»Sylvia« ist leider nicht die stärkste Erzählung in Frédéric Valins Buch. Nicht, weil eine so ganz andere Welt als die des Zivildienstleistenden Kâzim aus Christoph Simons »Spaziergänger Zbinden« erscheint; eine Welt mit Trinkprotokollen, Tablettenmedikationen und befristeten Arbeitsverträgen. Valins Pfleger duzt Sylvia, seine Arbeitsauffassung ist unprätentiös, die Tonlage zuweilen pragmatisch-schnoddrig (etwa, wenn er darüber nachdenkt, wie körperlich gesund Demente doch sind, da sie eine umfassende und regelmässige ärztliche Versorgung erhalten) aber trotz allem niemals despektierlich oder gar zynisch. Die Erzählung fällt aus einem anderen Grund ein bisschen von den anderen ab: Die Klippen des Klischees, die sich beim Thema Alte und Pflege so bereitwillig auftun, vermag der Autor nicht ganz zu umkurven. Lieber hätte man gehabt, wenn der Pfleger über seinen Beruf im allgemeinen und über Sylvia im speziellen einfach erzählt hätte.
In der Geschichte mit dem verblüffenden Titel »Lea lacht« fährt ein Ich-Erzähler mit seiner Ex-Freundin Lea in den Urlaub an die portugiesische Algarveküste. Touristenhölle mit Rentnern und, vor allem, Engländern, diese »Hunnen der Gastronomie«. Schnell stellt sich die Langweile ein, die eine Erholung erzeugen soll in Wirklichkeit jedoch nur Ödnis schafft. Notdürftig wird der intellektuelle Appetit mit Besichtigungen lächerlicher Kirchen oder Kleinstädte gestillt. Insbesondere dem Mann überkommt eine in Ansätzen bemerkbare Meursault-hafte Gleichgültigkeit. Früh beginnen beide zu trinken. Am letzten Abend versucht er sich mit einer dänischen Abiturientin (»sie riecht nach Erdbeerkuchen« [wobei es eigentlich »duftet« heißen müsste]) und findet danach Lea mit dem russischen Barkeeper in ihrem Zimmer im Bett.
Die existentielle Unbehaustheit in dieser Welt ist auch beim Protagonisten der Erzählung »Mutter« dominierend. Dieser erfährt, dass eine langjährige Schulfreundin und Nachbarin Suizid begangen hat. Er kommt zur Beerdigung – in der Zeit »zwischen den Jahren« – und verknüpft dies mit einem Besuch bei seiner Mutter. Im Gegensatz zu ihm zeigt diese ein überaus reges und aktives Sozial-Leben; sie ist gepflegt, hat sich hell und zweckmässig eingerichtet und singt am Klavier und Cello begleitet in einem Restaurant. Er besucht die Orte seiner Kindheit und verfällt sofort in jene »träge Wut«, die »während seiner ganzen Jugend an ihm gefressen hat« und ein Bedürfnis erzeugt hat, »ein Haus anzuzünden«, obwohl »in vollem Bewusstsein, dass man sich das ohnehin nicht trauen würde«. Anfangs noch ablehnend, beginnt auch er das Trinken und flieht dann von der Beerdigung, weil er »noch nicht einmal richtig traurig ist«.
Wie schon in der Algarve-Erzählung gelingt es Valin brillant jenen Kippmoment des Trinkenden zwischen Klarsicht und Rausch zu evozieren. Auch in der Erzählung »Fast keine Wände«, in der von einem mittel- und meist beschäftigungslosen Mann die Rede ist, der als Lebensgefährte einer erfolgreichen, zehn Jahre älteren Ärztin sich deren Lebenspläne willig unterwirft und von Berlin aufs Land in ein von ihr gekauftes Haus zieht, spielen die Effekte des Alkohols auf die Gemütslage des Protagonisten eine große Rolle. Im Monolog »Der Trinker« heißt es, das Trinken sei »die beste Art, sich zu erinnern«. Gewagt, aber durchaus interessant, wie danach über die Raum- und Zeitwahrnehmung von Demenzkranken philosophiert wird: »…sie haben keine Vorstellung mehr von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft […] sie haben kein Gefühl mehr für Dauer…« Mit dem Trinken gelingt – bei geschickter Balance – beides: Erinnerung und Vergessen; Schärfe und Indifferenz. Aber es droht auch das Decouvrieren vor den anderen, die Exzessivität, die Blamage.
