischer Totalitarismus, Günther Anders, kürzlich war in diesem Blog davon die Rede, nur daß Günther anders diese kapillar technologische Durchdringung noch gar nicht ahnte. Man braucht keine Atombombe, um den Menschen antiquiert zu machen. Dieser Befund führt auf der politischen Ebene u. a. zu der Frage des Grundeinkommens: Wir könnten genügend Reichtum lukrieren, zumindest in den hochentwickelten Ländern, bezahlte Arbeit wird langsam unnötig. Beobachtet man diese Gesellschaften, stellt man aber fest, daß die meisten Leute mit dieser neuen Freiheit nichts Rechtes anfangen können. Tatsächlich entstehen neue Systeme der Unfreiheit, oft in Verbindung mit einem subjektiven Gefühl von Freiheit. Hier liegt dann ein zweiter Grund, weshalb ich denke, daß Bildung im humanistischen Sinn wiederaufgenommen und generalisiert werden sollte. Hochschätzung von Kreativität, Schönheit, Auseinandersetzung mit dem Schwierigen, Denken (tout court), auch Virtuosentum, Expertentum, von all dem, was die Eliten so hervorbringen – und womöglich Erweiterung des Elitären, dessen Popularisierung. Aber: die kulturelle Entwicklung geht in die Gegenrichtung. Und das verstärkt wieder die negativen Auswirkungen der Digitalisierung.
Ich glaube ja, dass die Sache vom Ende der bezahlten Arbeit nicht stimmt. Einen Dachdecker muss es trotzdem weiter geben; das Dach deckt sich nicht von allein. Der Chirurg bleibt immer noch notwendig – und wenn es darum geht, die Maschine zu korrigieren. Allen Unfallstatistiken zum Trotz wird sich – ich lege mich da fest, ohne dass ich in Regress genommen werden könnte – nicht durchsetzen, weil das Gefühl hilf- und tatenlos in einem Auto zu sitzen, und beunruhigen wird. Das wird sich in zwei, drei Generationen vielleicht ändern, aber es ist schon ein Unterschied ob ich Amazon ein Buch empfehlen lasse oder einer Maschine meine Gefässe anvertraue. (Ich entsinne mich gerade daran, dass in D etliche Krankenhäuser noch »Windows XP« als Betriebssystem haben...)
Womöglich führt irgendwann kein Weg an einem »bedingungslosen Grundeinkommen« vorbei. Bezahlt würde es mit simplem Gelddrucken (alle 20 Jahre dann eine Geldentwertung mit umfänglichem Nullenstreichen inklusive) – oder sofort der Abschaffung des Bargeldes, was eine vollkommene Entmündigung des Bürgers wäre. Aber natürlich alles zu dessen Besten. Dahinter sind die heutigen Bedrohungen durch Alexa oder Google ein Kindergeburtstag,
Handwerk (ich bleibe beim Dachdecker) wäre dann ein Luxusgut. Eine akademische Ausbildung unnötig – eine Handwerks- und Ingenieursausbildung würde eine neue Oberschicht kreieren. Wer sich die fremde Hand nicht leisten kann, wird degenerieren.
Handwerker wird es geben, wahrscheinlich, und bezahlt werden sie vom Geld des Grundeinkommens, warum nicht? Oder Geld im heutigen Sinn wird gar nicht mehr verwendet (wie im kommunistischen Traum), es wird einfach nur geschaffen und das Schaffen wertgeschätzt.
So oder so, das sind Utopien, denen die derzeitige Entwicklung ganz und gar nicht zustrebt. Das hat wenig mit Digitalisierung zu tun (die übrigens auch die Finanzmärkte durchdrungen hat), mehr mit der 99-percent-hegemonialen Ideologie des Neoliberalismus (sorry für den Begriff, wenn es einer ist).
Das Grundeinkommen deckt nur Grundbedürfnisse ab. Bereits heute sind Handwerkerstunden zumeist teurer als Angestelltenstundenlöhne. Einzig die Beschäftigung mit dem Mensch (Altenpfleger, Krankenschwester) ist chronisch unterbezahlt. Das wird sich auch ändern.
Die Digitalisierung beschleunigt die Mechanisierung (altertümlich ausgedrückt) von Vorgängen. In den 1970er Jahren bekam ich der Schule »Automation« gezeigt: Maschinen übernehmen Aufgaben von Menschen. Das galt als immenser Fortschritt. Bereits damals tauchte vereinzelt die Frage auf, inwieweit die wegfallenden Arbeitsplätze kompensiert werden können. Zum großen Teil ist das gelungen (außer dort, wo die Politik eingegriffen hat – bis 2005 konnte man noch »Bergmann« lernen, obwohl das Ausstiegsdatum schon vorlag). In den 2000er Jahren wurde das Dienstleistungszeitalter ausgerufen. Das ist gründlich schiefgegangen – nichts ist weniger vorhanden als eine (bezahlbare) Dienstleistung. die Digitalisierung frisst inzwischen ihre Kinder. Und nicht nur Banken und Versicherungen setzen in großem Stil Arbeitsplätze frei. Noch läuft das in D sozialverträglich. Aber die nachfolgenden Generationen werden keine festen Erwerbsbiografien mehr haben. Wichtig ist nur, dass sie sich alle zwei Jahre ein neues Smartphone kaufen können.
