Der Titel des Sammelbandes trifft perfekt Schirrmachers Duktus: »Ungeheuerliche Neuigkeiten«. Herausgegeben ist das Buch von Jakob Augstein, der auch ein kurzes, aber sehr stupendes Vorwort verfasst hat. Die längst eingesetzte Hagiographisierung Schirrmachers insbesondere in weiten Teilen des Kulturjournalismus vermeidet Augstein, allerdings ohne dabei dem großen Kollegen den Respekt zu verweigern. So bezichtigt er Schirrmacher beispielsweise des Alarmismus, was zweifellos den Tatsachen entspricht. Kongenial wenn auch nicht originell der Vergleich mit dem »rasenden Reporter« Egon Erwin Kisch. Wenn man Schirrmachers Texte in dieser Geballtheit hintereinander liest, bemerkt man das Umtriebige, fast Hektische, das Augstein kongenial beschreibt. Stets gilt es, der Erste zu sein, der sich einer am Horizont anbahnenden gesellschaftlichen Diskussion widmet. Und wenn die anderen auf den Zug aufgesprungen waren, winkte schon ein anderes Thema.
Bei Schirrmacher wird jede noch so abwegige Analogie zur unumstößlichen Gewissheit. Im Text zur Biographie von Thomas Karlauf über Stefan George wird Schirrmacher nicht müde, Georges Rang jenseits der Literatur daran festzumachen, dass einer der George-»Jünger« der junge Graf Stauffenberg war. Zu den Gedichten Georges findet er lediglich die Bezeichnung »solche Verse«. George, der 1933 gestorben war, lebt laut Schirrmacher sozusagen in der Existenz des späteren Hitler-Attentäters weiter, so die These. Hierin liegt seine Bedeutung, die bleiben wird. Am Ende des Artikel liest man dann: »Das ‘geheime Deutschland’, dem Stauffenbergs letzter Satz galt, wurde unterdessen in Amsterdam gelebt.« Diese Formulierung ist typisch für Schirrmachers Stil. Zum einen lässt er keinen Zweifel daran, wie Stauffenbergs letzter Satz lautete. Alleine dies ist jedoch immer noch umstritten. Zum anderen verknüpft er das »geheime Deutschland« mit Georges Päderastie, die dieser in Amsterdam auslebte. Dabei entsteht vordergründig der Eindruck, Stauffenberg habe vor dem Erschießungskommando an Georges Doppelleben in Bezug auf Deutschland gedacht. Jeder Erstsemesterstudierende würde für eine solche These belächelt.
Beim Thema Stauffenberg fällt einem auf, welcher Text es nicht in die Auswahl geschafft hat. »Wir in unseren Augen« ist er überschrieben und Schirrmacher berichtet hier von den Dreharbeiten zum Spielfilm »Valkyrie« mit Tom Cruise als Stauffenberg. Schirrmacher bewundert Cruise, lobt sein Einfühlungsvermögen in die Behinderungen Stauffenbergs und stellt fest, es würde ein Film, der »Deutschland mehr verändern wird als irgendein anderer denkbarer Film der letzten Jahrzehnte«. Da ist er wieder, dieser Übertreibungsgestus, der feuilletonistische Superlativ, der in fast jedem Artikel zu finden ist. Später wird er dann noch die Laudatio auf Cruise halten, als er einen Bambi in der Kategorie »Courage« erhält.
Als Volker Hage im Spiegel 1998 mutmaßte, dass die deutsche Nachkriegsliteratur erst jetzt beginne, widerspricht Schirrmacher und das ohne jeden Zweifel: »Die Beteiligten und Betroffenen, die als Kinder und Heranwachsende die Bombenächte noch erlebten, werden stumm abtreten.« Es gebe keine Aufarbeitung von Bombenkrieg und Vertreibung (was nicht einmal damals stimmte); die noch lebenden Protagonisten würden zu lebenden Denkmälern, aber schweigend und medial unterrepräsentiert. Einen ähnlichen Befund tätigte Schirrmacher bereits 1989 aus Anlass der deutschen Einigung. Hier postulierte er das Ende der »westdeutschen Literatur«, die, so der Text, 43 Jahre alt geworden war. Nun ist die Erkenntnis, dass mit der Wiedervereinigung die spezifisch bundesrepublikanisch-westdeutsche Sicht verändert hat, nicht besonders originell. Dass aus der »Veränderung Europas« aber »eine neue Zeitrechnung auch im Erzählen« stattfinde, ist dann wieder so ein Bombast. Am Ende werden schließlich Thomas Bernhard und Paul Celan zu den »zwei bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Nachkriegszeit« erklärt.
