(Nicht) in Stein gehauen
Und die Musik? Das ist die, die wir auch sonst aus unseren Nachtfahrten hören: 60er. Keine Farben mehr, ich will, dass sie alle zu schwarz werden. Als hätten wir, auch musikalisch Heimatlose, da noch irgendwelche Anschlüsse zu schaffen. (Dabei sangen wir längst lauthals mit. Es war das ein bisschen wie mit dem eher wenig geschätzten, aber dir einzig vertrauten Song in der Jukebox, und wenn ihn dann einer drückt, kannst du seine Eingängigkeit nicht verweigern.)
Weithin ragende Turmaufbauten über der Landschaft, schwarz. Schwarz verwucherte Vegetation der Gleisanschlüsse. Auf den Rollstahltüren der Fabriken ein schwarzer Auftrag, der sogar die Graffitis verschluckt. Noch das Quarzglas der Oberlichter in den Maschinenhallen war schwarz angelaufen gewesen, und jeder verirrt in die Augen treffende Lichtstrahl wie ein Träger der Idee, er müsste aus jungfräulicheren Welten sein. Mit schwarzen Fingerrändern.
Klar, dass einem auch die Gifte, dauernd eingespeist, zu homöopathischen Lebensstoffen werden, nach denen es einen verlangen muss, werden sie einem dann entzogen. Und dass einer jeder seinem Verfall auch seine eigene Poesie abgewinnen muss. Radium gewinnen. Bilder kamen mir von öl-schlickigen Herzkammern mit vor Drang schwarz quellendem Blut, von unterm kochendheißen Wasserstrahl dampfenden Männern, die wieder zu weißen werden, walspeckig wie Manatis, eine Seekuhart. Und zum Schichtwechsel ein Gleißen wie auf Schwarzteerschindeln an einem Frostmorgen, wie der Glanz auf den Schuhen, die Majakowski auf der Rodtschenko-Serie von ’24 trägt. – Aber auch das wohl schon zu pre-post retro-avant. Gesang von der Straße, und dann flogen schon Steine in unsere Fenster ...
Nach Regenfäule und Pflanzenasche hatte es gerochen, als wir eine Hintertreppe hinaufmussten, am Endstück einer Reihe von Sozialbaracken, deren nächste einfach fehlte, eingestürzt, abgeschnitten oder noch während irgendeines Vorkriegs da weggesprengt und nach ersten Aufräumarbeiten so belassen worden war. Auf der Außenwand hatte man an den unterschiedlichen Bleichgraden von Tapeten, an Nikotin- und Lebensniederschlagsfärbungen in (durch die Außenverwitterung noch einmal zart nachkolorierten) Nuancen die Puppenstubenumrisse der früheren Zimmer erkennen können. Und der Teil der Siedlung, der vorher, gleich an ein Gewerbeareal anschließend, vielleicht einmal besonders hatte darben müssen, bildete jetzt deren Ende und genoss die Aussicht auf eine geräumte und seitdem wild wuchernde Brache. Plattmachen – ein Ausdruck von hier. Und ich hatte die Aufsager der Malocher in die Mikrophone am Werksausgang nicht nur immer verdächtig stereotyp und einfältig, sondern auch noch weinerlich gefunden: Lieber wollten sie alle ihre stupide, lebensverkürzende Fron fortsetzen! (Und wir Heckys staublungenem Vater nacheifernden Raucher? Mach’ alles schwarz!)
Eine Reihe abgewohnter, lebensgeschwärzter Wohnhäuser also vor unbeirrbarem Grün. Und der Himmel über der Ruhr ist wieder blau? Frag nicht nach Sonnenschein! An eine Schulstunde meinte ich mich schwach zu erinnern, in der besprochen wurde, wie das vorzeiten (vor Generationen), mal ein Wahlslogan gewesen war – und dann war es zu meiner Zeit zu den ersten Smogalarmen und Autofahrverboten gekommen. Heimatkunde. Und niemand weiß.
Doch hatte ich, mit meinem Blick für Idyll und Reservate, auch sofort die Möglichkeiten gesehen. Denn von dieser teils weggehauenen, nicht einmal hohen Bude, von dem jetzt wie loggia-mäßigen Dach aus, überblickte man das ganze weite, von den Zurückgebliebenen annektierte Gelände. Dort standen jetzt die Taubenschläge und Kaninchenställe (und zwischen blühendem Distelwald sogar ein Bienenstock). Und mittendrin, in einer da hinein geschlagenen Lichtung, lag ein Versammlungsplatz, mit festgestampfter Erde eine Art Arena anscheinend auch für Schwof und Rickiticki. Und ein Maibaum durfte still verrotten.