Gregor Keuschnig – das ist die korrigierte Fassung meines Kommentars von 23:00
@ Leopold Federmair, Gregor Keuschnig und die_kalte_sophie und Milena Findeis
Vorhersagen sind schwierig, weil sie die Zukunft betreffen (fälschlich Mark Twain zugeschriebener volkstümlicher sehr beherzigenswerter Spruch, wie ich finde). Man kann sich lächerlich machen, wenn man Dinge vorhersagt, die dann nicht eintreffen.
Das Verschwinden der Arbeit – ah ja: Es wird seit einem Menschenalter prophezeit. Sie nimmt ab, das ist wahr, aber daraus abzuleiten, dass sie verschwinde, ist falsch. Der neueste irrende Prophet war im Juni der italienische Philosoph Ferraris in der NZZ – haargenau im digitalen Kontext – und im Kontext des Verschwindens der Sozialdemokratie.
Tatsächlich ist die Sozialdemokratie in vielen Ländern abgerückt von der produktiven Sphäre. In Deutschland gibt es prominente Sozialdemokraten, die es als veraltet bezeichnen, die produktive physische Sphäre körperlicher Arbeit überhaupt noch als Wählerspringquell im Auge zu haben. Derlei habe sich ohnehin bald erledigt, ne. Die allerneuste Zeit ziehe bei den Dienstleistern, Transfergeldempfängern und sonstigen alimentierten Klassen ein, wie dem Gros mittlerweile der Medien- und Kulturschaffenden.
In diesem Denken wird das Ineinander von physischer Arbeit und z. B. einem hohen Grad an Digitalisierung, wie es die Schweiz in der Tat kennt und pflegt, verabschiedet. Das ist die Rache der im Sinkflug begriffenen Sozialdemokratie an ihrer sie verlassenden ureigenen Klientel. Die Idee, BMW zu vergesellschaften hat da gerade noch gefehlt und trieb die physisch Arbeitenden erneut weg von der SPD – als ob sie die im Namen Gretas einfach aufopfern müsse, denn im Grünen liege sowieso das zukünftige Heil...
Jordan B. Peterson hat einen Großteil der mit diesem Vorgägngen verbundnen Probleme durchdacht. Er verweist immer wieder auf die physische Realität als Prüfstein (Goehte) jedweder (sozialen) Reformidee.
In Joe Rogan’s 15 Millionen mal aufgerufenen Podcast #1208 (!) – den ich der Aufmerksamkeit des hiesigen Publikums empfehle, besprechen Joe Rogan und Jordan Peterson genau diese Dinge: a) Die Sozialdemokratie, wo sie wie in den skandinavischen Ländern sehr erfreuliche Dinge hervorgebracht hat b) die Funktionalität der Digitalisierung, deren notwendige Überprüfung ein Ineinander von physischer und digitaler Erfahrung verlangt, sowie c) eine entsprechende Kinderererziehung ( k e i n e Smartphones für Kinder! – was der ehemalige Preisboxer Joe Rogan seiner Kinderschar gegenüber scheints tatsächlich – durchboxt...) d) einen linken Utopismus, der zunehmend via allein seligmachender grün gefärbter Gleichheit den Kontakt mit der produktiven und funktionalen gesellschaftichen Sphäre verliert und sich in einer aggressiven linken Selbstverstrickung verliert, d. h. destruktiv wird.
Die entscheidenden Faktoren, die Peterson ausmacht sind: a) Unverhältnismässige Bevorzugung von Marx gegenüber Pareto (wird derzeit auf sciencefiles erörtert) b) Entfremdung des linken narzisstischen gruppenidentitären Bewußtseins vom durch die physische Realität geerdeten Dachdecker (z. B.), Farmer usw..
Die linke Ignoranz gegenüber komplexen funktionierenden Systemen (das ist die Stelle, wo Enzensberger die Herren Marquart und Luhmann und Baecker gegen die postmoderne Öffentlichkeit in Stellung bringt, nebenbei gesagt. Es ist wie Gadamer beobachtet hat: Sein Hermeneutischer Hauptsatz: Die guten Autoren konvergieren. Mein aktueller Anwendungsfall: Jordnan B. Peterson, Hans M. Enzensberger).