Ein ganzes Kapitel mit vier Texten ist Schirrmachers These von der Überalterung der Gesellschaft gewidmet, über die er 2004 seinen Bestseller »Das Methusalem-Komplott« geschrieben hatte. Schirrmachers Thesen sind heute fast unwidersprochen von Medien und Politik kanonisiert. Zum einen gilt eine »überalterte« Gesellschaft als Makel. Warum, bleibt offen, zumal Schirrmacher durchaus mahnt, die Alten nicht per se zu diskriminieren. Dafür verordnet er ihnen schon einmal Arbeit, so lange es Spaß macht und körperliche Fitness. Vermutlich ist eine Überalterung trotzdem schlecht, weil die Ökonomie in Form des Binnenkonsums leiden könnte, d. h. rückläufig wäre. Zum anderen hängt Schirrmacher am Adenauer’schen Rentensystem und benötigt daher immer mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, damit die Babyboomer ihre Renten aus den Beiträgen der nachfolgenden Generationen erhalten. Wie diese Arbeit bei der weiter fortschreitenden Spezialisierung innerhalb der Gesellschaft aussehen soll, bleibt allerdings unklar. Immerhin: Bei Erscheinen des Buches bewegte sich die Arbeitslosenzahl in Deutschland bei offiziell fast 5 Millionen (fast 11%). Inzwischen ist diese Zahl (ebenfalls offiziell) nahezu halbiert – und das ganz ohne Aufstand der Jungen.
Als die Lehman-Bank 2008 zusammenbricht, ereifert sich Schirrmacher: »Unser Weltvertrauen ist erschüttert«, so als hätte es 1929 nie gegeben. Zur Finanzmarkt- und Eurokrise der zurückliegenden Jahre findet sich im Buch auch der Text » ‘Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat’ « – ein Zitat des konservativen britischen Journalisten Charles Moore. Der Aufsatz von 2011, der sich auf Moores Analyse der Auswirkungen der Finanzkrise bezieht, wurde damals als Abwendung Schirrmachers (teilweise sogar der politischen Linie der FAZ) vom Konservatismus bewertet. Wer ihn genauer liest, wird feststellen, dass das falsch ist. Schirrmacher arbeitet sich daran ab, dass das deutsche Bürgertum in Gestalt der CDU mit seinem Ludwig-Erhard-Erbe fahrlässig umgegangen sei. Das Wohlstandsversprechen für Alle sei leichtsinnig Banken und der Industrie geopfert worden. Der »Neoliberalismus« habe »wie eine Gehirnwäsche über die Gesellschaft« gewütet; die Globalisierung, ursprünglich als freier Handel gedacht, werde nun von Banken genutzt, staatliche Unterstützung für ihr Missmanagement einzufordern. Die CDU habe, so Schirrmacher, »nicht nur keine Verantwortung für pleitegehende Banken verlangt, sie hat sich noch nicht einmal über die Verhunzung und Zertrümmerung ihrer Ideale beklagt.«
Dieses scheinbare Aufbegehren eines Konservativen ist zwar mit gewohnter rhetorischer Brillanz intoniert, aber nur die halbe Wahrheit. Im Zeitraum des Jahrzehnts der »enthemmten Finanzmarktökonomie« (F.S.) – also von 2001 an, wenn man den Zeitpunkt der Niederschrift des Textes berücksichtigt – regierte in Deutschland bis 2009 die SPD; zunächst mit dem Bundeskanzler Gerhard Schröder, ab 2005 dann als Koalitionspartner der Union (mit Finanzminister Peer Steinbrück). Die wesentlichen Entscheidungen, die Unternehmen das nahezu freie Spiel der Marktkräfte auch in Deutschland ermöglichte, also das, was man gemeinhin als Deregulierung bezeichnet, wurde größtenteils unter Rot-Grün geplant und umgesetzt. Erstaunlich genug, dass die SPD nur einmal im Text genannt wird – und zwar durch die Erwähnung von Albrecht Müller, dem »Nachdenkseiten«-Publizisten, den Schirrmacher mal eben zum »Vordenker« von Willy Brandt machte, so als habe damals der Schwanz mit dem Hund gewedelt. Immerhin widmet sich Schirrmacher 2013 explizit der SPD und rät ihr, sich um einen neuen »Gesellschaftsvertrag zwischen den Menschen und den Maschinen (oder besser: ihren Besitzern)« zu kümmern.
