Im zweiten Teil wird also direkt Bezug auf die Definition Goethes genommen. Bei Roth besteht die unerhörte Begebenheit in den schier endlos empfundenen Wiederholungen des Immergleichen im Laufe eines Lebens. Früh erkennt der Leser, dass die Aufteilung ein Leben eines Menschen strukturieren soll: Jugend und Erwachsenwerden zu Beginn – am Ende das Alter, der herannahende Tod. Dazwischen das, was man salopp wie unvollständig mit »Leben« beschreiben könnte. Zur »Abendlandnovelle« wird dies durch die radikale Spiegelung dieses Lebens in unserer Gesellschaft, dem »Abendland«.
Da mag Roth noch so poetisierend daherkommen – der Grundton schwankt zwischen nörgelig, resignativ und kalauernd:
Also anfangen ohne wozu
und weitergehen dann
um die Schönheit zu suchen.
Kirschen im Schnee.
Nichts als Klischee?
Eingearbeitet in diese zuweilen hypochondrisch anmutende Schwermut sind dann einige heitere Momente. So heißt es nur wenig später:
kein Ende kein Ziel
nur Anfang
zartes Dazwischen
weiter
und in Heiterkeit
wieder zum Anfang zurück.
Um dann sofort wieder zu kippen:
Also
wieder alles von vorn.
Jedem hängt das zum Hals raus.
Der Mensch ist und bleibt eine ekelige Angelegenheit mit ständige[m] Gekeife oder Fußgängerkonversation. Dabei sind
Jugendsehnsüchte, Kinderbedrängnisse
verloren, begraben
und man spielt nur Theater. Roth entwirft nun keine Gegenwelt hierzu, sondern legt immer neue Holzscheite ins Feuer der Verzweiflung. Dabei verfällt sie zuweilen ebenfalls in das bei anderen ausgemachte Ab- und VerSicherungsgestammel oder auch in plumpe Pseudo-Ironie:
Soll ich Dir einen Witz schnell erzählen?
Fragt also die Tochter der Nutte:
Mama, sag:
Ist Liebe machen auch Arbeit?
Unspektakulär, wie die Assoziation »Untergang« in Bezug auf »Abendland« hier willig bedient wird und schließlich als schier unabweisliches Fatum erscheint.
Inzwischen hängt
der Untergang unseres Abendlandes
überall in der Luft.
Ein fast sehnsüchtig erwarteter Untergang; ohne jeglichen Schmerz für das Untergehende. Roth ist desillusioniert und deprimiert, findet jedoch – trotz Gedichtform – zu selten die adäquate Sprache, die Nachhall hinterlässt. Sie nimmt Adornos Diktum von der Unmöglichkeit des richtigen Lebens im Falschen scheinbar persönlich, aber ihr Furor wirkt seltsam bigott und zustimmungserheischend. Fast triumphal die (eigentlich banale) Feststellung, dass ohne den abendländischen Menschen kein Abendland unterginge.
Roth kennt kein Erbarmen und doch ist das Geschriebene nicht einmal erbarmungslos. Die Autorin verbietet sich jegliches Pathos und flüchtet in einen allegorischen Zynismus, in dem sie eine Bedeutung geradezu provozierende Notboot-Gesellschaft erschafft oder ausmacht, die diesem Abendlanduntergang wie auch immer zu entfliehen sucht, deren Höhepunkt in eine emphatische (oder ist das auch Ironie?) Ode an die Oper (Ich liebe die Oper) mündet.
So weit, so ärgerlich, wenn da nicht der dritte Teil wäre, in dem Roth die poetische Dekonstruktion mit sanfter Melancholie und Sehnsucht verbindet und das tapsige Schimpfen weitgehend verbannt:
Einmal vielleicht
unterm Fliederbusch noch einmal träumen
dass es nie
immer so
sein wird, auch nie immer
anders, egal wie.
Man ahnt es natürlich: der Tod und der Gedanke daran nähert sich.
Wie redet man denn mit dem Tod
mit dessen
unmerklichem und für den Sehenden
dennoch sichtbarem Annähern?
Es gelingen Roth grandiose Miniaturen über das Leben im Alter:
Die gefürchteten Blicke der Mütter.
Die Blicke, die darum flehen
gestreichelt zu werden.
Am Ende dann die Furcht vor den
Gedächtnisschlieren
abstruse Erinnerungstrümmer.
Und schließlich:
Nach dem Alter kommt
Tod. Keine Jugend.
Die letzten Seiten dieses Buches versöhnen, obwohl sie das Unversöhnliche zeigen. Das ist wunderbare Literatur. Endlich.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Wunderbare Literatur?
Ich find’s nicht »wunderbar«.
Es ist mir ein wenig peinlich, es mitzuteilen, denn vielleicht bin ich nur’n bißchen zu doof dafür...
...aber ich find’ zumindest die obigen Beispiele entweder nur banal (»Nach dem Alter kommt Tod. Keine Jugend.« Tja...) oder nur kitschig (»Die gefürchteten Blicke der Mutter...«).
.
»Einmal vielleicht
unterm Fliederbusch noch einmal träumen
dass es nie
immer so
sein wird, auch nie immer
anders, egal wie.
Man ahnt es natürlich: der Tod...«
Nein, ich ahnte keineswegs denTod – sondern dachte bei dem verqueren Satz oben an einen Schlager der Fifties. Mach einer was dagegen...
.
