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Ich persönlich glaube nicht an die Mär von den armen ausgebeuteten Menschen; ich glaube nicht mehr daran. Im 19. Jahrhundert und bis weit ins zwanzigste hinein mag das zugetroffen haben; wahrscheinlich trifft es in den (vor allem südlichen) Weltgegenden zu, die deren Bewohner scharenweise verlassen, um in unseren Schlaraffenländern die anachronistische Rolle des Ausgebeuteten zu spielen (wir brauchen also doch noch welche). Hier bei uns, im Westen wie im verwestlichten Osten, sind die Menschen nun einmal zu dem geworden, was sie sind. Sie hatten und haben ihr Schicksal selbst in der Hand, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Diese Freiheit ist heute Wirklichkeit. Jeder Einzelne hätte auch ein anderer werden können. Es besteht nicht mehr der geringste Grund, Bevölkerungsschichten, ehedem »Klassen«, zu idealisieren und heroisieren, da sie als umreißbare soziale Gruppen im Aussterben begriffen sind. Auch wenn die ökonomischen Ungleichheiten größer werden, tendieren die meisten sozialen Elemente zur Mitte, und diese Mitte ist sehr breit geworden, auch wenn sich viele ihrer Mitglieder ökonomisch bedroht fühlen und in bestimmten Momenten – Finanzkrise 2008 – tatsächlich bedroht sind. Diese Mitte ist für die in der Dritten Welt Dahinvegetierenden das Schlaraffenland. »Die Welt zerfällt. Die Mitte hält nicht mehr«, sagt der afroamerikanische Historiker Cornel West mit Bezug auf autoritäre Politik und schrankenloses Profitstreben. Dies ist eine Prophezeiung, ein Kassandraruf. Tatsächlich wird sie wohl noch ein paar Jahre oder Jahrzehnte halten, aber es könnte schon sein, daß innere Widersprüche und seine Schrankenlosigkeit das neoliberale System zur Implosion oder Explosion (oder beidem) bringen werden.1
West erwähnt gern die Helden des afroamerikanischen Freiheitskampfes, aber man hat den Eindruck, das alles sei definitiv Geschichte: Martin Luther King, John Lewis und so weiter. Didier Eribon beschreibt in Rückkehr nach Reims die Beschränktheit, den Rassismus, die Intoleranz, die in französischen Arbeitermilieus nach dem Ende der Arbeit herrscht, also unter Leuten, die sich als Zukurzgekommene sehen. Er hält trotzdem an den überkommenen soziologischen Kategorien fest. Sein Schützling Édouard Louis, dessen Schilderungen an Härte ebenfalls nichts zu wünschen lassen, ist da etwas freier. Auch dann, wenn Sympathie mit den Opfern der Modernisierung aufkommt, weint er dem Verschwinden der Arbeiterklasse keine Träne nach. Donald Trump, der dieser Klasse bekanntlich keineswegs angehört, ist oder gibt sich in dieser Hinsicht viel nostalgischer, also rückschrittlicher. Er verspricht den wirklich oder vermeintlich Zukurzgekommenen, was ihnen niemand geben kann. Aus wahltaktischem Kalkül vermutlich. Und weil er eine Ideologie verkörpert, die einen Schein aufrechterhält, dem, wie die Ideologen genau wissen, keine Wirklichkeit mehr entspricht. An der Beseitigung dieser Wirklichkeit haben sie selbst mitgewirkt.