Neben dem Cruise-Lobgesang fehlen auch andere Texte, die man hätte erwarten können. So etwa die dezidierte Auseinandersetzung mit Thilo Sarrazins »Deutschland schafft sich ab«, in dem er einerseits Sarrazins gesellschaftliche Befunde durchaus herausstellt, andererseits aber dessen Biologismus kategorisch verwirft. Auch Schirrmachers Angriff auf den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, in dem er Wulffs Rede vor den Nobelpreisträgern mit dessen eigenem Verhalten bei dem Kredit seines Hauses verknüpft, hat keinen Eingang in den Sammelband gefunden. Da traf es sich auch ganz gut, dass Schirrmacher selber die Hetzjagd auf Wulff in der FAZ durch subalterne Figuren hat ausführen lassen. Auch seine sehr einfühlsamen Stellungnahmen zum Suhrkamp-Streit (Schirrmacher steht ohne Wenn und Aber auf Seite von Ulla Berkéwicz-Unseld), vermisst man. Hätte man doch hieran illustrieren können, wie sich Schirrmacher die Synthese zwischen Kapitalismus und Idealismus vorstellt.
Als das ZDF 2013 den Dreiteiler »Unsere Mütter, unsere Väter« ausstrahlte, mahnte Schirrmacher sein Publikum, den Film unbedingt anzusehen, denn es sei »die letzte Chance, über die Generationen hinweg die Geschichte des Krieges zu erzählen«. Dass der Film insbesondere in Polen Kritik hervorrufen würde, weil deutsche Filmemacher den polnischen Antisemitismus schonungslos zeigen, hatte selbst Kassandra Schirrmacher nicht vermutet.
Aus der isländischen Vulkanwolke, die die Luftfahrt für ein paar Tage zum Stillstand brachte, wird dann die flugs Datenwolke, die, so Schirrmacher, irgendwann womöglich den Luftverkehr auf Dauer stilllegen könnte. In einem anderen Text wird natürlich das epochale Ereignis des »Jahrtausendwechsels« 1999/2000 heraufbeschworen. Abgesehen davon, dass es streng genommen erst 2001 zum angesprochenen Jahrtausendwechsel kam, kann man heute, 15 Jahre später, ernüchternd feststellen, dass sich die Welt danach genau so gedreht hat wie vorher. Immerhin, danach gab es, folgt man nicht zuletzt diesem Buch, immer wieder neue Zäsuren.
Vielleicht ist es ungerecht, all die aus der Hüfte geschossenen, im Überschwang der Emotionen aufgebrachten Formulierungen derart anzugreifen (das Buch bietet zahlreiche mögliche Angriffsflächen). Aber warum sollten Journalisten eigentlich einen besonderen Schutz genießen, wenn es um Irrtümer und Hysterisierungen geht, die sie ansonsten bei jedem anderen genussvoll aus der Versenkung holen.