Wohl eher ein Kral, wie Hecky gewohnt abfällig meinte. Aber für mich, erst recht am A der Welt, kam das heran an teuersten Rheinblick. (Und von nichts lebt unser charakterloses Heimatstädtchen so sehr wie von dem Fluss.)
Und dann, gerade als der Typ, ein Schlönz, anfangen wollte uns auf seiner ruinösen Veranda zu bewirten – natürlich musste es erst mal wieder dauern, bis die Ware herangeschafft war -, hatte Hecky mit einem Handwisch hin zu den bis nach dort oben nach Korrosion und Altöl riechenden Tankbehältern zwischen den Gräsern zu fragen sich nicht verkneifen können: Und was, wenn einer hier mal sein Streichholz fallen lässt? Mit kurz schmal werdenden Augen hatte der andere die nicht ganz auszuschließende Lesart an Drohung zwar registriert, aber sie als lediglich theoretisch erkannt. Und alles war gut gegangen, im Abbrennen eines doch noch beruhigend pünktlichen Sonnenuntergangs. Geradezu heiter, bei einem Glas Multivitaminsaft, hatte ich mich einem fast südlichen Gefühl überlassen. (Genauso wie ich mich, während der Vorbeifahrt einmal nahe eines gigantischen Industriekomplexes bei Ravenna, wie im Ruhrgebiet gefühlt hatte; nicht nur trägt man sein aufdringliches Vergleichswissen stets mit sich, es werden die Weltgegenden tatsächlich einander immer ähnlicher.)
Und jetzt, elektrisiert bis in die Haarspitzen, überlassen wir uns auf der Rückfahrt dieser Musik – und damit umso mehr den von einem Drang auch noch nach Fatalität in unseren Stoffwechseln fälligen Übersteigerungen. (Und müssen in unserer lärmigen, von anderen hoch-oktanigen Abbaugiften vorwärts gekickten Konservendose an Karre jedermann, der da draußen, umherirrend in seinem eigenen Dunkel, einen Blick auf uns haben mag, vorkommen wie seine nie zu fliehen gewussten Schrecken.)
Immerhin bei Dingen wie seinen Geschäften kann man sich komplett auf Hecky verlassen. Mönchisch, als hätte er mit einem Genie für die Gelassenheit sämtliche einschlägig zu absolvierenden (also zu vermeidenden) Gesten in sich aufgenommen und zu der einen anverwandelt, die zweifelsohne seine und also von allen die überzeugendste ist, beherrscht er das Zeremoniell, sein Geld hinzulegen und dabei auf die Gegenseitigkeit an nicht eigens hervorzukehrenden Freuden zu zählen: auf die über den reellen Tausch wie auf die über eine nicht weiter zu komplizierende Sache. Während mir in solchen Momenten fast die Existenz zur Verlegenheit gerät, mir das Saure der Banknoten, das Vergorene im Schweiß der eigenen Bangigkeit in die Nase steigt, mir ein vor Mangel an Verarbeitungsgeist gerade nicht hinreichend zu überschlagendes Muster im Teppich bewusst wird, das Knarren eines Stuhls, in dem Moment, als der darauf sein Gewicht verlagert, um nach etwas zu greifen ... mir tausend Details plus die ganze Abgegriffenheit solcher Genre-Szenen zu Kopf steigen. Ich hasse das. Amateur!
Zuviel Funkensprühen in unseren Hirnen, zuviel fossile Stoffe in unseren schwarzen Seelen. Zuviel hustende Kurzatmigkeit in unserer Leidenschaft. – Doch auch die Verderbnisse gehören zum Leben! (Sollen die Puristen doch an ihrer Anspruchslosigkeit verhungern!)
Oder zu viel Neo-Expressionismus, meint Hecky. Und was ist mit dem Film, von dem du eben geredet hast? – Zuviel Kolbenfresserei am Kleinhirn. Zuviel schneller Vorlauf an Gefühl. – Dabei fühlen sich gerade auf Speed mit seinen Gedankenfluchten bildhaft verknappte Übertreibungen oft irgendwie richtiger an. Und sowieso als die allseits durchgesetzte, allzu oft an sich selbst darbende Nüchternheit. Die Leute können eben oft nur die richtigeren Auslassungen nicht denken.