Es wird schwierig sein, noch einmal ein »revolutionäres Subjekt« als archimedischen Punkt der Systemkritik ausfindig zu machen. Auch das ein Grund, sich als bluesman zu fühlen. Die Menschenwelt hat sich in der breiten Mittelklasse atomisiert, ihre Angehörigen haben sich mit Smartphones personalisiert, und das ist nicht nur schlecht. Wenn der neoliberale Staat sagt, ihr seid selbst für euer Schicksal verantwortlich, jeder Einzelne von euch, dann liegt darin auch eine Chance. Man kann dem Staat, der sich ohnehin, wie er vorgibt, schlank zu machen bestrebt ist, die kalte Schulter zeigen. Und sich – trotz allem, jetzt erst recht – mit anderen zusammentun, ohne präexistente Zuordnungen und Strukturen. Widerstand verläuft nicht mehr in »objektiv« vorgezeichneten Bahnen, sondern von Fall zu Fall, von Schwarm zu Schwarm, von Gruppe zu Gruppe, oft kurz‑, manchmal auch längerfristig. Nachbarschaftskomitees, Stadtteilversammlungen, Elternverbände von Schulen und Kindergärten, Kulturklubs, Selbsthilfegruppen aller Art. Begeisterte Umweltschützer. Fanatische Tierfreunde. Politik als Hobby und nicht, um Geld zu verdienen. Ehrenamtliche Arbeit. Arbeit als Ehre, als Spiel und als Selbstverwirklichung. Das alles erfordert Zeit. Otium, Muße. Kollektive, die mehr oder minder spontan entstehen, transversal, quer durch den Gemüsegarten, in alle Richtungen über den Erdball via Internet. Kollektive, die sich nicht scheuen, sich aufzulösen, wenn die Zeit dazu gekommen ist, oder die einfach vergessen werden. Keine Sesselkleber. Keine Bildschirmsauger. Keine couch potatoes. Sondern bewegliche Einzelne und das Ganze, »die Gesellschaft«, als Kaleidoskop. Dazu braucht man Zeit, und die könnten wir in Fülle haben, aber wir wollen sie nicht, uns würde langweilig, wir ziehen Korsette, Pläne, Zwänge vor. Ein Leben im Streß, der wächst und wächst und uns nicht mehr losläßt. Burnout, eine Krankheit dieser Zeit. Wir verfeuern unsere Energien, lassen sie verpuffen. Dabei könnten wir… Wenn wir nur wollten.
»Wir«, immer noch ein Kollektiv. Wahrscheinlich rede ich in den Wind. Ein Bauchredner, dem niemand zuhört. Eine Erzählmaschine, die man in historischen Zeiten am Ufer eines großen Flusses – oder war’s schon das Meer? – vergessen hat. Ihre metallische Stimme vermischt sich mit der des Windes. Endloses Tonband. Krapp’s last tape. Im buchstäblichen Sinn: ein im All wehendes Band von Tönen.
»Da kann man nichts machen…«
Oh doch, man kann etwas machen. Man kann sich abseilen, kann immer noch andere Welten begründen. Oder Schulen für andere Welten. Die sogenannte Grundsicherung vorausgesetzt. Als Basis der Freiheit. Im Grundgesetz sollte geschrieben stehen: »Kein Mensch muß sich um die Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse sorgen.« Jeder hat ein Anrecht auf ihre Befriedigung. Und noch etwas: »Jeder hat die Pflicht, von seiner Freiheit seinen Wünschen und Fähigkeiten gemäß Gebrauch zu machen.« Die Gesellschaft – das heißt vor allem: ihre Erzieher – hat die Pflicht, die Entdeckung und Entfaltung der individuellen Fähigkeiten, Wünsche und Interessen zu fördern.
Am wichtigsten: Die angeborene Neugier darf unter keinen Umständen gebremst werden! Auch ein Satz für die Verfassung.