Schließlich diskutieren Peterson und Rogan den Sozialstaat und die freie unzensierte vernünftige Rede als Lebenselexiere demokratischer Gesellschaften im Kontext des digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit.
Insbesondere diskutieren sie den Niedergnag der etablierten Medien und einen bizarren Effekt, den die digitale Welt-Öffentlichkeit nach Peterson (und Pinker) hervorbringt: Nämlich die mediale Fixierung der unter enormen Konkurrenzdruck geratenen etablierten Medien auf die gesellschaftlichen dysfunktionalen Extreme und die aus diesem Quoten-Trick sich – scheinbar logisch!! – – ergebenden Rufe aus den etablierten Medien heraus nach einer Beschränkung der freien Debatte – nicht zuletzt im Internet.
Dieser letztere Punkt ist doppelt schädlich: Er gebiert riesige Ungeheuer, wo lediglich Verwefungen stattfinden, und er gefährdet aufgrund dieser selbst-induzierten großen Fehldiagnose das demokratische Lebenselexier der freien Meinungsäusserung und: Er nutzt die von den etablierten Medien und Parteien erzeugte (!) Panik, um eine sinnvolle Transformation zu unterbinden, nämlich – schon wieder dieses Wort: – Den absolut notwendigen Rückbau nicht nur der Printmedien, sondern auch des ÖR – eines anderen »sanften Monsters«.
Joe Rogan macht als Ein-Mann-Unternehmung etwas, das mehr Hirnschmalz enthält als ganze Heerscharen von Öffis hervorbringen, und sein Aufwand, wie auch der des vergleichbaren Internet-Talkers Dave Rubin oder Jordan Petersons mit seinen Videos ist verleichsweise mikrosopisch. – Der ganze Studio-Budenzauber der Öffis erweist sich, gehalten an solche Qulität (!) und an solchen Output, als überlebt. Bleibt nur noch das Problem der Abertausenden von Öffi-Bediensteten, die sich an ihr ganz persönliches Lehen in Form eines materiell weit überdurchschnittlich bezahlten Medienschaffenden natürlich gewöhnt haben.
Die Heroen des Internet schlagen die Öffi-Angestellten in Sachen Effizienz und in Sachen Niveau – und senden auch noch auf Spendenbasis – also auf der Basis freiwilliger Zahlungen. Für die Öffis und angestammte Printers wie die FR, SZ usw. – ein Alptraum, das kann ich sehr gut verstehen. Aber ich bleibe dabei: Auch hier ist ein Rückbau angesagt! (Modell: Der ÖR in der Schweiz, nebbich)
PS
Bitte das Wort Monster in der obigen Fügung vom sanften Monster nicht überlesen.
@Gregor
Grundbedürfnis Dach überm Kopf...
Das mit dem Smartphone ist vermutlich ein wenig zynisch gemeint, aber ich denke, diese Einstellung ist in einer volldigitalisierten Welt nur vernünftig. Das Smartphone ist die Allzweckmaschine, über die so gut wie alle Lebensfunktionen laufen. Diese sind ja zu einem Großteil geistig/kulturell/virtuell. Essen muß man immer noch, aber das S‑Phone schickt einen schon mal zur passenden/billigsten/schönsten Essensausgabe, teilt die Öffnungszeiten mit usw.
Off topic – @Dieter Kief
Lieber Herr Kief,
ich habe bereits mehrfach die Art und weise Ihrer Diskussionsführung, die zumeist sehr schnell ins argumentative Abseits und Hin zu Ihren kruden Beobachtungen führen, moniert. Ich habe daher Ihre Kommentare auf »Moderation« umgestellt, um solche ermüdenden Volten, die außer einen Blick in Ihre Weltanschauung zu zeigen ins thematische Nichts führen, zur Not einfach nicht veröffentlichen zu müssen. Mit Hinblick darauf, dass es sich bei dem Beitrag hier nicht um meinen Text handelt, habe ich Ihren »korrigierten« Kommentar dann doch soeben freigeschaltet. (Der andere ist gelöscht.)
Bitte berücksichtigen Sie, dass dies das letzte Mal ist, denn es geht hier nicht um das Referat irgendwelcher Podcasts ehemaliger Boxer oder um Ihr Bashing der Sozialdemokratie.
Schönen Sommer noch.
Der Traum von den gleichwertigen Lebensverhältnissen wird immer wieder kommen. Die Erwerbsarbeit muss natürlich gestützt werden, aber das Grundeinkommen ist ein falsches Konzept. Der Konflikt der Arbeit besteht zwischen Angebot und Nachfrage, also dem, was gefällt, und dem, was gebraucht wird.
