Die Kanonisierung des literarischen Genres der »Autofiktion« schreitet scheinbar voran. Mit »Inniger Schiffbruch« legt Frank Witzel, der 2015 mit seinem Buchpreis-Siegertext »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« schockierte, überforderte (zumindest mich) und zugleich beeindruckte (ebenso), einen stark autobiographischen Prosatext über das Leben seiner Eltern und – was noch entscheidend sein wird – seinen hieraus entstanden Lebensprägungen vor. Der Titel erinnert ein wenig an »Wunschloses Unglück«, wie Peter Handke 1972 seinen Versuch über den Freitod seiner Mutter (und damit über ihr Leben) zu erzählen nannte. Aber die Auflösung für Witzels Titel wird sofort in der Widmung aufgelöst: Es handelt sich um eine Formulierung im Gedicht »L’infinito« von Giacomo Leopardi, übersetzt von Rainer Maria Rilke. Später wird der Leser erfahren, dass die Eltern bei einer Italienreise in den 2000er Jahren auf Leopardi aufmerksam gemacht wurden und der Vater schließlich das Gedicht »für Alt, Klavier und Orchester« vertonte. Und warum der Musiklehrer, Chor- und Orchesterleiter Carl Witzel (Jahrgang 1930) dies getan hatte, erfahren wir auch: »In diesem sehnsüchtig verzweifelten Zeilen des Dichters, dessen ‘physisches Leben ein Martyrium war, nur von wenigen Stunden relativer Schmerzfreiheit unterbrochen’, wie es in einem von meiner Mutter ausgeschnittenen Zeitungsartikel hieß, schienen meine Eltern noch einmal unabhängig voneinander auf eine gemeinsame Sehnsucht gestoßen zu sein.«
Wer genau liest stellt sich die Frage: Worin liegt denn die »gemeinsame Sehnsucht«, die der Erzähler hier suggeriert? Im Dauerschmerz des Dichters? In den wenigen Momenten, in denen er schmerzbefreit war? In einer Art Schmerzensverwandtschaft (die Mutter wird als Schmerzensfrau [Rheuma] dargestellt)? Oder geht es um die Sehnsucht des »Schiffbruchs«, des Scheiterns?
Die Stelle kommt etwa nach zwei Dritteln des Buches vor und soll exemplarisch für das Verfahren des Autors stehen. Der Ich-Erzähler Frank Witzel, der in diesem Buch Frank Witzel ist, gerät, ausgelöst durch den Tod des Vaters (die Mutter war einige Jahre zuvor verstorben) in eine veritable Lebenskrise. Er macht sich heran, seine Erinnerungen mit dem vorgefundenen Nachlass in einen Text zu verknüpfen und destilliert Beobachtungen, Mutmaßungen und Spekulationen über sich und seine Eltern. Während der Vater in fast unendlicher Akribie über Jahrzehnte alle Ereignisse (vor allem die banalen) in Notizkalendern meist stichwortartig festgehalten hatte, finden sich von der Mutter außer einigen Vokabelheften (sie versuchte immer wieder, Fremdsprachen zu erlernen) nur wenig Schriftliches.
Früh richtet sich beim erzählenden Sohn eine Mischung aus Larmoyanz, Hypochondrie und narzisstischer Selbstbezogenheit ein. Sie hält mehr als ein Jahr an. Das klingt dann so: »Ich fühlte mich fiebrig, hatte Zahn‑, Kiefer‑, Brustschmerzen, Angstzustände, schlief tagsüber ein, wachte nachts mehrfach auf, hatte kaum Hunger, versuchte mich abzulenken, ohne dass ich etwas fand, das mein Interesse hätte wecken können. Es war eine Art Fegefeuer, genauer eine Art Fegefeuer-Couvade.« (Ich gebe zu, dass ich »Couvade« nachschlagen musste.) Nur wenn Witzel morgens ohne irgendwelche Beschwerden aufwacht ist er noch besorgter.
Dabei wird genau auf die Platzierung einschlägiger Vokabeln geachtet, die seine Erfahrungen zur Psychoanalyse beglaubigen sollen. Einmal gesteht er, von seinem Unbewussten gerührt zu sein. Exzessiv werden Träume gedeutet (insbesondere der Rhinozeros-Traum [Cover!], der sehr lange im Buch als Referenz herangezogen wird) und über Erlebnisse mit Therapeutinnen referiert (seit mehr als 30 Jahren ist er wohl in Behandlung; vermutlich mit Unterbrechungen). Schließlich werden auch Lektüren als Kronzeugen für seine Befindlichkeiten herangezogen und Parallelen konstruiert. So verballhornt er Proust mit einer »Suche nach dem verlorenen Ort«. Der Umgang mit Schriftstellern und Philosophen (natürlich dürfen Adorno und Benjamin nicht fehlen) geschieht mit einer gehörigen Portion Abgebrühtheit. So vergleicht er seinen Vater, der 1945 mit 14 oder 15 in die Lehre ging, mit dem jungen Thomas Bernhard aus dessen autobiographischen Schriften. Später wird dann Bernhards jähzornige Mutter mit seiner Mutter verglichen. Der Gipfel ist die Selbststilisierung als »Schicksalloser« anhand von Imre Kertész’ Roman – einem Roman eines Holocaust-Überlebenden. Witzelvereinnahmt alles, was auch nur irgendwie in sein Interpretationskorsett passen könnte. Und was nicht passt, wird passend gemacht.
