Giu­sep­pe Un­ga­ret­ti: Süd­ita­lie­ni­sche Rei­se

Wie wä­re das ei­gent­lich: Ein Le­ser, der nie von Giu­sep­pe Un­ga­ret­ti ge­hört hat, nichts von ihm weiß (we­der li­te­ra­ri­sches noch sonst­was) schlägt die­ses Buch mit dem Ti­tel »Süd­ita­lie­ni­sche Rei­se« auf und liest un­ter »Sa­ler­no, 12. April 1932«:

»Und plötz­lich sind die Ber­ge nicht mehr zu se­hen, pres­sen uns den­noch die Flan­ken, wäh­rend wir auf­bre­chen, um ent­lang der Kü­ste wei­ter­zu­fah­ren. Die Stil­le ist jetzt fast furcht­ein­flö­ßend und eben­so die Ein­sam­keit und die Grö­ße, in der ich mich abge­sondert füh­le.«

Und kurz dar­auf:

»Ach! es ist Früh­ling. Bis zum Becken des Te­ste­ne ist er von den Berg­gip­feln her­über­ge­kom­men, uns zu be­grü­ßen. Er hat sich ver­spä­tet, ein Lebenszei­chen von sich zu ge­ben die­ses Jahr; aber der­art hoff­nungs­froh al­les auszu­klei­den, das hat­te ich noch nie ge­se­hen.«

Giuseppe Ungaretti: Süditalienische Reise

Giu­sep­pe Un­ga­ret­ti: Süd­ita­lie­ni­sche Rei­se

Ein Buch zu le­sen oh­ne die­ses all­seits üb­li­che bio­graphische, phi­lo­lo­gi­sche, po­li­ti­sche und zeit­hi­sto­ri­sche Ge­päck im Ruck­sack zu spü­ren – wie wä­re das? Scha­ren von Ex­ege­ten, Kri­ti­kern, Wis­sen­schaft­lern und Hi­sto­ri­kern wer­den dies ab­leh­nen, als nai­ves Le­sen brand­mar­ken. Sie wer­den be­stehen auf die­sem Ge­päck, oh­ne das die Rei­se zum Werk nicht mög­lich zu sein scheint. Sie wer­den, man ih­nen lan­ge ge­nug mit der ge­woll­ten Ah­nungs­lo­sig­keit be­geg­net, be­haup­ten, dass ein sol­ches Le­sen ge­fähr­lich und dumm sei. Was sie nicht be­grei­fen wer­den: Manch­mal kann ei­ne sol­che Dumm­heit be­frei­end sein; neue Per­spek­ti­ven er­öff­nen, den Blick schär­fen und Ge­dan­ken her­vor­brin­gen, die jen­seits vom aus­ge­quetsch­ten In­ter­pre­ta­ti­ons­brei lie­gen.

Un­ga­ret­ti ist 1932 in Kam­pa­ni­en un­ter­wegs (weit­ge­hend un­ge­klärt bleibt das »wir«), be­wun­dert die Aus­läu­fer der lu­kani­schen Tä­ler, er­zählt von den Men­schen, die »zer­streut ih­ren ei­ge­nen Ge­dan­ken nach­hän­gen«, schil­dert, ja: ent­deckt die Schön­heit der Land­schaft, evo­ziert da­bei im­mer wie­der die an­ti­ken Er­zäh­lun­gen in die Ge­gen­wart (die Fi­scher ha­ben ein Apol­lo­haupt im Netz statt Sar­di­nen), ver­gleicht manch­mal das Ge­se­he­ne mit ei­nem Rei­se­füh­rer von 1845 (und stellt we­nig Ver­än­de­run­gen fest – nur manch­mal gibt es ei­ne »be­que­me Her­ber­ge«, wo es einst nur ei­ne Hüt­te gab) und ist, in den schön­sten Mo­men­ten, ein­fach nur auf ei­ne kind­li­che Art und Wei­se glück­lich.

Da­bei sind die­se von Ste­fan Ruess neu über­setz­ten acht Rei­se­er­zäh­lun­gen na­tür­lich sel­ber nicht frei vom Ge­päck der Über­lie­fe­run­gen und Deu­tun­gen. Dank­bar nimmt man die Er­läu­te­run­gen am En­de des Büch­leins an, um Un­ga­ret­tis As­so­zia­tio­nen we­nig­stens an­satz­wei­se ver­ste­hen zu kön­nen. Aber mich hat das nicht sehr in­ter­es­siert. Ich woll­te nur noch die Bu­ko­lik der Land­schaf­ten mit Un­ga­ret­ti er­le­sen, sei­ne mit­un­ter ari­sto­kra­tisch an­mu­ten­de Spra­che ver­ko­sten:

