Fast genau in der Mitte von Beim Häuten der Zwiebel fragt der Autor (und mit ihm der bis dahin geduldig gefolgte Leser): Was noch ist mir vom Krieg und aus der Zeit des Lagerlebens außer Episoden geblieben, die zu Anekdoten zusammengeschnurrt sind oder als wahre Geschichten variabel bleiben wollen? Eine schöne und treffende Charakterisierung des gesamten Buches. Dass es im vergangenen Sommer überhaupt einen derart grossen Furor auslöste, ist dem verstohlen auf Seite 126 wie beiläufig erwähnten Tatbestand geschuldet, mit dem Günter Grass seine Zugehörigkeit zu einer Einheit der Waffen-SS erwähnt (ja, erwähnt; nicht erzählt). Und weil dies bis Mitte August kaum jemand bemerkt hatte (die Kritiker hatten wohl so genau die Rezensionsexemplare nicht gelesen), kam es im berühmten FAZ-Interview zur Vorab-Beichte.
Endlich hatten diejenigen, denen Grass jahrzehntelang die Leviten oder anderes gelesen hatte, einen Hebel gefunden, mit dem sie das Denkmal stürzen wollten oder glaubten, es zu können. Vieles von dem, was angeführt wurde, war wohlfeil, anderes pure Heuchelei – sehr vieles auch schlicht eine Frechheit. Spätestens nach Zuerkennung des Literaturnobelpreises war Grass literarisch geadelt; nur Päpste oder gänzlich vom Betrieb unabhängige Geister wagten noch Kritik am Werk des Schriftstellers. Jetzt hatten sie einen Hebel aus des Meisters Hand persönlich bekommen, der ihnen eine Dekonstruktion des politischen Geistes ermöglichte und über diesen Umweg auch noch trefflich das Werk beschädigen konnten (letzteres läuft gerade an). Wie jämmerlich, eine solche Gelegenheit abzuwarten und sich nicht vorher mit der Kraft des Wortes zu messen. So behielt Grass in dieser Diskussion seine Würde, und zwar in dem Masse, je länger er die Salven der »Wir-haben-es-schon-immer-gewusst«-Kleingeister aushielt. Vielleicht (s)eine Lehrstunde, es seinem grossen Widersacher Kohl im Aussitzen gleich zu tun.
Aber wer hat tatsächlich danach noch das Buch gelesen? Die Kritik – auch hier gespalten. Und es war deutlich zu beobachten, dass jene jüngeren und jungen Kritiker, die 30 oder 40 Jahre nach Grass geboren wurden, eine deutlich differenziertere und distanziertere Betrachtung wagten, als jene, die Grass’ Generation angehören. Die emphatische und zauberhafte Kritik eines Fritz J. Raddatz beispielsweise blieb dann eher die Ausnahme. Ich will aber nicht verschweigen, dass gerade sie zu einem grossen Anteil mein Lesebedürfnis anstachelte – wenn auch Vergleiche von Grass’ (angeblicher) »Schonungslosigkeit« im Umgang mit sich selbst mit zum Beispiel Jorge Semprúns Erinnerungsbücher schon eine gewisse Pikanterie darstellen (um nicht ein anderes, härteres Wort zu gebrauchen) – hier der Kriegsfreiwillige 17jährige, der wie auch immer zur SS gekommen war und dort der aktive Widerstandskämpfer, der 1943 in das Konzentrationslager Buchenwald interniert wurde. (Es ist schon ein Elend mit dem Vergleichen, oder?)