Diesen Konflikt einfach aufzulösen ist eine klar sozialistische Idee: die Arbeit als autonome Erfahrung. Wäre schön, wenn die Folgen nicht so gravierend wären. Im Ernst: wie viele Kindergärtnerinnen und Dachdecker aus Leidenschaft blieben übrig?!
Ich bin ein bisschen unglücklich mit dem Themen-Verschnitt, weil die Automation und die Digitalisierung der Kommunikationsverhältnisse beide sehr stark unsere ökonomischen Vorstellungen prägen. Es ist schwer festzustellen, welcher Stressor überwiegt. Gregor hat das angedeutet: wer verdient mit der Digitalisierung sein Geld, womöglich gutes Geld?! Nur die Informatik.
Ich habe auch immer die »Kränkung der Automation«, den Ersatz der Arbeitskraft, und das Ende der Henry-Ford’schen Ökonomie im Hinterkopf. Da muss man aufpassen, dass man nicht über die Digitalisierung unwillkürlich wieder den Systemwandel herbeiredet. Alle Ökonomie im Kapitalismus hat den Angebotsüberhang. Es gibt mehr Brot und Fische, als wir alle essen können. Zum Nachteil der Fische, aber zum Vorteil der Verbraucher.
Der Konsum spielt in der Entwicklung der Netzökonomie ja eine eigenartige Rolle: zuerst wollten die Pioniere eine Schenkungsökonomie aufbauen, dann wurde aus dem Beschenken eine Gratis-Kultur mit Werbe-Suggestionen und Datenklau. Irgendwo dazwischen liegt die Welt der Billig-Flieger und Zero-Zins-Kredite. Die große Verführung liegt darin, dass ansatzweise alle teilnehmen können. Aber die Verteuerung der Lebensverhältnisse in den Ballungsräumen sprengt diesen Kindergarten.
Ich will nur sagen: es gibt sehr viele ökonomische Absurditäten im Moment. Ganz zu schweigen von dem ökologisch motivierten Hunger-Regime vor vollen Schaufenstern, das seine Motivation aus spätpuritanischen Quellen bezieht. Man will sich sogar die Kinder »sparen«...
Die Digitalisierung wird aber einen Systemwandel zur Folge haben. Unabhängig davon, ob man ihn herbeiredet oder nicht. Meine These geht ja dahin, dass man zu lange die Folgen wenn nicht geleugnet, so mindestens ausgesessen hat.
Die Frage ist, ob man den »Systemwandel« gestaltet oder ihn schlichtweg geschehen lässt. Für das erste wäre die Politik zuständig, die die Chancen und Risiken in den letzten Jahrzehnten nicht ausreichend gesehen und bewertet hat. (Teilweise aus Nicht-Kenntnis heraus; manche Abgeordneten ließen sich Mails lange Zeit ausdrucken.) Solche Phasen der Veränderung werden aber fast immer von ökonomischen Unternehmen forciert. Es ist dabei natürlich leichter Google oder sonstwen mit irgendwelchen Strafen zu überziehen und Geld zu entlocken, statt sie dauerhaft in neu zu schaffenden Regeln einzubinden.
@Sophie
Geld mit Digitalisierung verdienen in dem Bereich, der uns Usern sichtbar ist, z.B. Youtuber, Influencer, Fische, die in der Kulturindustrie zu schwimmen. Werbefritze, Werbetussis. Derzeit. Aber natürlich auch die IT-Firmen, Amazon und Google und FB sowieso, Digitalkonzerne, herkömmliche Konzerne, sofern sie sich den Entwicklungen angepaßt haben.
Kindergärtner wär ich übrigens gern. Zum Dachdecker eigne ich mich nicht. Kompetenzen, Talente – das bleibt ja gegeben. Aber ob danach gefragt, nachgefragt wird. Aus der subjektiven Perspektive: Kann man die Talente überhaupt noch nützen? Von »meinen« Studenten, die alljährlich von der Uni abgehen, verschwinden an die 100 Prozent in »Firmen«, als »Angestellte«, wo sie nach allem, was mir bekannt wird (und das ist nicht viel, man spricht nicht darüber), sinnlose »Arbeit« tun. Die Hälfte von ihnen könnte man »einsparen«, nach meinem Eindruck. (Gänsebeinchen über Gänsebeinchen.) Nach vier, fünf Jahren Wartezeit eingespart. Das ist die Zukunft der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft. Anders gesagt: Nach 23 Lebensjahren im Nichts verschwinden. Ich rede von der großen Mehrheit. Den Überflüssigen.
Gut, den Kern eurer Argumentation verstehe ich. Die Erwerbsbiographien werden löcherig, die berufliche Identität fluktuiert. Aber in der ökonomischen Theorie gibt es keine überflüssigen Berufe. Allenfalls Wandel auf den Märkten und Auslaufmodelle.