© Leopold Federmair
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Literatur:
- Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main 1997 (= Gesammelte Schriften, Bd. 4)
– Engels, Friedrich und Karl Marx: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx/Engels: Werke, Bd. 4. 11. Aufl., Berlin 1990
– Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. Berlin 2016
– Forrester, Viviane: L’horreur économique. Paris 1996 (dt. Der Terror der Ökonomie. Wien 1997)
– Hagelüken, Alexander: Maschinen schaffen mehr Jobs als sie vernichten, in: Süddeutsche Zeitung, 9. 1. 2019
– Han, Byung-Chul: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen. Berlin 2013
– Houellebecq, Michel: Extension du domaine de la lutte. Paris 1994 (dt. Ausweitung der Kampfzone. Berlin 1999)
– Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart 1982
– Louis, Édouard: Qui a tué mon père? Paris 2018
– Luyendijk, Joris: Unter Bankern. Eine Spezies wird besichtigt. Stuttgart 2015
– Marx, Karl: Das Kapital. 3 Bände. 34. Aufl., Berlin 2012
– Parkinson, C. Northcote: Parkinson’s law, and other studies in administration, https://web.archive.org/web/20140702141306/http://bookmobile.american-buddha.com/viewtopic.php?f=18&t=87
– Piketty, Thomas: Chroniques 2004–2012. Arles 2012
– Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München 2014
– Steiner, George: »Yo intento fracasar mejor«. Interview, geführt von Juan Cruz, in: El País, 24. 8. 2008
– Strauß, Botho: Anschwellender Bocksgesang, in: Der Spiegel 6 (1993)
– Weizenbaum, Joseph: Computermacht und Gesellschaft. Freie Reden. Hrsg. von Gunna Wendt und Franz Klug. Frankfurt am Main 2001
– West, Cornel: »Wir haben die Wahl zwischen einem neofaschistischen Gangster und einem neoliberalen Desaster«. Interview, geführt von Daniel Ryser, in: Republik, 22. 8. 2020, https://www.republik.ch/2020/08/22/wir-haben-die-wahl-zwischen-einem-neofaschistischen-gangster-und-einem-neoliberalen-desaster?fbclid=IwAR0YkyF4u70q-_x-PCcGj-Y-MwyUG40uzACUPZ7YsebawqZ3amnN1_dqyWo
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Auch Cornel West läßt sich von rhetorischer Dynamik und ideologischen Vorgaben leiten und kümmert sich wenig um Fakten. So behauptet er, 40 Prozent der Bevölkerung der USA würden in Armut oder nahe an der Schwelle dazu leben. Die offizielle Statistik gibt als Zahl 11,8 Prozent an; dazu die Erläuterung, daß die Armut in den letzten Jahren kontinuierlich geringer geworden sei. Es ist übrigens aufschlußreich zu lesen, wie West es beklagt, daß schwarze Freiheitskämpfer, sobald sie in die Politik gingen, in den Sog des Neoliberalismus gerieten und ihre früheren Positionen aufgaben. Gibt es wirklich keine Alternative? Womöglich nicht. Cornel West outet sich als Mann des Blues: "Mit all diesem Schrecken trotzdem irgendwie klarzukommen, bedeutet, ein Mann oder eine Frau des Blues zu sein. Es bedeutet, Kummer zu akzeptieren, aber niemals dem Kummer und damit den Katastrophen das Feld zu überlassen." ↩
The Center Won’t Hold – Der Verlust der Mitte (Hans Sedelmayr)
https://www.youtube.com/watch?v=_xfPoLEJpgY
Sleater Kinney – »pretty, ugly, holy« – The Center Cannot Hold
(Die Graphik des Videos is traumwandlerisch sicher auf den Spruen der klassischen Moderne – von Franz Masereel über Paul Klee bis Franz Radziwil, Max Bill usw.. Der Text läuft in den Spuren der Wiedertäufer, Fausts, de Sades, Rousseaus, Leon Bloys, Rimbauds, Baudelaire’s ... – - – ).
W. Butler Yeats
“The Second Coming”
Turning and turning in the widening gyre
the falcon cannot hear the falconer;
things fall apart; the centre cannot hold;
mere anarchy is loosed upon the world,
the blood-dimmed tide is loosed, and everywhere
the ceremony of innocence is drowned;
The best lack all conviction, while the worst
are full of passionate intensity.
Surely some revelation is at hand;
surely the Second Coming is at hand.
The Second Coming! Hardly are those words out
when a vast image out of Spiritus Mundi
troubles my sight: a waste of desert sand;
a shape with lion body and the head of a man,
a gaze blank and pitiless as the sun,
is moving its slow thighs, while all about it
wind shadows of the indignant desert birds.
The darkness drops again but now I know
that twenty centuries of stony sleep
were vexed to nightmare by a rocking cradle,
and what rough beast, its hour come round at last,
slouches towards Bethlehem to be born?”
Die Idee, dass nicht zuletzt Künstler der staatlichen Fürsorge (einer Grundsicherung über die bestehenden Gratifikationen hínaus) bedürfen, fördert das anpasslerische und deshalb unfreie und langweilige Kunstgewerbe. Es ist keine Nähe zum Staat
anzustreben vom Künstler. Frei ist, wer für seine Unabhängigkeit selber sorgt.
Howgh!