»Pi­sciot­ta schmiegt sich in drei Rin­gen an ei­ne Fels­wand: Der höchst­ge­le­ge­ne ist die al­te Stadt, mit schwe­ren und brau­nen Häu­sern und gro­ßen Ar­ka­den; in der Mit­te, wie ei­ne Schaf­her­de ver­streut, Öl­bäu­me; der drit­te, auf Wasser­höhe, be­steht aus neu­en und leich­ten Häu­sern, de­ren Mau­ern von der Luft in Pe­ri­style ge­dreht zu sein schei­nen.«

Nein, wenn man ge­nau liest, kann man die Zeit­läuf­te nicht ganz aus­blen­den. Da ist ein­mal von ei­ner »Aus­gangs­sper­re« die Re­de, die Leu­te sei­en »ver­korkt« in ih­ren Häu­sern. Aber der Rück­zug in die­se kam­pa­ni­sche Welt, die­se Sehn­sucht des un­schul­di­gen Le­sens jen­seits von wohl­fei­len Deu­tun­gen oder neun­mal­klu­gen Re­fe­ren­zen, die­se an­mu­ti­ge Hin­ga­be an die Or­te (»un­heim­lich und episch«, wie es ein­mal heißt), das am En­de mit dem Au­tor »ziel­los[e]« Her­um­strei­fen in Nea­pel – all dies ist mit die­sem Buch mög­lich, wo­zu auch die kon­ge­nia­len Zeich­nun­gen von Sa­bi­ne Jan­sen bei­tra­gen. Man muss es nur wol­len. Da­nach mag sich der es­ka­pi­sti­sche Le­ser wie­der ir­gend­wann schüt­teln. Wenn es denn un­be­dingt sein muss.

5 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Dan­ke für den Hin­weis. Ich freue mich schon aufs Le­sen. Ne­ben­bei: Die Pro­sa Un­ga­ret­tis und sei­ne Me­ta­phern ste­hen mög­li­cher­wei­se gar nicht in Ge­gen­satz zur Her­me­tik sei­ner Ly­rik: Auch die Ly­rik und ih­re Her­me­tik kön­nen er­zäh­le­risch ver­stan­den wer­den.

  2. Ihr be­herz­tes Be­gleit-Schrei­ten durch Kam­pa­ni­en ließ mich Un­ga­ret­tis »Vi­ta d’un Uo­mo« mal wie­der auf­schla­gen. Die Sei­te mit dem be­rühm­ten
    M’­il­lu­mi­no
    d’im­men­so

    (Hof­fent­lich so rich­tig, ha­be nur die franz. Über­set­zung zur Hand; Jac­cot­tet über­trägt das, den Reim wohl eher hin­neh­mend als su­chend, gleich­falls mit sie­ben Sil­ben:
    Je m’é­b­lou­is
    d’in­fi­ni

    Was mir [so­eben] ein­fiel –bei der Hit­ze– als mög­li­che deut­sche Ent­spre­chung
    ist wohl eher so was wie ein Witz, ei­ne Ka­ri­ka­tur:
    Mich blen­det
    was nicht en­det
    ).

    Aber im Ernst: mir ist ge­ra­de auf­ge­gan­gen, dass mei­ne bis­he­ri­ge Vor­stel­lung von dem Ly­rik-Ju­wel ganz falsch war. Kei­ne Re­de von tief­blau­em Him­mel, Frie­den, und Som­mer! Im Krieg, am 26 Ja­nu­ar 1917 ist das ge­schrie­ben wor­den, im Karst.

    Und letz­te­res Wort –Karst– fasst zu­sam­men, scheint mir, was in der er­staun­lich
    brei­ten Per­spek­ti­ve die­ses Blogs an­ge­spro­chen wird: mit Sprün­gen über Spal­ten hin­weg: Ge­schich­te, und Ge­schich­ten, süd­li­che Rei­se­bil­der wie eben hier, Kohls Le­ben nach dem von Beu­ys, und na­tür­lich, ab und zu, hier be­son­ders in sei­nem Ele­ment, Pe­ter Hand­ke...

    Ich bin froh dies zu­sätz­li­che Fen­ster in mei­ner Ban­lieue-Woh­nung ent­deckt zu ha­ben.

  3. Hans Huett: wo­bei ich Un­ga­ret­tis Ly­rik nie so völ­lig her­me­tisch wahr­ge­nom­men ha­be. Es sind teil­wei­se sehr kla­re Bil­der.

  4. Ich ha­be das Buch nicht vor­lie­gen, aber ei­gent­lich müß­te es »Sa­ler­no« hei­ßen, oder? Von dort ist Un­ga­ret­ti auf­ge­bro­chen.