Dabei muss eingestanden werden, dass ich nicht der regelmässige und aufmerksame Grass-Leser war. Die drei, vier Bücher des Autors (allesamt Prosawerke; nicht eine Zeile seiner Gedichte), die ich bisher gelesen hatte, genügten dem Dilettanten. Die letzte Lektüre, Ein weites Feld, ein fulminant geschriebenes Anti-Einheitsbuch mit teilweise abenteuerlichen historischen Konstruktionen, von der Kritik im grossen und ganzen verrissen, empfand ich entgegen des Literaturmainstream als eine heitere, interessante und engagierte Streitschrift – die im übrigen die Vorbehalte der deutsch-deutschen »Vereinigung« vieler linker bzw. linksintellektueller Kreise (vor allem Westdeutschlands) widerspiegelte. Diese Vorbehalte wurden – das war die Schwäche des Buches – dahingehend fast ausschliesslich in der historischen Schuld Deutschlands angesiedelt. Wer – das die sehr verkürzte und grob vereinfachende These – Bismarck und Hitler hevorgebracht habe, dürfe nicht in Frieden wiedererstarken. Andere Argumente – vor allem das ökonomische – gab es nicht. Aber ist wohl immer so, dass derjenige, der sich moralisch überlegen wähnt, glaubt von Begründungszwängen frei zu sein. Insofern hat Grass (aber beileibe nicht er alleine) die Diskussionen in den 70er bis in die 90er-Jahre hinein seltenst argumentativ geführt, sondern immer als Letztbegründer agiert, der jeglicher Rechtfertigung enthoben ist.
Zurück zum Buch – hin zum Buch. Obwohl: Die oben genannten Betrachtungen ergeben sich aus diesem Buch nach der Lektüre fast wie von selbst. Wenigstens etwas. Grass wollte – das ist verständlich – über Kindheit, Jugend und Werdung bis Mitte der 50er Jahre selbst reden – bevor andere aus den Archiven Material hervorkramen und es keine Möglichkeit mehr gibt, eine Replik anzubringen. Dies geschieht in gewohntem Grass-Plauderton mit gelegentlich weitschweifigen Bildern und Assoziationen, fabulierlustigen Metaphern (die dann manchmal ein bisschen arg gedrechselt erscheinen, wie die turnenden Spatzen; die Wollmütze, die olivgrün wärmt; eine rundliche Küchennonne, die rollt davon, als sie den Raum verlässt; oder die Rosen, die nach Kernseife...rochen), dem insbesondere auf den ersten rund 200 Seiten überbordenden Gebrauch der Zwiebel-Metapher (angelehnt an die Charakterisierung der Mutter von Grass, die ihn als Jugendlichen als eine Art Peer Gynt sah), in dem die Zwiebel als wahrsagerische Glaskugel Verwendung findet (später im Buch assistiert der in Bernstein eingeschlossene Käfer oder die Mücke) – allesamt Hilfsmittel von Grass, die er immer und immer wieder beschwört.
Und noch etwas prägt die Kapitel bis zum Ende des Krieges: Unabänderlich beteuert Grass seine Scham, ohne Unterlass das mea-culpa, nicht gefragt zu haben (etwa, als jemand »verschwindet« und dann einige Monate wiederkommt; man munkelte, er sei für einige Zeit im Lager Stutthof gewesen) und den Beteuerungen des Nazi-Progadanda glühend gefolgt zu sein. Dabei ist Grass zum erzählten Zeitpunkt zehn, zwölf oder vierzehn Jahre alt – da wirken die gebetsmühlenartig wiederholten rhetorischen Selbstgeisselungen arg wohlfeil. Und auch wenn Grass von seiner weiteren Zeit berichtet, als Luftwaffenhelfer oder zum Reichsarbeitsdienst kommt und über seinen Furor, sich selbst als Kriegsfreiwilliger zu melden, erzählt, wenn er von seinem damaligen Führerglauben klagt und sich der Dummheit zeiht, so wirken die bei jeder kleinsten Gelegenheit vorgebrachten, fast schon ins rituelle abgeleitenden Schuldbekenntnisse und Selbstbeschimpfungen irgendwann aufgesetzt und nahezu routiniert – und dem kritischen Leser kommt es, als würde Grass wohlkalkuliert mittels der permanent vorgetragenen Schuldaufnahmen einen Ablass für das späte Geständnis einkaufen wollen. In dem er sich selbst erniedrigt, bietet er dann keine Angriffsfläche mehr; vielleicht ein Trick (dem dann einzig jemand wie Peter Handke nicht folgte und reichlich barsch reagierte).