Ich komme nicht dahinter, ob der annocierte Systemwandel (@Gregor) nur die berufliche Identität oder auch die »Bezahlschranke« betrifft. Wer bezahlt wird, der schafft auch einen Nutzen; so fragwürdig der Nutzen in manch anderer Hinsicht sein mag. Natürlich gilt die sozialistische Umkehrung nicht: nicht jeder, der bezahlt wird, schafft »automatisch« einen Nutzen...
Die Sache mit den Talenten lasse ich mal beiseite. Jede individuelle Entfaltung geht einen Kuhhandel mit der Realität ein; nicht mal Leute wie Goethe und Gauss waren davon befreit. Ich kenne natürlich das skeptische Argument, dass Menschen in prekären Verhältnissen nicht besonders »politik-tauglich« sind, weil sie die Freiheit nur negativ erleben, aber das ist in Zeiten der Digitalisierung keine eigenständig neue Dimension. Darum geht’s jetzt seit 200 Jahren, vergleiche gerade gestern die Einlassungen von Magro in der SZ und von Bruckner in der NZZ.
Bei der Regulierung von Konzernen kann ich beipflichten. Ich denke an Microsoft und die Datenkraken. Facebook ist eine Orchidee, das kann auch mal wieder verschwinden. Aber Betriebssysteme und Suchmaschinen sind systemrelevant. Da müsste man rangehen.
Und mal eine ganz praktische banale Erfahrung im Alltag, die ich aber wie ein Wetterleuchten der vergewohltätigenden Seiten der KI (künstlichen Intelligenz) mitsamt seinen Algorithmen erlebte:
Ein Mietauto der einfachsten Klasse, damit eine im entlegenden ländlichen liegende Straße entlanggefahren. Diese Art von Straßen haben auf Grund der geringeren Nutzung, wegen der Distanzen zwischen Nutzer, auch weniger Wartung, sind aber öffentlich. Dadurch gibt es viele Schlaglöcher. Diese habe ich dann immer wieder mal umfahren. Dafür wurde ich jedesmal per Klingelton von der IT-Auto-matik gerügt. Zu guter Letzt wurde mir dann ein Fahrstopp zwecks »Regenerierung« dringend empfohlen. Das Umfahren von Schlaglöchern hat die starre künstliche Intelligenz-sic!!!- nicht eingespeichert, nicht erkannt.
Solche Beispiel absurder »intelligenter« Einmischungen in den Intelligenten Lebensfluß die einem freien Individuum die Haare sträuben läßt wird es in Zukunft immer mehr geben, auch wenn die KI mit Daten weiter aufgepeppt werden wird.
oh wie schön ist doch die Neue Welt........
@I.W
Es ist natürlich denkbar, daß intelligente Systeme auch die von Ihnen geschilderte Situation speichern, d. h. lernen. Wir stehen bzw. die IT steht in dieser Entwicklung ja erst am Anfang.
Trotzdem teile ich Ihre Skepsis. Im Grunde lächele ich täglich und ärgere mich täglich über die Einmischungen dieser Besserwisser. Einmischungen in mein Leben, und zwar hartnäckig. »Personalisierung« nennt sich das und wird uns vom Konzern (also vom System) als Service verkauft. Und es ist in vielen Fällen auch ein Service, ein Dienst. Beispielsweise bei Emails korrigiert mir das System seit einiger Zeit »Fehler«, z. B. werden mir viele englische oder französische Wörter großgeschrieben, wenn ich in diesen Sprachen schreibe. Das System geht davon aus, daß ein dummer User nur eine Sprache beherrscht. Manchmal weiß ich auch in so einem Mikrobereich nicht, ob der Zugriff der Algorithmen Fluch oder Segen ist (denn viele Fehler werden mir ja mit Recht korrigiert).
In diesem Forum diskutieren anscheinend nur ältere Semester, und Pädagogen dürften kaum unter ihnen sein. Vielleicht hat auch niemand Kinder. Andernfalls würden sie sich mehr Gedanken machen, was die Hypertrophie der Diensleistungen, der Algorithmen, Roboter, automatisierten Systeme, Sprachassistenten bei den nachfolgenden Generationen bewirkt, die gar nichts mehr »können« müssen, z. B. autofahren, die Umgebung erforschen oder die Wetterentwicklung beobachten, sich Wege suchen usw. usf. Wir Älteren haben da noch viel eher die Freiheit, Verfluchtes abzulehnen und vom Segen zu profitieren.
Gregor Keuschnig #16 und die_kalte_Sophie #9 Leopold Federmair #19
Ich habe mich mit meinen leider ein wenig ausführlichen Bemerkungen zu Joe Rogan in meinem #14 auf #9 von die_kalte_Sophie bezogen, die Rogan dort sehr gelobt hat.