In einem anderen autofiktionalen Roman der Saison, Michael Kleebergs »Glücksritter«, sucht der Erzähler die Welt seines Vaters, seiner Eltern, zu ergründen. Dabei geht es nicht um Anklage (und demnach auch nicht um »Freispruch«), sondern um ein Verstehenwollen im Kontext der Zeit mit den Prägungen der Protagonisten in der Kindheit und Jugend. Witzel erkennt zwar den Zeitkontext seiner Eltern, aber er transformiert ihn. Als er ein Tagebuch des 16jährigen Vaters entdeckt, der bei einer Faschingsveranstaltung 1946 für ein bisschen Geld tanzt und sich amüsiert, kommentiert er skandalisierend: »In einem Alter, in dem ich spätestens um zehn zu Hause sein musste, hatte sich mein Vater bis in die Morgenstunden amüsiert und noch Geld dabei verdient«. So als ließen sich die Umstände der Jahre 1946 mit 1971 einfach vergleichen. Nichts findet Ruhe vor seiner Beurteilungsmanie. Als die Mutter ihm mit dem Satz »Abschließbar, damit die Alten nicht sehen, was man schreibt« ein Tagebuch mit einem Schloss verschenkt, heißt es von Witzel: »Indem meine Mutter von den ‘Alten’ sprach, unterstellte sie automatisch, dass Notate, die man nicht allgemein zugängig machte, schon allein deshalb ungehörig waren.« Ich gestehe, dass ich diese Schlussfolgerung auch nach mehrmaligem Lesen nicht nachvollziehen kann.
Alles unterliegt einer überorchestrierten Assoziationsmanie, sogar das Kommunionbild vom 25. April 1965. Nach einigen Seiten Schilderungen rückt der gebackene Nusskuchen in den Fokus, von dem »etwa ein Achtel« fehlt: »Ein Achtel Lebenszeit des Jungen war vergangen.« Und es geht weiter: »Der Nusskuchen war mit Mandeln verziert. Die Mandel steht für das Leben, das gleichermaßen bitter und süß ist. Aber sie ist auch Symbol für Jesus, der seine göttliche Natur in einer menschlichen Schale verbirgt […] Zudem haben Mandeln die Form von Tränen oder Tropfen und erinnern an die aus Wachs nachgeformten roten Nägel der Osterkerze, die sich durch die Wärme verformen und zu roten Flecken werden, die wiederum an die Wundmale Christi gemahnen.« Kaffeetafel-Leserei.
Der Satz der Mutter »Als Du geboren wurdest, habe ich das ganze Leid der Welt in Deinen Augen gesehen« interpretiert Witzel als das Leiden der Mutter bei seiner Geburt (eine Zangengeburt). Sechs Jahre später wird der Bruder geboren, der eigentlich ein Mädchen sein sollte (kolportiert wird die Aussage der Mutter an den Bruder, kurz vor ihrem Tod: »Ich hab mir immer ein Mädchen gewünscht«) und von nun an das Interesse der Eltern dominieren sollte. Liegt hierin der Grund für Witzels Minderwertigkeitsgefühle, die sich in einer bisweilen beißenden Hassliebe für die »gut ausgepolsterte Mittelmäßigkeit« des Lebens der Eltern gegenüber zeigt?
Peinlich sind die Stellen, in denen er die Eltern einfach denunziert, ihnen das Wort oder die Handlung sozusagen im Mund umdreht – posthum und risikolos. Die Kriegsjugend (die Mutter ist nur wenig jünger als der Vater) wird kleingeredet und mit der eigenen Jugend (Witzel ist 1955 geboren) gleichgesetzt. Die Vertreibung der Familie der Mutter 1945 wird zur »Ausweisung« verharmlost. Eigentlich sei sie, die Mutter, ja eine Polin, was sich auch an den vielfach verwendeten Ausdrücken zeigt (die erschöpfend ausgeführt werden), aber dennoch gab es eben diese Vorbehalte gegenüber »den Polen« und »den Russen«. Für Witzel ein gefundenes Fressen. Kaum ein Wort über die akademische Karriere des Vaters, über eine Arbeit als Lehrer und Orchesterleiter. Lästig war Frank immer, dass der Vater häufig zu Hause war, während die Väter der Mitschüler erst abends zurückkamen. Immerhin gegen Ende vergleicht Witzel den (eher bescheidenen) Nachruhm des kompositorischen Werkes seines Vaters mit anderen und überlegt die Gründe dafür.