Unfreie Künstler sind Bödigkeitsverfassser
So plausibel wie trockenes Wasser,
Wie riesige Zwerge und flache Berge.
Politisch korrekt, übersensibel und – hochpenibel
Essgestörte Schneeflöckchen
Als Kotzbröckchen
Keine Nähe zum Staat, gut. In Deutschland, Österreich, Schweiz verlangt der Staat (Kultusministerien etc.) für Förderungen allerdings eh keine ideologische Nähe des Geförderten.
Davon abgesehen: Heutzutage, im 21. Jh.: Was soll ein Künstler, der frei sein will, tun, um sein wirtschaftliches Auskommen zu finden? Ich sehe drei Möglichkeiten. Entweder, er macht marktorientierte Kunst oder hat zufällig Erfolg. Oder er wird Stipendiatenprosaschreiber, Stipendiatendichter oder ‑künstler. Dabei entsteht erfahrungsgemäß meistens ziemlich fades Zeug. Oder er geht einem Brotberuf nach, mit der entsprechenden Reduktion der für die Kunst zur Verfügung stehenden Zeit und oft auch Energie.
Der Brotberuf kann kunstnahe sein, z. B. Rezensionen schreiben, kuratieren etc. In allen Fällen sehe ich keine uneingeschränkte Freiheit. Muß auch nicht sein, es entstehen trotzdem immer noch Kunstwerke, die diesen Namen verdienen.
Ich habe sowohl 2 als auch 3 längere Zeit betrieben. Als »freier Schriftsteller und Übersetzer« fühlte ich mich unfreier, sogar gestresster als jetzt. Nr. 1, Erfolg, bringt vermutlich auch wieder Unfreiheit.
Es endet im Blues, nicht überraschend. Selbst die Philosophen, betont Deleuze, rufen ein Volk der Zukunft herbei. Rätselhaft vertraut, diese Wechselbäder der Unzusammengehörigkeit. Vielleicht hat der Westen seine Formel ja doch nicht bis zu Ende durchgerechnet. Der Sprung zur Menschheit sollte sich als zu vage erweisen.
Ich rätsele noch darüber, wie ich die zwei Motive des »fehlendes Volkes« und die Unterhaltszusicherung des Staates zusammenkriege. Nahrung, Gesundheit, Innere Sicherheit...
Vielleicht ist Ihr Entwurf (@Leopold) eines Kollektiv, ausgerichtet an den Grundbedürfnissen, nur anthropologisch folgerichtig. Ich setze die »Innere Sicherheit« einfach mal auf die Liste, weil ich vermute, Ihr Revolutions-Begriff ist nicht unbedingt martialisch zu verstehen. Das sehen wenigstens die Extremisten anders, aber Schwamm drüber. Nehmen wir an, wir hätten dieses Kollektiv gegen alle Widerstände (der Wirklichkeit) ins Leben gerufen.
Wäre das dann ein »Land« oder ein »Volk«?!
Der kleine Unterschied impliziert ganz offensichtlich die Definition des Staates. Auch auf dieser banalen Ebene erscheinen Aspekte des Besitzes und Aspekte der Anwesenheit, die nicht unbedingt vereinbar sind. Wie sagt man neuerdings: ...die schon länger hier Wohnenden... Das ist ein Seins-Begriff, die Wohnenden, denn es ist ganz egal, ob Ihnen das Haus gehört, oder Sie Miete zahlen. Hier kann ich die große Staatsratsvorsitzende endlich mal beim Wort nehmen. Kein Staat kann ohne falsches Pathos behaupten, er wäre die Domäne der ganzen Menschheit.
Interessant, nicht?! Egal, ob Land oder Volk, es ist mit Sicherheit nicht die Menschheit. Irgendwie aber doch...
Ich habe neulich einen (jungen, beginnenden) Schriftsteller kennengelernt, der irgendein Stipendium – im weiteresten Sinne so etwas wie eine Stadtschreiberstelle – »gewonnen« hatte. Es hakt nun etwas mit dem Resultat. Und man machte bei dieser Gelegenheit klar, dass man es natürlich »begrüssen« würde, dass die entsprechende Region positiv dargestellt würde.