Hecky meint Lost Highway, der mich wirklich mal beeindruckt hat, und den ich neulich nachts, während irgendeiner Wiederholung, nicht mal mehr zu Ende ansehen mochte. Auf einmal sagte mir das alles nichts mehr, verschrobene Leitmotive, doppelt eingefaltete Plots, doppelt verwundene ödipale Dreiecke. Und die konnten Hecky eh noch nie interessieren. (Aber es meint auch meinen vorsichtig geäußerten, gewissermaßen schleichenden Unwillen an unserer Sache. An dieser Auto- als Ausdruck für unsere schon längst ein bisschen leerlaufende Nerven-Raserei. An den klaustrophischen Plots, in denen wir selber stecken. Oder uns manchmal mutwillig hineinmanövrieren.)
(Und etwa an dieser Stelle geht mir auf, wie auch Silvana und die anderen Rufmädchen, wie auch Hedda oder die Drogeriemarkt-Bovarien, die wir sonst so aufreißen ... wie sogar das sein Wunder ausnehmende Kind irgendwie Lynch-hafte Protagonisten darin sind. Reißbrett-Dreiecke auf einem Messtisch, den niemand mehr überschaut. Und das womöglich genau deshalb, weil das sonst Unausweichlichere fehlt, das Schicksalhafte. Das Hindernis auf der Straße, das Gehauensein an den Stein. Todsicher wie das Rezept zum Happyend: dem mit unentrinnbarer Paarbildung. Fi-nal-mente, wie Hecky – mit einer leicht giftigen Betonung der einzelnen Silben – gern sagt. Und ich denke dann wirklich noch manchmal an den Abspann alter italienischer Filme.)
Vielleicht wären Krankenschwestern ein Kompromiss? Aber verfügt man erst über einen verlässlichen Nachschub an Drogen, braucht es auch (fast) keine Freundinnen mehr. Und gibt es überhaupt noch was anderes als Genre-Vorlagen, die sich unseren Leben unterlegen? Dabei ist Leben schon immer das Hinterher aller Vorgängigkeit: Unabwendbar, und Liebe, der Unfall, das darin Auserzählteste überhaupt.
Ja, aber die Leute verlangt es trotzdem danach, immer wieder! Hecky schlägt einmal zum Nachdruck aufs Lenkrad. Dann noch ein weiteres Mal wegen meiner Begriffsstutzigkeit. Es ist eben auch so ein Stoff – was zur Erfrischung und zum Wechseln. Fürs Nervenkostüm, dem doch auch dauernd das Brennendere fehlt!
Ja, schon klar. Nur ist, mit diesem Anschein an Ausweglosigkeit auch in ihren Variationen, noch unserer eigenen Story neuerdings etwas Ungesundes untergemischt – und das erklärt sich nicht mit der bloßen Wiederholungssucht des Nervensystems. Und auch nicht mit der Warnung an mich, diese Art Beschleunigung langsam mal runterzufahren: Ist doch auch die Überholspur nur so eine Redensweise, und sind alle Redensweisen ihrerseits verstopft.
Während immerhin die Straßen nachts frei sind, für Bewegung und ein paar rasch zu wechselnden Kulissen im Kopf. – Man müsse die Zentren der Städte abreißen, hatten einmal als visionär geltende Urbanisten gesagt, man müsse zumindest die Kapillare zu Arterien erweitern, damit der Verkehr gelöster hindurchfließen kann. – Klingt ja fast nach ... ? Genau, nach Futurismus, einem Vorläufertum unseres forever young, für immer eilig. Nach frühen Speedkids der Theorie. Und dann ist es nie genug mit dem Erweitern, mit dem Beschleunigen, mit dem Monomanen der Maschine ... mit der Totalmobilmachung dann in bald sämtlichen ihrer Blutzufuhren: Wir sind schon auf Fluchtgeschwindigkeit heißt es, und noch die unabsehbaren Gegenwarten, demnächst auch sämtlich parallel geschaltet, sind bald zusammengepresst auf das Null-Intervall. Vielleicht ist es das – und wie es sich auf nichts eigentlich richtet -, das einen irgendwann auch an den Avantgarden so furchtbar müde werden lässt.