Einmal blättert der mühsam aufgetragene Lack ein bisschen ab, als er von der Teilnahme an einem Aufsatzwettbewerb erzählt und sich rückblickend erleichtert zeigt, dass er damals keinen Preis gewonnen habe, in dem er die hämischen Kommentare des Feuilletons imaginiert, die eine Prämierung in einem Aufsatzwettbwerb zu Zeiten des Nationalsozialismus sicherlich wollüstig kommentiert hätten. Leider fehlt Grass in diesem Moment die Reflexionsfähigkeit, die er anderweitig so litaneihaft hervorbringt – schliesslich beschreibt er nur ein Verfahren, was er selber oft genug praktiziert hatte.
Wenn die Erinnerung nicht mehr zweifelsfrei hervorzuholen ist, benutzt Grass Wortgetüme (»Unbestimmtheitsfloskeln« – Gregor Dotzauer) wie weißnichtmehrwo, weißnichtmehrwann, weißnichtmehrwieviel, weißnichtmehrwo, weißnichtwieoft oder weißnichtwomit. Das ist nicht immer schlimm, verleiht dem ohne diese Einschränkungen Gesagten aber einen zusätzlichen Wahrheits- und Authentizitätsanspruch. Und nur Grass weiss, was von dem mit dem Brustton der Überzeugung vorgetragenen dann Wahrheit ist und was nicht – auf den Gedanken kommt er Leser immer dann, wenn genau damit im ein oder anderen Fall schmunzelnd kokettiert wird (besonders am Anfang wenn von der Verführung zu den Lügengeschichten die Rede ist).
Irgendwann dann, wenn sich der Leser dem wohligen Parlando des Erzählers Grass (wie das wohl wirken mag, wenn er es mit seiner sonoren Stimme vorliest?) kurze Zeit ausliefert (also in den schwachen Momenten), ertappt man sich dabei, sich mit ihm an einer gediegenen Kaffeetafel sitzend zu sehen und zwischen zwei Kapiteln legt die Dame des Hauses dem Zuhörer dann noch ein Stück Buttercremetorte auf den Teller, welches der Gast nur anfangs (um die Vergeblichkeit wissend) mit einer ablehnenden Geste kommentiert, um dann mit mildem Lächeln zu danken. Hier liegt eine grosse Schwäche, wenn nicht die Schwäche des Buches: Grass erzählt alles ohne melodische sprachliche Unterschiede; es gibt keine Höhepunkte. Der Leser wird mit diesem gleichmässigen Erzählduktus fast eingewickelt. Und auch – man muss es sagen – manchmal ist der Kitsch nicht weit. Soll man – verkürzend – sagen, dass das Pathos fehlt?
Alles ist gleich gewichtet im Erzählstrom: Wenn dem Kameraden bei einem Angriff beide Beine vom Rumpf abgetrennt werden wird dies mit gleicher Empathie erzählt, als vorher die Lektüreerlebnisse des Jungen (erstaunlich, mit vierzehn schon den Hyperion zu lesen!). Und wenn Grass 1954 seine Mutter besucht, die sterbenskrank in einem Krankenhaus liegt, finden sich neben der Schilderung der letzten innigen Momente des Sohnes mit der Mutter, Banalitäten wie Ab und zu kamen Krankenschwestern und Nonnen, behütet von Flügelhauben...Später habe ich, der Hauben wegen, Vinzentinerinnen frontal und im Profil mit Blei, Kohle und Feder gezeichnet. Immer hat Grass sein Werk, seine Malerei, seine Dichtkunst, sein Leben im Fokus. Zur Not als Abschweifung. Menschen dienen ihm als Personal; sie geben die Kulisse für das Werk des Meisters ab. Ganz selten gibt es epische Momente – am Ende des Kapitels gelingt Grass immerhin ein wunderbarer Nachruf auf seine Mutter. Grass ist – das wird hier deutlich – kein Dichter; kein Ver-Dichter.