Rogans zum Teil dreistündige (!) Podcasts haben derzeit über 200 Millionen Aufrufe / Monat (manchmal dreihundert Millionen). – Vollkommen an den etablierten Medien vorbei. Das ist es, was ich den digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit nannte.
Da ich mich mit Günther Nenning, Bruno Kreisky, Helmut Schmidt und Willy Brandt auf die soziademokratische Tradition bezog – auch auf Johannes Rau, auf Ihre Anregung hin, Gregor Keuschnig, – und nun auf die Sozaildemokratische Regierungschefin Mette Frederiksen und deren bedeutenden sozialdemokratischen intellektuellen Vordenker Thilo Sarrazin, bin ich nicht anti-sozialdemokratisch. Auch das von Ihnen bei der Ebert-Stiftung verlinkte Papier über die Herausforderungen des Populismus habe ich zustimmend aufgegriffen.
Den Spekulationen über das Verschwinden der Arbeit im Kontext der Digitalisierungsdebatte wie sie hier, zuletzt von Ihnen, Leopold Federmair mit Blick auf Japan in #19, aber auch von Maurizio Ferraris in der NZZ immer wieder ventiliert werden, stehe ich – belehrt durch die Debatten über André Gorz’ sozusagen parallele Überlegungen, aber auch aus grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber ungesicherten Prognosen, skeptisch bis ablehend gegenüber.
Mir lag sehr viel näher, was Peter Glotz zu diesen Dingen in konkreten Kontexten der Industrie- und Bildungspolitik (nicht zuletzt der universitären Elitenförderung) vorgebracht hat – obwohl er da oft einen pas-de-deux mit – - – horriblie dictu?! – - – Edmund Stoiber aufs Parkett gelegt hat.
Wenn man sich vollkommen einig wäre, bräuchte es keine Debatte. Peter Glotz hat das gewusst. Dessen Geistesgenwart vermisse ich.
Doch noch eine Bemerkung zu Ihrer Frage, die_kalte_Sophie, wo denn der Deutsche Joe Rogan wäre: Don Alphonso hat es probiert mit einem Podcast, ist aber gescheitert; die FAZ hat es probiert: dito. Das ist offenbar nicht so einfach.
»In diesem Forum diskutieren anscheinend nur ältere Semester, und Pädagogen dürften kaum unter ihnen sein. Vielleicht hat auch niemand Kinder. Andernfalls würden sie sich mehr Gedanken machen, was die Hypertrophie der Diensleistungen, der Algorithmen, Roboter, automatisierten Systeme, Sprachassistenten bei den nachfolgenden Generationen bewirkt, die gar nichts mehr »können« müssen, z. B. autofahren, die Umgebung erforschen oder die Wetterentwicklung beobachten, sich Wege suchen usw. usf. Wir Älteren haben da noch viel eher die Freiheit, Verfluchtes abzulehnen und vom Segen zu profitieren.«
Ich habe gestern überlegt, dazu einen Kommentar zu schreiben, es dann aber gelassen. Mir schien (und scheint), dass die Diskussion am entscheidenden Punkt vorbeigeht: Die hektische Lebens- und die digitale Bilderwelt sind ein massiver Angriff auf die symbolbildenden Fähigkeiten und die ästhetische Wahrnehmung, nicht nur, aber vor allem der Heranwachsenden. Die technische Kultur wendet sich gegen die Grundlage der Kultur, das innere Bild, als das in der Ontogenese zuerst entwickelte Symbol, auf dem die Sprache und das symbolische Denken ruht. Das symbolisch ungeordnete, besser wohl unintegrierte, Innere so vieler Kinder (mehrheitlich Buben) korreliert mit Aufmerksamkeitsschwäche und Hyperaktivität (»ADHS«). Der Mensch in der digitalen Moderne ist ein abwesender, nie dort wo er sein könnte, nicht verbunden mit demjenigen, dem er begegnet. Aber nicht, weil er träumte, sich in seinen Phantasie verlöre, sondern weil ebendiese weitgehend durch ungleich brillantere Bilder externalisiert wurde. Dieser Externalisierung, diesem Gewinn einer phantastischen, anziehenden Realität, folgt eine Innere Leere, ein unverdichtetes Wirrwarr in dem sich im Wachzustand die unverarbeitete Welt der Bildschirme aufs Neue erhebt...
@mete Im Moment sind die Erfahrungen resp. die symbolische Armut der jüngsten Generation noch redundant. Wir haben ja eine 4‑Generationen-Pyramide aufgetürmt. Rein statistisch, werden die »Techno-Snowflakes« erst in 50 Jahren zu Wort kommen resp. ihre Wortführer bestimmen.