Doch kann auch niemand, der sich voraus glaubt erst noch umständliche Rücksichten nehmen. Und das jeweilige Narkotikum der Schaffensdränge überschreibt alles, noch die Wut der Verwirklichungen, die Arbeit des Aufeinanderfolgens – alle Mythen sind anachronistisch, jede Geschichte ist besser als keine Geschichte, was besteht und beharrt, muss im Unrecht sein.
Wie ja auch die tatsächliche Droge alles überschreibt – und noch Trieb und Gefühle, limbisches System, und damit fast alles, nach dem es sonst noch das eine oder andere Verlangen gibt. Das einen aber nur anderswie unfrei macht (wenn man mal eine Zeit lang heraus einem Fliegenwinkel darauf starrt). Oder eben freier, indem es das eine Verlangen zugunsten aller nivelliert und damit ein jedes gegenüber allen anderen erleichtert? Der Vorteil des Einen ist immerhin Gewissheit. Nur radiert sich mit dem Überschriebensein ein für alle Mal dann auch der neuerlich grundlegende Text nicht mehr so einfach aus. – Und ist, sozusagen, Fundamentalismus ein Stoff-Wechsel-Problem?
Du meinst von Mobil zu Total? Wir lachen, aber ... es bringt mich gleich wieder auf meine Angst auch vor dem Einen. Auf Furcht und Zittern. Vor der einen Liebe, dem einen Verlangen, der einen Unumstößlichkeit. Dabei ist der Drang hin zum Ausschließlichem vielleicht so etwas wie ein Programm? Eine Art Tendenz der Organisation von Tendenzen, weg von der Komplexion hin zur wünschenswerten (oder selber umfassend zu werden wünschenden) Eindeutigkeit? Zum Finalment! Ja, von mir aus. Und die eine Sucht danach, die es mehr oder minder stark in mehr oder minder jedem von uns zu geben scheint, ist nicht die nach einem Stoff, sondern nach der Auflösung darin, in diesem Einen? Der erste Kick, das erste Schauermachende als die erste Hormonausschüttung? Im Intrauterinen? (Hör bloß auf!, meint Hecky: Bei so was schüttelt es ihn; er behauptet, er hätte auch seine Mutter schon immer gehasst.) Na gut, dann eben im Ozeanischen. Jedenfalls muss dieses Eine Beweis / Proto-Objekt / Ersatz immer auch für das Versprochene sein – genauso wie, im Gewaltakt der Vereinseitigung, für auch immer wieder das Falsche! (Das Ungenügende.)
Bei aller Überwachheit, bei aller Euphorie der Gedankenfluchten zwischendurch ein bisschen trüb auch in meinem Schwebeteilchenbad an Sinnieren, schaue ich in die Nacht, als müsste es jeden Moment von dorther kommen. (Die Nacht, die auch ein Meer ist, wie die Leute am Meer immer aufs Meer hinausschauen, immer, als müsste es vor ihnen, aus dem großen Augenlosen heraufsteigen.) Auf das Morsen der weißen Fahrbahnstreifen unter unserer Fuchtel von Scheinwerferlicht schaue ich, und anscheinend hält es mich in der Spur. So bleibt auch jener Film sein eindringlichstes Bild, für unser Rasen auf der Stelle, für überhaupt unsere Fluchten und Abrisse, aus verlorenen highs und ignorierten one ways entlang der gestrichelten Linien eines das Illusionäre vernähenden Kontinuums, eines anzunehmenden Zusammenhangs. (Das Wesentlichere der Plots ist vielleicht doch eher, die sie tragenden, die ihre Perforationen überbrückenden Bilder zu finden?)
Ansonsten mengt sich das Ungeschiedene, im gleichen Austausch: Stoff, Brand, die ganze Kohle dafür, Finsternisse, Abbau von Innenleben, für schnellen Warenumschlag rasende Beförderungen des Smack. Schmackes. Alles eine einzige, knapp unterschiedene dunkle Materie, die wir wegen ihrer Schwerewellen zwar vermuten, aber kaum erfassen, nicht mal orten können.
Vielleicht von daher nun auch diese Effekte? Einer immateriellen, einer nach einer Weisung der Bilder hin auf das Dunkel doppelten Durchlässigkeit? (Oder einer gegeneinander durchlässigen Doppeltheit?) Oder es sind die Kontinuen, es sind auch die Bilder je und je eine Art Cellophan, ein Schweißfilm herum das Geistige, eine unser Hirn in raffinierte chemische Schauer tauchende Art synthetisiertes Leuchten, das unser ausschauendes Inneres auf solche Weisungen hin durchlässig macht.