Den Tiefpunkt dieses Buches bilden die seitenlangen Zitate aus Briefen eines Orchestermitglieds des Vaters aus dem Jahr 1962, der der am Ende in einer Nervenheilanstalt landet. Im Wahn des Irren mit seinem »Paganinigeheimnis« entdeckt Witzel eine Parallele zum (geistig »normalen«) Vater weil beide, so die These, in eine »immer geartete Normalität« zurückkehren wollten.
Natürlich wirken etliche Vorstellungen und die hieraus resultierenden Handlungen der damaligen Zeit heute befremdlich und antiquiert. Dies zu thematisieren ist nicht ehrenrührig, es allerdings über mehr als 300 Seiten in jeder Facette zu deklinieren und zu diffamieren gähnend langweilig. Dabei geht nicht um die Verteidigung des butzenscheibenhaften Lebensentwurfs der 1950er bis 1970er Jahre oder einer falschen Idealisierung einer Kindheit. Aber Witzels »Unfähigkeit zu trauern«, die bisweilen in eine Unfähigkeit zu Leben zu oszillieren scheint, wird zu einem für den Leser quälenden Prozess. Zu selten, dass man als Leser aufhorcht oder aufschaut, kaum, dass man so etwas wie Erkenntnis oder einfach nur das Bemühen darum zu erkennen mag. Ständig muss etwas aufgedeckt, enthüllt werden. Die bloße Entdeckung genügt nicht, es gibt immer eine Skandalisierung. Zwar stellt der Erzähler Fragen, aber sie sind fast immer suggestiv; die Antworten sind schon vorher da und die Fragen werden so gestellt, dass die Antworten passen.
Früh spielt er mit der Möglichkeit, mit seinem Text über die Nicht-Trauer über den Tod der Eltern zu scheitern. Am Ende zeigt sich, dass gar nicht erst versucht wurde, dieses Scheitern abzuwenden. Das mündet dann in Erkenntnissen wie diese: »Wie glücklich diejenigen Autoren, dachte ich erneut, die der Meinung waren, lediglich etwas ‘darzustellen’, und gar nicht auf die Frage kamen, ob der Schriftsteller nicht auch die Pflicht hatte, etwas nicht darzustellen, um nicht dort, wo er naiv und bestenfalls aus gutem Willen meinte, an etwas erinnern zu müssen, dies in Wirklichkeit dem Vergessen überantwortete. Konnte ich also letztlich mit dem Scheitern des Textes zufrieden sein oder war selbst das nur eine Ausrede, da ich dennoch alle möglichen Erinnerungen durcheinandergeschüttelt hatte, anstatt mir von vornherein eine Form der Abstinenz aufzulegen…« (ich breche ab, der Satz geht noch sechs Zeilen weiter, aber deutlicher wird es nicht mehr, eher im Gegenteil).
Die Schwierigkeiten, autobiographische Prosa zu verfassen, sind bekannt. Grundvoraussetzung ist das Interesse an den Figuren, über die man erzählt. Aber Witzel fehlt dieses Interesse. Einmal erwähnt er, dass die Mutter ihm gesagt habe, der Vater habe sich nach der Geburt des Bruders verändert. Worin bestand die Veränderung? Lässt sich dies herauslesen aus Unterlagen? Der Leser bleibt alleine – dieser Ansatz wird nicht weiterverfolgt.
Wenn Witzel über den Kitsch feststellt, dass dieser deshalb Kitsch sei, »weil etwas vom Ende her erzählt wird, womit die Erzählung als solche überflüssig ist«, so beschreibt er damit auch dieses Buch als Kitsch, weil das finale Scheitern bereits von Beginn an feststeht. Witzels kokettes Eingeständnis ist am Ende Ausflucht und Masche. Damit er nicht an seiner seltsamen Melange aus Hochmut einerseits und Selbsthass andererseits erstickt, stellt er beides aus wie ein restaurierungsbedürftiges Möbelstück, dem man seinen erbarmungswürdigen Zustand als Patina anrechnen soll. Am Ende kann es sich der Erzähler in seiner Opferrolle bequem machen.
Das »Inniger Schiffbruch« und nicht »Glücksritter« auf der Longlist zum Buchpreis steht, ist dem Zeitgeist geschuldet. Aber man ist ja diesbezüglich längst Kummer gewohnt.