Natürlich ist das Buch seine Autobiografie. Und natürlich steht Grass im Mittelpunkt seiner Betrachtungen – wie sollte es auch anders sein. Aber die eitlen Selbstinszenierungen des Erzählers stossen den Leser gelegentlich ab. Dann wäre weniger mehr gewesen. Und kaum jemand findet Gnade vor der ultimativen Bewertung bzw. Rubrizierung. Alles, was nicht in Grass’ Lebensentwürfe passt, alles, was anderen Intentionen folgt, wird pauschal desavouiert. Weil seine Schwester in einem Kloster psychisch nicht bestehen kann, ist das gesamte Klosterleben plötzlich organisierte Heuchelei. Und der aufkommende[r] Ekel Anfang der 50er Jahre, mit dem er die neureichen Typen in Düsseldorf geisselt, die vom Wirtschaftswunder profitieren und sein Geschimpfe auf den verhassten Kanzler Adenauer – alles das wirkt nicht nur als aufgesetzte Erregung, sondern im Laufe des Buches widerspricht der dann selber neureich-werdende Grass selber.
Differenzierungsvermögen ist Grass’ Stärke nicht. Ganz selten findet er ein Wort für seine Förderer. Das dem Buch voran gestellte Motto Allen gewidmet, von denen ich lernte mutet in Anbetracht dessen fast komisch an. Wenn man die Mutter ausnimmt, die eine fast heroische Stellung einnimmt, bleibt nur der Obergefreite, der sich dem umherstreunenden Soldaten (mit den beiden Runen auf den Kragenspiegeln) in den letzten Tagen des Krieges annahm – und der bei einem Raketenangriff beide Beine einbüsste, der Kochlehrer, der in einem Gefangenenlager unmittelbar nach Ende des Krieges, den Gefangenen ohne jegliche Zutaten vom Kochen erzählt, die unerfüllte Liebe einer gewissen Rosanna und der erste Kunstlehrer an der Akademie in Düsseldorf übrig, der ihm den Rat gab, eine Steinmetzlehre vor einem Studium zu absolvieren (die Akademie war 1947 noch geschlossen). Diesen Personen wird eine gewisse Dankbarkeit entgegengebracht – alle anderen (auch der Vater, die Schwester, Grass’ erste Frau) bleiben seltsam blass – hier erzählt jemand, der sich für ziemlich autark hält, insbesondere, was menschliche Bindungen angeht.
Ja, es gibt da noch eine frühe Figur. Der junge Grass, der als Luftwaffenhelfer eingezogen wird, macht Bekanntschaft mit einem Jugendlichen, der in allem vorbildlich seinen Dienst absolviert – nur, sobald er eine Waffe in die Hand bekommt, lässt er diese fallen. Alle möglichen Strafaktionen vermögen nicht, diesen Jungen zu brechen, der im Buch Wirtunsowasnicht genannt wird. Grass arbeitet sich und seine Schuld ausgiebig an diesem Beispiel ab – und ein wenig merkt man, wie Grass aus heutiger Sicht gerne gewesen wäre (ohne freilich zu rekapitulieren, was aus diesem Menschen dann geworden ist, der als Zeuge Jehovas »verdächtigt« wurde).
Und wie gerne phantasiert er jene Szene aus dem Gefangenenlager, als er mit einem Geistlichen mit dem Namen Joseph um das weitere Leben knobelte (= würfelte). Nicht müde wird der Egozentriker Grass zu suggerieren, dass es sich um eben jenen Joseph Ratzinger handelt, der viel später Papst wurde.
