Das Heideröslein
( für Mari, die mondän, aber auch eine Heidemarie war )
Erst spät hatte mir meine Mutter erzählt, dass, wenn ich, mich mit kleinen Fäusten an den unverkleideten Gittern auf unserem Balkon festhaltend, versucht hatte, mich einem über den Feldern hinter unserem Haus austobenden Sommergewitter zu stellen, ich im Moment des Blitzens manchmal geschrien hatte, wie ein Mädchen mit hoher Stimme, durchdringend und schrill. Es klang durch, dass ich, obwohl ein stilles Kind, das seinen Eltern sonst selten Anlass dazu gab, ihnen dann ein bisschen unheimlich gewesen war. Diese Erzählung wiederum hatte ich lange Zeit vor mir selber, als etwas Schamhaftes in meinem Selbstbild versteckt, und Gedanken daran erst spät, nämlich als das Moment einer Verrücktheit während einer anderen, zulassen können.
Du sagtest Liebe / ist nur ein Wort / ich sagte geh / doch noch nicht fort. – Sollte ich wirklich einmal einräumen, wie im Innigsten, in riskanter Nähe zu den falschen Tönen und dem Herz-Überzeugtesten, immer auch das noch Falschere wohnt? Das Bodenlosere? Der sich eben darum und um die Gefährlichkeit umso mehr aufzuschwingen wissende Irrtum? Oder war das jetzt gleichfalls nur ein Desillusionierungs‑, ein Selbstanklage‑, ein Aufrichtigkeitskitsch?
Als ich ein Kind war, hatten Nachbarn, als sie das mit mir herausgefunden hatten, öfter ein Lied gesungen, Das Heideröslein, auf das ich dann wie auf Kommando zu weinen anfing. Und das hatte auch, ohne es grausam zu meinen, meine Eltern, wenn sie Gäste und das ihnen vorzuführen Spaß hatten, immer wieder amüsiert.
Dafür schien es mir später dann lange fast unmöglich, über meine Traurigkeiten etwas zu sagen – über die echte, die ungerufene, die bodenlose, die einen oft grundlos ankommende Traurigkeit. Nur ein anderes Kind konnte für mich noch annehmbar und unschuldig sagen: Ich bin traurig. Und alle anderen mussten damit eh immer gleich zu Erklärungen kommen.
Wiederum später dann hatte ich, der sich so stark bewegen ließ, dass es andere lachen machte, immer wieder längere Phasen, dass ich, dem Musik doch so wichtig war, fast gar keine hören mochte. Manchmal reichte ein Lied, um für lange alle anderen zu verwerfen. Mit den Gründen dafür mochte ich mich aber auch nicht beschäftigen. Und der einen, zu verheimlichenden, aber immerhin praktischen Erklärung für das oft unbegreiflich Grundlose von Schmerz mochte ich selber nicht glauben.
Einmal, als ich unvorbereitet für ein paar Hüteminuten ein Kleinkind auf den Schoß gesetzt bekam, hatte ich, vor Unwissen, was tun, und um die gegenseitige Verlegenheit in Aktionismus zu bannen, eine Spieluhr in Gang gesetzt. Und hatte über dem Kling-Klang das Maß und dann das Maßlose zuerst an Staunen ... und dann an Bestürzung in dem Gesichtchen betrachten können. Und dann auch das Drama, wie sich über dem so lichten Fleck der Stirn auf einmal alles zu einem den ganzen Körper ergreifenden Weinen kräuselte.
Obwohl das Weinen des Kindes für die Herbeigeeilten nur als eine Belustigung galt, bekam das Gefühl der Schuld, ich hätte alles falsch gemacht, ein lächerliches Ausmaß. Die verdammte Mechanik der Uhr war nicht zu stoppen, und das meinerseits so hilflose Zureden um eine Beschwichtigung des sonst so leicht zu behexenden Wesens nützte nichts. Bis heute erinnere ich mich an das über Tage anhaltende Gewissen, in eine reine Seele eine prekäre Spur gelegt zu haben. Erst später ging mir auf, wie das wohl meine eigene war, und wie auch die Bestürzung nur auf eine vorangegangene und unbeantwortet gebliebene endlich antwortete.
Ein andermal stieß ich mit dem Einsetzen der Dämmerung am Rand einer brasilianischen Großstadt während eines Spaziergangs auf unbekanntes Gelände. Eine Feria war dort aufgebaut, eine Art Kirmes oder Jahrmarkt, aus den einfachsten Sensationen. Feuer brannten schon und Lampions waren aufgehängt, Berimbaus und Trommeln lärmten, und es gab Gebilde aus buntem Alupapier in Streifen an Zweigen zu kaufen, die man beim Umhergehen in die Luft hielt, damit sie raschelten.
Auch ein paar Masken waren zu sehen, war das auch ersichtlich kein Fest für Touristen. Trotzdem wie der typische Tourist halb verlockt, halb verirrt dahin geraten, erinnere ich mich an die komplexe Empfindung, nach der es gleichermaßen beschämend wie bestärkend war, dass Menschen sich noch aus dem Geringsten ihr Vergnügen zusammenbasteln können. Bevor ein paar Burschen mich, die kurzfristig ergiebigere Attraktion, bedrängten und um Geld und Zigaretten und sonst was angingen, ließen sie mich da ein bisschen herumstolpern.
Aber dann war etwas los mit einer aufgelöst oder wirkenden Frau, die in einem anders gestimmten Singsang irgendwie entrückt umherwandelte, sichtbar ganz bei sich, so dass jeder ihr aus dem Weg ging. Auf dem Arm, in ein Handtuch eingewickelt, trug sie ein Kind. Und erst mit Verspätung, aber doch intuitiv, verstand ich, dass das Kind tot war. Bevor sie sich davon trennen zu hatte, trug die Frau es nur noch ein bisschen auf diesem Vergnügungsplatz umher. Und sang ihm ein Kinderlied, so eines, das fast nur ein Auf und Ab der ersten Stimme ist, die Urvertrauen gewähren soll.
Mithilfe der Frau und einem von der Ungläubigkeit schon wieder gedämpften Erschrecken – mit dem ich mich ihr trotzdem zu nähern gedrängt fühlte und ihr eine weitere kurze verirrte Wegstrecke hinterher ging -, gelang es mir, von dem Ort und aus der noch ungemütlich werden könnenden Situation zu verschwinden. Ich erinnere mich an das Empfindungsgemisch von Fatalität, von Heillosigkeit und Verheerung, als ich allein die bröckelnde, aber sternenübersäte Küstenstraße entlang ging. Aber auch an das rauschhafte Gefühl, am Leben zu sein. Und wie ich im Kopf jene Melodie der Frau nachzusingen versuchte, die so einfach war, dass noch ein Kind im Schlaf sie lernen könnte.