(Am linken Augenrand, auf dem Armaturenbrett, ein Diodenblinken, und ich lokalisiere es als eine wärmeempfindliche Stelle gleich unterhalb meines linken Jochbeins / für meine Elektrosinne ein Triggern / ist es im nächsten Wimpernschlag eine Glutschliere im Glas aus Heckys Kippe. / An Fruchtfliegen muss ich denken, und wie sie ihnen heute Bioluminiszenz, ein Glühwürmchengen, vererben oder Schmetterlingsfühler einsetzen, für zusätzliche Wahrnehmungen von Gerüchen und Temperaturen, dass die Fliege sofort und von Grund auf wahnsinnig ist. / Den Impuls muss ich hemmen, mit der Hand in dem Atemfilm auf der Windschutzscheibe herumzuwischen: / Hinter dem Schwarz, eine starre Insistenz über dem zähbetonierten Verkehrsfluss, sehe ich mich selber mit weit aufgerissenen Augen auf das Schwarzlicht vor mir starren: das Fenster / zwischen dem anderen und mir nur ein verwischter Signal-/Rauschabstand. / Mach alles schwarz.)
Überhaupt sehe ich immer öfter unser Durchgepaustsein hin zu einem seine Auslassungen umkreisenden, womöglich längst allzu durchlässigen, Lücken aufweisenden Leben. Können wir auch noch unsere eigenen Lücken denken? Es ist wie beim Tearing, wenn plötzlich die Graphikleistung sinkt und es abrupt die Polygone der Texture Maps vor einem zerreißt, dass man kurz nicht weiß, welche der Kontinuen um einen herum, die aus kinematischen Seifenblasen oder die aus Kohlenstoff, die entscheidende ist. Je nach Perspektive alles Dreiecke. Oder eben Gesichtsfelddefekte. Trägheit der Übergänge in den gestauchten Kopfwelten der Piloten-Helden, Abraum der ungenügend miteinander verdrillten Handlungswelten, Splitt und Bruchteile der Sekunden-Gegenwarten aller voraus deformierten Mitten uns hindurchzuschleusen.
Vielleicht ist das der entscheidende Unterschied, der zwischen Fahrer und Beifahrer. Während ich noch über jedes Holpern, jedes hoch geschleuderte Steinchen an den Unterboden des Wagens erschrecke und über seinen Nachhall ein paar Sekunden brauche, sucht Hecky schon längst nach dem Reset. Kann sein, die Trennung passiert eben an dem Ort, an dem wir zusammen kommen: Im Auto, in der Raserei; vor dem Bildschirm, der Windschutzscheibe. Erst vor dem Horizont einer Tischkante, ihrer Fluchtlinien an sorgfältig gezogenen Aschenbahnen, um ein bisschen darüber hinauszustäuben, sind wir dann wieder zusammen.
Ja, ich übertreibe. Ich soll nicht sinnieren, ich soll nicht leichtfertig daherreden. Ich soll keine Lücken lassen. Ich soll ihm nichts erzählen.
Hecky liegt Ausdruck nicht so, und meine barocke Ader liegt ihm schon gar nicht. Und das ohne, dass er, was ihm abgeht, durch etwas Besseres als seine Dauer-Lakonie aufzuheben schafft. Und das ist es wohl auch, was uns demnächst entzweien wird, seine vermeintliche Unanrührbarkeit, mein unsteter Drang – tear us apart. Hecky hält seine Reden nicht mit einem Mund voller Steine. Zwar schätze ich oft seine Direktheit. Aber eigentlich – und es will ihm nicht aufgehen (und das ist mit ihm auch noch mal anders als nur in der unterschwelligen Konkurrenz langjähriger Freunde) – eigentlich ist er, mit seiner Neigung zu brüskem Beschleunigen, einer, der die ihm ungelegenen Arten von Raserei viel zu oft bremst.