Dem aufmerksamen Leser wird spürbar, mit welcher Verve Grass nach Ende des Krieges auch in seinen Erinnerungen zukunftsorientiert ist; die Schuldbekenntnisse verstummen und weichen sukzessive beispielsweise den leicht schlüpfrig-erotischen Erlebnissen des 18- 19jährigen. Rasch beginnt auch bei ihm das, was man bei so vielen bemerkt haben dürfte: Die Flucht vor der Vergangenheit. Hunger, Kälte und das tägliche Überleben mögen ein Übriges dazu getan haben. Aber wer beispielsweise vor einigen Jahren Martin Walser in seinem Buch »Ein springender Brunnen« vorgeworfen hatte, die Hauptfigur des Kindes Johann habe nicht politisch korrekt und pflichtgemäss die Shoah in seinen Erinnerungen thematisiert (obwohl sie vielleicht tatsächlich damals keine Rolle in der Erlebenswelt des Erzählers gespielt haben mag) – der wird auch bei Grass Grund zur Kritik finden; freilich, die Entrüstung hierüber hielt sich in Grenzen. Während man jedoch bei Walser auf die Kindlichkeit der Figur rekurrieren und dies als »Entschuldigung« geltend machen kann, so ist bei Grass’ Zwiebel‑, Bernstein- und Granatsplitter-Prosa schwieriger reden. Immerhin: Grass gibt zu, den Filmen und Fotos von ermordeten Konzentrationslageropfern lange Zeit skeptisch gegenüber gestanden zu haben. Ah ja.
Die politische Nachkriegsprägung wird nur angedeutet. Zur Zeit, als Grass im Kalibergbau schuftete, bemerkte er unter den Kumpels drei fast gleich starke politische Lager: Kommunisten; übrig gebliebene, mit den Nationalsozialisten immer noch liebäugelnde und Sozialdemokraten. Eine Schlüsselszene, die auch eindringlich gerät, ist, wenn er feststellt, dass sich – bei aller Unterschiedlichkeit – in bestimmten Situationen Anhänger von Nazis und Kommunisten vorübergehend gegen die Sozialdemokraten verbündeten. Diese sicherlich ein bisschen einfache Beobachtung, wird von Grass als prägend empfunden (nebenbei glaubt er damit, den Untergang der Weimarer Republik zusammenfassen zu können). Wie in den Jahren darauf die wertkonservativen Kräfte dann von der CDU gebündelt werden konnten, behandelt er übrigens nicht.
Interessant, wenn er über sein Denken Anfang der 50er Jahre erzählt – und gleichzeitig viel auch noch über den heutigen Grass aussagt:
Während nächtlicher Gespräche, bei denen viel Tee getrunken und geraucht wurde, sind zugleich all jene Phrasen inhaliert worden, die der Existentialismus im Angebot hatte. Schon wieder ging es ums Ganze, doch, wie wir glaubten, auf höherem Niveau. Und wenn wir aneinandergerieten, entzündeten sich die Widersprüche nicht an den Verbrechen des zurückliegenden Krieges und noch weniger am Parteiengezänk der Gegenwart, vielmehr planschten wir im begrifflichen Ungefähr.
Vielleicht wäre dem nächtlichen Wörterverschleiß ein vager Antifaschismus und gegenstandsloser Philosemitismus abzuhören gewesen. Im Nachholverfahren hatte versäumter Widerstand nun auftrumpfenden Mut und jenes Heldentum zur Folge, das sich nicht beweisen mußte. Und auch ich werde wohl einer jener tapferen Maulfechter gewesen sein, deren Phrasen das Gedächtnis, dieser Müllschlucker, dankenswerterweise nicht gespeichert hat.
Nur wenige helle Stellen am Ende des Buches. Die »Befreiung« der Schwester aus dem Kloster; der Tod der Mutter. Und Grass’ Werdegang bei der Gruppe 47; sein Seitenhieb auf alle Päpste; die Selbststilisierung als Einzelgänger (er spricht – leicht übertrieben – von der Randständigkeit seines künstlerischen Werkes; gemeint wohl vor allem ist das zeichnerische). Stattdessen viel amouröses; eine ausführliche Erzählung einer Italienreise; die erste Heirat; Kinder.