In scheinbar andere Fahrwasser wird der Leser in der längsten Erzählung es Buches, »Der Oberbürgermeister«, geführt. Es geht um ein idyllisches Städtchen in Baden-Württemberg. Der amtierende OB geht in Pension und möchte für die anstehende Wahl seinen eher farblosen, jungen Nachfolger auf den Posten hieven. Man lernt nach und nach den lokalen Honoratiorenkosmos kennen; eine veritable Spoerl-Welt zeigt sich, nur dass es kein Denkmal mit Maulkorb gibt, dafür aber einen bloggenden ehemaligen Oberstudienrat, der dann auch noch angezeigt wird. Fahrt nimmt die Geschichte auf, als sich wider Erwarten ein Gegenkandidat präsentiert, der das meritokratische Sozialgefüge des Ortes ein bisschen durcheinanderbringt. Valin erzählt diese Geschichte ohne anstrengendes Pathos und vermeidet bewusst jegliche moralinsaure Entrüstung. Er will weder belehren, noch »Mißstände« aufzeigen. Und auch vom satirischen Joachim-Zelter-Duktus (»Der Ministerpräsident«) trennen ihn Welten.
Zu den seinsvergessenen Protagonisten in den anderen Erzählungen, die zwischen Melancholie und Sentimentalität schwanken, ohne jedoch in Selbstmitleid zu zerfliessen, setzt Frédéric Valin in seinem Idyll im Allgäu den Kontrapunkt. Dort haben scheinbar alle ihre Bestimmung gefunden. Und so reüssiert der zugereiste Chefredakteur des Lokalblatts nicht und verlässt den Ort wieder. Ob die hermetische Stadtgesellschaft glücklich ist, bleibt offen; wenigstens spielen sie es. Nicht nur in dieser Geschichte zeigt sich, dass Valins Erzählungen von einer geradezu akribischen Wertungslosigkeit und wohltuenden Zurückhaltung sind – und dies trotz der zuweilen salopp daherkommenden Sprache. Oft gelingen mit wenigen Skizzenstrichen Bilder, die von betörender Schönheit sind. Etwa, wenn eine Straße »wie ein geschmacklos dekorierter Weihnachtsbaum« aussieht. Oder der Algarve-Reisende »gerne weinen [würde], aber es fehlt der Anlass«. Dann der Altenpfleger, der sich mit Sylvia derart müht, dass er freimütig bekennt: »unsere Körpergerüche [kann ich] nicht mehr unterscheiden«. In der Redaktion der baden-württembergischen Lokalzeitung sitzt der Redakteur, dessen »Zynismus echt« ist, denn »er hat dafür keinen Idealismus aufgeben müssen«. Die Stimmungen, die Valin zu erzeugen vermag – sei es im Zimmer in einem Altenheim, am Algarvestrand, auf dem Provinz-Fußballplatz oder in der Eckkneipe, hallen verblüffenderweise lange beim Leser nach.
Am Ende ist man erleichtert, weil die Aussage des Verlages von der »Ironie« sich nicht wie befürchtet erfüllt. Denn ich gestehe freimütig, dass mich das Attribut »ironisch« (ähnlich wie »poetisch«) zumeist von einer Lektüre abhält. Die zeitgenössische Literatur besteht ja fast nur noch aus diesen dauergrinsenden Schreibschul-Ironietexten, die entweder wie ein unrettbar vertrockneter Fikus im Büro vor sich hin vegetieren oder ihre gesammelte Belanglosigkeit mit aufgesetzten Hyperventilationen camouflieren müssen und massenweise von grenzdebilen Literaturkritikern dafür noch Applaus erhalten. Hiervon ist in diesen Erzählungen glücklicherweise nichts zu lesen.
»In kleinen Städten« ist ein wunderbar leichtes Buch mit Tiefgang. Abermals ist bewiesen, dass sich beides nicht ausschließen muss. Wer ein gewisses literarisches Niveau mit lustvoller Lektüre verbinden möchte, ist hier sehr gut aufgehoben. Ach ja: Ein Weihnachtsfest ohne dieses Buch zu verschenken ist möglich. Aber nicht unbedingt wünschenswert.