Man könnte sagen, Hecky ist da altmodisch. Man könnte überhaupt sagen, Hecky ist der gute alte Vater-Sohn-Konflikt-Typ. (Nämlich der schlechte: wegen dem ich, da völlig unbelastet, trotzdem in Nachteil gerate, weil eben alle Welt lieber weiter die vertrauten Muster unterstellen will.) Man könnte sagen, Hecky ist wie diese Musik, die wir ausschließlich auf unseren Nachtcruisings hören. Ich selber habe davon nicht mal eine alte CD. Und ist sie auch für uns beide kein Selbstvergewisserungssound, scheint diese Band vor allem auch doch eine, die für Erinnerungen steht – für solche, die wir selber nicht mehr haben können, und die doch irgendwie in uns hineinverpflanzt wurden. Erinnerungen an etwas, dessen Anlässe man nicht mehr weiß. Und trotzdem: Nicht die lächerlich ernst genommene Rock’n’Roll-Arbeit mit schwarzen Rändern unter den Fingernägeln ist das Moment an Attraktivität, sondern dieses fossile Zeitalter, dieses 60er-Jenseits der Band. Under my thumb.
So wie auch in der Musik jener Nullpunkt schon erreicht scheint, der zwischen all den neuen Genres und Mikro-Genres, der zwischen all den Verdünnungen in Referenzkosmen ohne Widerhall, sind die 60er eine Art ewige Anfänglichkeit, eine Unschuld. Als könnten wir damit zurück in eine Zeit, als zumindest die zu der mutmaßlichen Art Leben darin gehörenden mutmaßlichen Gefühle noch mutmaßlich Originale waren. Wenn auch wohl anderswie unperfekt. Aber darin, in dem, was sie zu denken ausließen, mutmaßlich doch stimmig. Und also überzeugender. (Wenn es in unseren Oberflächenwelten doch eh eher nur um Wahrheitseffekte geht – oder eben Affekte: Die einzige Kraft, die das Retro-Ding aufzuheben vermag, ist diese Mitreißung, das Tearing in den je und je überzeugendere Augenblick.)
Diese Londoner Vorstadtband aber, rettungslos überholt, beharrt einfach auf sich. Und man kann ihre Frühzeit ohne alle Nostalgie betrachten, immer wieder, und sie bleibt in ihrem Bernstein eingeschlossen, egal ob als dieser Anfang oder als etwas von definitiver Nachzeit. Ein Post-Allem-Dingsda, ein Aftermath. Eine Nachlese und ein Scherbenhaufen. Aber finalmente.
An das einmal ausgestellt revolutionäre Potenzial der Band war wohl nie zu glauben – ein Managementrick. Aber auch über die Revolutionen blinzeln wir ja, da die Geschwindigkeit ihres Auftauchens das Begreifen der Phänomene begrenzt, heute in einem Fingerdruck auf der Fernbedienung hinweg. Wir denken – oder es denkt die je nach Laune sich überschlagende oder einschläfernde Geschichte sich uns – in der Frequenz und den Wiederholungsraten unserer Belichtungen. Da ist so ein altes Zeug an Musik – da sind ein paar raffiniert verschleppte Riffs -, gefühlt noch starke Folgerichtigkeiten. Auch wenn man außerhalb ihres akustischen Einflussbereichs schon nicht mehr weiß, wofür.
Bleibt die Unangerührtheit. Bleibt die Uneinsichtigkeit des Außen, wenn es Nacht und Autogeflacker, Bild und Gesichtsränder, wenn es ein paar Hirntierqualen und noch den Rush selber endlich zerreißt. Für die radikale Auslassung, für ein paar dann auch nicht mehr gezählte Sekunden. Und wäre auch nur einem Weniger je mit Erklärungen beizukommen? Wenn unsere neuere Musik die Steine bewegen könnte – hatte der bei diesen Dingen fällige Nietzsche sich gefragt -, würde sie diese zu einer antiken Architektur zusammensetzen? Keine Ahnung, ob angesichts der Kompliziertheit der Lagen, ob mit einer unheilbaren Sucht am Auseinanderfliegen der Verhältnisse überhaupt an Architektur noch etwas erhebend oder ordnend (oder auch nur wünschenswert) ist. Ändert sich die Tonart der Musik, wackeln die Mauern der Stadt – und das galt auch schon mit Platon, nicht erst seit John Peel.
Aber wo wären sie heute, die neuen Baustoffe, die neuen Verbundmaterialien? Ich wusste nur zu gut, wie sehr ich mich selber längst auf den allzu locker aufgeschütteten Randspuren bewegte. Sogar der dauernd alles umzustürzen bereite Nietzsche hatte sich geantwortet: Ich zweifle sehr.
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(Auszug aus einer Erzählung)
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