Na und? sagt da der soviel jüngere Leser. Wo bleibt das Epische? Eine kleine Episode – als Grass mit zwei anderen Freunden Anfang der 50er Jahre im Düsseldorfer Altstadtlokal »Csikós« musizierte (ein Nepplokal mit pseudoungarischem Flair und neureichem Publikum und unversöhnlich betont Grass mehrfach, wie schlecht bezahlt diese Auftritte waren – aber muss man den Namen des Lokals deshalb im Buch falsch schreiben?) und irgendwann stösst für einen kleinen Auftritt von fünf oder sieben Minuten (wann dauert Glück länger?) ein Mann namens Louis Armstrong dazu (der auf einer Tournee weilte und zufällig Gast im Lokal war) und macht aus dem Trio ein Quartett. Und dann etwas, was wir im ganzen Buch nur hier finden: den Menschen Grass, einen Augenblick ungefiltert und ungepanzert.
...mir ist dieser Auftritt, von dem kein Blitzlichtfoto Zeugnis gibt, noch immer im Ohr und vor Augen. Als Ehrung unserer unterhaltsamen Bemühungen will sie gewichtiger sein als alle mir später verliehenen Preise, sogar als der höchstdotierte, dessen Verleihung mir in biblischem Alter zu ironisch distanzierter Freude verhalf...
Da macht es wohl auch nichts, wenn sich herausstellt, dass diese Geschichte so nicht stimmt und der Phantasie des Zwiebelschälers entspringt.
Aber viele Referenzen und Rekurse auf sein Oeuvre gibt es. Der Werkkenner (und mit ihm auch der Germanist) bekommt etliches Neues mitgeteilt – worauf sich dieser oder jene Name stützt; wer oder was als Vorlage für dieses oder jenes Erlebnis dient, usw. Manchmal scheint Grass auch ein bisschen vergesslich, etwa wenn er meint, dass er in Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus den Egokult der Kinderlosen auf- und angreift – in Wirklichkeit ist dieses Buch doch durchsetzt von der hysterisch verdichteten (!) Furcht, Franz-Josef Strauß könne 1980 Bundeskanzler werden und in Erwartung dessen lege man sich doch vielleicht erst einmal kein Kind zu. Grass war doch in Wirklichkeit ein Verfechter dieses Weltuntergangsszenarios und zähneknirschender Unterstützer des von ihm nicht sonders geliebten Helmut Schmidt. Und wenn er dann Seitenhiebe auf die von ihm (angeblich) seit jeher ambivalent betrachteten Pädagogen verteilt, so wirkt das auch reichlich wie ein »Nachtreten« aus dann irgendwann unerhörter Liebe.
Ich gestehe, dass dieses Buch in seiner Eindimensionalität nicht besonders beeindruckend war. Unterhaltsam war es, ja. Aber Bücher wie Hermann Lenz’ »Neue Zeit«, die Dieter Forte-Tetralogie (besonders »In der Erinnerung«), Joseph W. Jankers »Zwischen zwei Feuern«, ja auch das betuliche »Billard um halbzehn« von Heinrich Böll, nicht zu vergessen die »Trilogie des Scheiterns« von Wolfgang Koeppen oder die berühmten Bücher von Walter Kempowski, die so kongenial von Eberhard Fechner verfilmt wurden und auch seine in den 90er Jahren herausgebrachte Textsammlung »Echolot« – all diese Werke, die – das muss gesagt werden – unterschiedliche Intentionen verfolgen und naturgemäss anders erzählt sind, haben dem Leser mehr Aufschlüsse gegeben, haben mehr aufgerüttelt und haben den Hunger mehr gestillt als Grass’ egozentrisch aufgeladene Plauderei.
»Da macht es wohl auch nichts, wenn sich herausstellt, dass diese Geschichte so nicht stimmt und der Phantasie des Zwiebelschälers entspringt.« Zitat Ende.