Was man anerkennen muss ist Schirrmachers strategische Intelligenz, Aufmerksamkeit für Themen zu erzeugen. Im Agenda-Setting war er einer der letzten großen Figuren des deutschen Journalismus. Erstaunlich, dass er dabei mit einer Technik erfolgreich war, die man ansonsten allgemein nur noch mit spitzen Fingern anfasst: dem Pathos. Dieses verband er wie ein Fußballreporter am Spielfeldrand, der live aus dem Spielgeschehen heraus immer wieder noch nie dagewesene Ereignisse findet, die, so lächerlich sie auch sein mögen, sofort das Attribut »historisch« erhalten. Schirrmacher kombiniert dabei das gemeinschaftliche Feuilleton-Wir mit dem Superlativ des Marktschreiers: »Wir erleben…« heißt es dann (oft genug wörtlich) und so wird der Leser nicht nur zum Zeitzeugen, sondern zum Mit-Akteur, der, von Schirrmacher geführt, ins Paradies der Assoziationen aufbricht. Nur nichts verpassen; immer hart am Zeitgeist segeln.
Zuweilen griff Schirrmacher zur Bekenntnis-Rhetorik, besonders wenn er sich der Aufmerksamkeit sicher sein konnte und sein Statement vorübergehend einen Distinktionsgewinn versprach. Etwa wenn er die FAZ zur alten Rechtschreibung zurückführte – die er dann ohne viel Aufhebens Jahre später doch aufgab. Oder er teilte Martin Walser in einem Offenen Brief mit, warum sein neues Buch nicht in der FAZ vorabdruckt wird – weil es nämlich, so der Subkontext, antisemitisch sei. Jahre später durfte Walser dann wieder ein anderes Buch vor-publizieren. Der Stachel war aber noch lange medial präsent. Irgendwann fragte ihn eine Radiojournalistin in einem Geburtstagsgespräch, ob er, Walser, Antisemit sei.
Dennoch: Es gab da einen Furor in den Texten, der auf die Leser abfärbte. Nach der Lektüre eines Schirrmacher-Textes erschien einem die Welt für einen kurzen Augenblick nicht mehr wie vorher. Die Verzweiflung an der Gegenwart wurde von der Euphorie der Erkenntnis – war sie auch noch so banal – weggewischt. Und jetzt, beim Wiederlesen der ja meist bekannten Stücke, stellt sich jenes wohlige Veteranentum ein, das verklärend ein »Weißt Du noch…?« haucht und sich dabei einen Schluck Rotwein gönnt. Ja, wir, der Leser, wir waren dabei gewesen.
Schirrmachers Texte hatten auch deshalb eine derart große Wirkung, weil sie meistens mehrere Interpretationen zuließen. Entsprechend locker war Schirrmachers Umgang mit dem, was er eigentlich kritisierte. Am deutlichsten zeigt sich dies bei seiner Technikkritik, die zuweilen hysterische Züge trug, dabei jedoch mit Heidegger und Kittler zutiefst bürgerliche Wurzeln hatte. Mit großer Peinlichkeit liest man Schirrmachers Oden auf Jaron Lanier, dem Apostaten in Sachen Internet. Gleichzeitig gab es kaum einen besser vernetzten Journalisten als Schirrmacher, der twitterte und sogar Zeit fand, auf Tweets zu antworten. Der spenglerische Mahner gegen ein durch Algorithmen konditioniertes Gemeinwesen verwendete schließlich für sein Buch »Ego – Das Spiel des Lebens« zu fast 90% Kindle-Downloads.
Wie nicht anders zu erwarten hadern Publikum und ehemalige Kollegen mit dem neuen Feuilleton der FAZ. Zumeist sind dies Gesinnungs- und keine ästhetischen Gründe. Man fühlt sich verlassen; die eigene Meinung wird nicht mehr entsprechend vertreten. Dass zwei bekannte Namen des FAS- bzw. FAZ-Feuilletons weggegangen sind, wird als Indiz dafür gewertet, dass es Schirrmachers Nachfolger schwer haben werde oder auch schon einmal als Beleg für den Niedergang des FAZ-Feuilletons. Aber auch Schirrmacher hatte prominente Abgänge zu beklagen (2001 bspw. Thomas Steinfeld, Franziska Augstein und der damalige Feuilletonchef Ulrich Raulff – alle damals zur SZ). Er lamentierte nicht, sondern machte einfach weiter.