Die Mode, das, was man sagen möchte, willkürlich in verschiedene Zeilen zu packen und dies dann »Gedicht« zu nennen, fand’ ich schon immer albern, hier ist es besonders deutlich: Der Kaiser ist nackt. Er verkauft uns simple Sätze, die jedem mal einfallen, als »Gedicht«.
.
Froh bin ich, dass Frau Roth nicht auch noch generelle Kleinschreibung benutzt hat. Es würde allerdings passen.
Tja, es rächt sich eben. Schon aus Prosa zu zitieren, ist schwierig. Aber aus einem solchen Prosa-Gedicht..?
Kommen die Einwände aus der Lektüre der Besprechung oder des ganzen Buches?
@Klaus
Das wäre vor allem inhaltliche Kritik. Aber man presst Worte nicht einfach in Verse, das kann rhythmisch daneben gehen und man merkt das beim Lesen. Ich kenne das Buch nicht, aber man müsste darauf schon etwas eingehen, Mode hin oder her, es geht ja ums Eingemachte, ums Handwerk – inhaltliches Scheitern ist weniger dramatisch.
[Sie] verkauft uns simple Sätze, die jedem mal einfallen, als »Gedicht«.
Mein erster Impuls, als ich die Beispielzitate las, war auch etwas aehnlich Geharnischtes einzuwerfen wie Klaus. Freilich fehlt mir dazu die Kenntnis des Gesamtwerkes, vielleicht wirkten die Saetze im Kontext gelesen nicht mehr so banal, so klingt’s fuer mich nach etwas, was ich vielleicht als Dichter-Schlacke bezeichnen wuerde: Jene Versuche, Saetze die man dahinschreibt/-brabbelt waehrend man den richtigen Text sucht und die man besser vermodern laesst oder wegwirft, weil sie die richtige Form noch nicht gefunden haben, sondern gerade dem Vortasten, der Suche dienten.
Freilich muss ich bekennen, dass mein Verhaeltnis zur Lyrik etwas gestoert ist: auch wenn ich etwas mehr als eine Regalreihe Lyrik besitze ist doch kaum etwas dabei was mir [noch] gefaellt – ich bin auch selbst voellig ratlos darueber welche Form Lyrik [noch] haben sollte/kann.. (angesichts eines solch langen Prosagedichtes fiele mir gerade aber Gruenbeins »Vom Schnee« ein, das ich doch empfehlen wuerde.) Bei meiner Ratlosigkeit und auch Unfaehigkeit selbst Lyrisches hervorzubringen will ich nicht voreilig den Stab brechen,.. aber auch mir erschien es gleich so, dass es so nicht geht.
Ich weiss es nicht. Literatur (und Kunst) ist so subjektiv. Vielleicht waere ich so voreingenommen, dass dieses Werk gar nicht mehr an mich herankoennte. Warum es Sie ja dennoch bewegt hat, Herr Keuschnig, haben Sie versucht darzulegen. Fuer Klaus und mich bleibt das moeglicherweise nicht nachvollziehbar,.. wie man in einer solchen Geroellhalde etwas entdecken kann – vielleicht gehoert es ja dazu, dass man dem oeffentlichen, uns umgebenden Muell auch in solcher Form(losigkeit) begegnet – vielleicht kann man in all dem Schutt ein paar Perlen entdecken.. mir erscheint das noch sehr fern.
PS. Eben gemerkt, dass das eventuell sehr negativ klingt.. so als würde ich z.B. alle Prosagedichte aburteilen. Das ist natürlich nicht der Fall – Brinkmanns »Einer jener klassischen« (z.B. http://bersarin.wordpress.com/2011/04/02/rolf-dieter-brinkmann‑2/ ) gefällt mir z.B. weiterhin... Vielleicht kann ich mich auch einmal für Frau Roth erwärmen, aber momentan bin ich da noch skeptisch...
Sehr schöner Verweis im Link auf Brinkmann (und Handke). Tatsächlich versucht ja Roth in den besten Augenblicken auch »in Sprache gebannte Alltäglichkeit einer flüchtigen Szenerie und die Größe eines Momentes« zu evozieren. Dies mag zuweilen banal oder klischeehaft klingen, aber im Kontext der vorher gelesenen, nörgelnden Weltverzweiflung wirken diese Momente bei ihr geradezu befreiend, auch wenn sie naturgemäss nicht schmeichelhaft oder idyllisierend daherkommen. Daher ist das auch kein Kitsch. Zum Kitsch würde es höchstens, wenn man Roths Zeilen als zynischen oder moralisierenden Kommentar auf das Gesehene lesen würde.
Der Vorwurf, dort würden »simple Sätze«, die »jedem mal einfallen« als Lyrik sozusagen »verkauft« entspringt doch letztlich dem Affekt des Museumbesuchers, der vor einem Bild steht und meint, dass könne auch er (oder, wahlweise zu ergänzen: sein Sohn, seine Tochter, ein Affe, der Hund) malen, zeichnen, hervorbringen. Es zielt auf den Anspruch einer wie auch immer sich zeigenden Originalität.
Es ist ja immer noch ungelöst, wer wann wie feststellt, ob es sich um schnöde Banalitäten handelt oder um Kunst. Manchmal schrammen diese beiden Autos im Wettrennen unserer Aufmerksamkeit aufeinander zu und berühren sich. Dann sprühen die Funken der Trivialität oder der Genialität. Wer vermag das zu entscheiden? Und: Muss es entschieden werden?