Ich greife diesen Satz mit dem Verweis auf die Fantasie des Zwiebelschälers heraus, da er mich zugleich an ein Erlebnis am gestrigen Tag erinnert. In der Psychologie gibt es die Aussage, Erinnerungen seien kein Abbild der Wirklichkeit, sondern eine subjektive Verzerrung zu Gunsten eines verankerten Wunschbildes. Ich kann mir vorstellen, dass Grass es sich im Geheimen gewünscht hätte, mit Armstrong aufzutreten und dies ihm jene innerseelische Bedeutsamkeit zu geben glaubte, die er sich ersehnt hatte.
Es mag da mit der Fanstasie von Grass ähnlich oder gleich gelagert sein, wie es sich gestern mit meinem Mann und mir zugetragen hatte. Ich hatte eine Packung Butter aus dem Kühlschrank geholt, um sie in den nächsten Stunden auf Zimmertemperatur erwärmen zu lassen, da ich etwas zu zubereiten gedachte, bei der ich flaumig gerührte Butter brauchte. Auf Anfrage meines Mannes, antwortete ich »ich werde etwas machen.« Später behauptete mein Mann, ich hätte vorgehabt und gesagt, etwas zu backen, was dem aber nicht war. Er hatte anstatt dem Wort »machen« in seiner Erinnerung »backen« gespeichert gehabt. Hier hat sein Wunschbild (Kuchen) die Wirklichkeit in der Erinnerung umgefärbt zu dem, was er sich erträumt hatte: backen. Dass ich in dem Zusammenhang von »erträumt« schreibe, erlaube ich mir, da ich von seiner Vorliebe nach süß Gebackenem weiß.
Mich erinnert ihr Satz auch ein Interview mit einem Überlebenden eines Konzentrationslagers. Das Interview, das im Rahmen eines Studienaufenthalts per Video aufgenommen wurde und mir als Zeitzeigengespräch als solches vorliegt, macht deutlich, dass Vorgehenweisen des Arztes (dem der überlebende Erzähler assissitiert hatte) in milderenden Worten geschildert werden, als die Wirklichkeit gewesen war (dukomentiert).
Auch hier erfüllt Verzerrung in der Erinnerung die Funktion, das Geschehen in Richtung Wunschbild zu verändern. Das heißt konkret, Mensch bildet in der Speicherung von Erinnerung nicht zwangsläufig die allgemeine Wirklichkeit ab, sondern eine subjektiv gefärbte.
Das ist natürlich richtig: Erinnerungen sind oftmals (oder immer?) subjektiv.
Im Buch erscheint die zitierte Stelle als eine Art Epiphanie. Grass kommentiert es selber so. Und dann stellt sich heraus, dass es gar nicht so gewesen ist. Und das, obwohl Grass an vielen anderen Stellen, wo er sich seiner Erinnerung nicht mehr sicher ist, diese weißnichtmehr...-Floskeln verwendet. Hierdurch erhalten die anderen Stellen per se eine Authentizität, die offensichtlich so nicht stimmt. Grass hätte gerade das beschriebene Erlebnis leicht recherchieren bzw. seinen damaligen Musikerfreund heranziehen können. Warum hat er es nicht gemacht?
Nebenbei stellt sich die Frage, inwieweit selbst die Behauptung, ein schriftstellerisches Werk (= Buch) sei autobiografisch, d. h. damit impliziert wird, es sei authentisch, schlichtweg falsch ist und das Buch überfordert. Vielleicht sollte man sich Grass’ Buch nur als Fiktion einer Figur lesen, die mit ich erzählt. Dagegen spricht wieder, dass vieles stimmt.
Ich musste jetzt unweigerlich an den Titel des Buches denken und das konkrete Zwiebel schälen: Da kommen einem die Tränen.
Fazit: Vielleicht sollte ich eher nach einem Buch greifen, das sich mit dem Schälen von Knoblauch betitelt.
ich bin leider jetzt erst auf diesen text gestoßen. ich beschäftige mich im moment ausführlich gerade mit diesem buch und bin begeistert: eine derart ausführliche und differenzierte kritik dazu habe ich kaum gelesen.
toll!