Meines Wissens ist das kulturell ungeformte Unbewusste zu allerlei Wildwuchs in der Lage, da sich die symbolischen Anlagen des Menschen nicht einfach still legen lassen. Deshalb sind Leere und Oberflächlichkeit kein schlimmes Schicksal, auf der kollektiven Ebene... Das könnten ja auch Ungeheuer sein, die daraus hervor gehen. Aus Kindern werden Monster. Es könnten neue Mächte kommen, die den Monstern raffinierte Spielzeuge verkaufen und die Abwehr von Katastrophen versprechen.
Pädagogen machen sich berufsbedingt viel Sorgen um den Nachwuchs. Ich teile aber die Sorge um die verordnete Deterritorialisierung, zu deutsch: Vertreibung aus den Landschaften. Das schließt die Themen des Wissens und der Zugehörigkeit (Identität) ein. Die gängige Welt-Formel »Individuum gehört zur Menschheit, es sei denn, es handelt sich um ein Minderheiten-Subjekt, dann müssen die Schuldigen gefunden werden«, spricht eigentlich nichts an von dem, was wir in den Büchern finden. Das ist schon eine Prothese.
Vorallem aber muss man Landschaften, eben auch geistige Landschaften aktiv erforschen, und erobern, das bekommt man nicht zusammen mit einem Gratis-Menu. Es ist doch diese finale Perspektive, die wegbricht, oder?! Das Ziel, das letzte Ziel wird in Vergessenheit geraten.
Es gibt einen inneren Symbolraum eines jeden Individuums und einen äußeren, die Erscheinungsformen des letzteren sind das, was wir Kunst und Kultur nennen. Beide hängen selbstredend zusammen, verkürzt kann man sagen, dass die Innenwelt eines Individuums in der Kultur eine äußere Form findet. Es geht weniger darum, dass die symbolischen Fähigkeiten stillgelegt werden, sondern verkümmern, respektive überlastet sind. Die Folgen sind nicht nur eine innere Leere oder Armut, sondern auch eine Unfähigkeit mit den Widrigkeiten des Lebens zurecht kommen zu können. Dass es Monsterkinder gibt, kommt ja auch daher, dass diese nicht mehr verarbeiten können, was ihnen gleichsam zustößt. Ein Kind, das einen Tobsuchtsanfall bekommt, weil es etwas im Moment nicht erhält, hat nicht gelernt sich im symbolischen Innenraum über eine Vorstellung, ein Bild, darüber zu trösten. Ihm bleibt nichts anderes, als die aufgestauten Energien in (auffälligen) Verhaltensweisen loszuwerden. Es muss seinen Frust ausleben, anstatt ihn aufbewahren zu können, in einen Bild zu verschieben und sich dadurch davon zu befreien. Ich möchte da widersprechen, das ist auch auf der individuellen Ebene ein Unglück, das Monstersein ist Zwang, ist Unfreiheit.
Eine Aneignung, eine Erschließung, eine Auseinandersetzung hat Voraussetzungen und ist nicht als Bestellung zu haben, ich gebe Ihnen uneingeschränkt recht. Daraus entsteht Zugehörigkeit, die Kultur in die man gefallen ist, wird bewusst »gesichtet«, erlesen, erhört, usw. Manche Menschen haben in zwei Kulturen eine Heimat gefunden oder Bindungen an diese, aber man kann nicht allen zugleich zugehören, es sei denn sie würden auf eine reduziert. Die Gattungszugehörigkeit (»Individuum gehört zu Menschheit«) muss von daher abstrakt bleiben, die tatsächliche Zugehörigkeit ist immer kulturell grundiert und trotz Durchlässigkeit einschließend, ja zusammenfassend.
@mete Schöner Kommentar. Ich liebe die Beschreibung vom Monster-sein, als Zustand ungebildeter Unfreiheit. Das ist das Gegenstück zu Rousseau.
Jeder symbolische Raum, gleich ob Literatur oder Religion, bietet die Möglichkeit, sich von seinen Erlebnissen zu distanzieren, und die Unmittelbarkeit in der Anschauung (Externalität) aufzuheben.
Ich frage mich aber, ob man den abendländischen Kulturraum wirklich ausschließlich mit Literatur und Kunst bestreiten könnte. Ich finde da sehr viele Heroen und Heroinnen, ja eine ganze Angeberei der Stärke und Individuation. Es gibt aber kaum sinnvolles Scheitern, außer Don Quichotte. Verdrängt man dann noch die religiöse Sphäre, dann steht die Kultur etwas (naja:) verwegen aber ohnmächtig da... D.h. der eigentliche Heroismus wird auf eine merkwürdige Weise in die Innerlichkeit verlegt, als jene schwer begreifliche Kunst im Umgang mit sich selbst (Foucault), und jeder fragt sich, wie ernst bzw. existenziell notwendig dieser kulturelle Auftrag eigentlich sein soll.
Ich möchte das nicht als saloppe Kritik am Westen verstanden wissen, bitte nicht falsch verstehen. Dieser Auftrag ist natürlich ernst gemeint. Aber ich möchte die Ausräumung der Religion aus dem symbolischen Raum deutlich in Frage stellen. Natürlich wird @Leopold wieder seine Abneigung dokumentieren, aber ich halte das für schlichtweg illusorisch, eine zukünftige Kultur ohne Religion zu entwerfen. Ich bin nicht gläubig, aber ohne die frühen kirchlichen Erfahrungen wäre ich weitaus weniger besorgt um das große Ganze...
Hier liegt womöglich der Dreh- und Angelpunkt für den Konservatismus, der die Religion wenigstens in ihrer symbolischen Macht würdigt, während die libertären Strömungen stark das heroische Ideal betonen.
@die_kalte_Sophie
...ich halte das für schlichtweg illusorisch, eine zukünftige Kultur ohne Religion zu entwerfen...
Schöner Punkt, aber ich glaube, der Zug ist – um ebenfalls salopp zu antworten – abgefahren. Ich erinnere mich an einen Text von Botho Strauß, in dem er muslimische Migrantenkinder und ‑jugendliche beschreibt, die ihre Verachtung für die säkularen bzw, atheistischen gleichaltrigen Deutschen artikulieren. Wobei die Verachtung sich nicht gegen die Personen richtet, sondern gegen ihre mangelnde Fähigkeit, an ihren Wertvorstellungen festzuhalten.
Die Religion ist tot. Was bleibt, ist ein Bedürfnis an Transzendenz – wo immer man es auch findet. In Anlehnung an den Thread hier könnte man beispielsweise die Digitalisierung und die damit verbundenen Freiheiten sehen (die dann ganz schnell wieder kommerzialisiert wurden). Konsum ist eine solche Ersatzreligion. Oder Nationalismus. Oder Kommunismus. Alleine: Diese Dinge befriedigen nicht auf Dauer. Das Wesen der religiösen Transzendenz liegt in ihrer Verheißung. Daher ist aller Satz, muss alles »Weltliche« früher oder später scheitern. Der Tod der Religion in den westeuropäischen Gesellschaften hat die Welt entzaubert.
@Sophie
Ich bezweifle auch, daß eine Welt ohne Religion, wie sie sich im Westen jetzt abzeichnet, eine bessere sein wird. Problem: Daß man eine Religion heutzutage nicht einfach so stiften kann. Hat Nietzsche versucht, mit mäßigem Ergebnis. (Von den diversen Gurus will ich nicht reden; in Japan hatten wir einen, der wurde kürzlich gehängt.) Unser beider Erfahrungen, Religion betreffend, sind vermutlich ähnlich. Ein vernünftig denkender Mensch kann nicht an Gott glauben. Und doch eine nicht auszurottende Sehnsucht...
@die_kalte_Sophie
Gegenstück insofern, als Rousseau den Menschen einseitig bestimmte und diese Verkennung in totalitäre Gefilde führte (und führen musste). Der Mensch ist immer beides, Natur und Kultur.
Sie haben auch mit Ihrem Hinweis auf die Religion recht. Vielleicht war es das Wort »Entzauberung«, das mich gestern Abend unbewusst auf den Ausgangspunkt hinwies: Bei vielen Romantikern waren Kunst und Religion selbstverständlich und gleichsam nebeneinander. Ich meine nicht Kunst als Religion, das wäre eine Verirrung, aber sie zehren vielleicht von derselben Quelle. Bei Kindern spricht man von einer magischen Phase, in der sie die Welt als lebendig oder beseelt empfinden. Viele Erwachsene haben diese Art des Empfindens verloren, es ist der Gegenpol zur Rationalität (und daraus folgend Instrumentalität), eine sich aufdrängende, sinnlich wahrgenommene Intensität, legiert mit dem Innenleben des Subjekts (ist das im Keim schon Transzendenz?). Nachvollziehen kann ich, dass ein Subjekt sich mit der Welt verbunden fühlt, als handelndes in ihr anwesend ist; ebenso ein Fühlen, dass da etwas anderes sein könnte, aber die Personalität und die Konkretion einer Gottesvorstellung nicht mehr (obwohl deren Eigenschaften in manchem Bauwerken, Kirchen vor allem, wiederum deutlich werden). Und unweigerlich hat Gemeinschaft auch damit zu tun.
Konservatismus ist dort, wo er den Fortschreitenden das Unverbrüchliche entgegenhält, bedeutsam, weil es dann nicht nur um eine (beliebige) Bestandswahrung geht, sondern zugleich um eine Utopie.