Wie »frei« wäre man denn, wenn man von Stipendien, Subventionen und Zuwendungen abhängig wäre? Künstler, Schriftsteller haben bis auf wenige Ausnahmen immer in prekären Verhältnissen gelebt, wurden erst kurz vor oder nach dem Tod berühmt.
@ Leopold Federmair & Gregor Keuschnig
Corruptio optimi pessima.
Don’t it always seem to go – You don’t know what you’ve got till it’s gone
(Joni Mitchell, of course – Big Yellow Taxi)
Es ist mir vor ein paar Jahren das erste Mal aufgefallen, wie selbstverständlich die Theaterleute sich staatsnah gebärdet haben. – Je leerer die Theater werden, desto mehr. Das ist der Punkt, den Sophie mit Blick auf Susanne Dagen und deren Verweis auf den wirtschaftlich erfolgreichen Antaios Verlag aufgegriffen hat: Selbständigkeit vs. institutioneller/ mentaler/ finazieller Abhängigkeit. Das wird ja nicht nur in rechten Kreisen in Deutschland merkwürdigerweise neuerdings hochgehalten, das sagt auch ein Mann wie der Gelbwesten-Deuter Christophe Michéa, immerhin ein ehemaliger Maoist, der nun in die atlantische Provinz gezigen ist. Ein Vorteil dieser Einstellung ist, dass Erfahrungen mit ihr einher gehen. Nicht zuletzt die der Selbstwirksamkeit. aber auch die Wünsche anderer treten hier klarer hervor. Das ist bei denen, die im ÖR oder in der subventionierten Kultur arbeiten anders. Hier zählt das eigene Wünschen mehr als die Realität.
Fellt mir noch der Drucker, Autor und Verleger Beat Brechbühl ein, ein schweizerischer Gewerbler, wie er im Buche steht. Und der aus den nämlichen Gründen die traditionelle Linke nicht sehr schätzt – er mag Leute nicht, die an der Steuer- und Verordnungsdschraube drehen und anderen Maulkörbe umhängen wollen. Er mag Leute, die gerne selber etwas tun – und etwas können, für das es einen Markt gibt.
Frei sein, unabhängig sein, was ist das denn?
Wenn ich nicht esse, trinke, schlafe, mich bilde, mich also ganz allgemein erhalte, regeneriere und Sinnfragen formuliere und vielleicht gar kläre, dann werde ich nicht tätig sein, für andere da sein, sorgen können.
Ich schlüpfe aus dem Mutterleib und trinke Muttermilch, die ist einfach da. Ich brauche Liebe und werde geliebt. Wo ich mich als geliebt erfahre, vermag ich meinerseits zu lieben.
Wenn diese meine Existenz in Frage steht, dann werde ich resignieren und verelenden, oder Techniken entwickeln und dafür streiten, zu überleben, meinen Platz zu behaupten.
Lebenskonzept Verdrängung. Lebenskonzept Kooperation. Menschen können das Lebenskonzept Kooperation präferieren, wenn sie wollen.
Kunst entsteht, weil es sein muss. Ich kann nichts besser, als musikalisch künstlerisch zu agieren. Aber ich muss es mir freilich leisten können. Leisten kann ich es mir dann, wenn es Menschen um mich gibt, die sagen, wir wollen, dass du machst, was du machst. Glücklicherweise gibt es diese Menschen um mich. Drum kann ich tun, was ich tue.
Drum kann ich hier in einer kleinen Stadt, in der die „Hochkultur“ nicht zuhause ist, im kleinen Stadttheater vor Ort, einen Peter-Handke-Abend veranstalten und gestalten und den Menschen hier zeigen, dass der aus der Zeitung vermeintlich bekannte und verunglimpfte „Serbenfreund“ und Spinner ein augenöffnender, staunenmachender, Weltvertrauen stiftender Schriftsteller ist. Drum gibt’s hier Abende mit Liedern von Franz Schubert, Robert Schumann, Claude Debussy, Kurt Weill, Anton Ruppert, die man selbst in den Zentren der Kultur, in München, Berlin, Wien manchmal suchen muss, denn schon da „leistet“ man sich derlei eher selten und bedarf der zugkräftigsten Namen, damit sich’s rentiert.
Ich mache das hier, weil ich das machen möchte. Ich schreibe dafür keine Exposés, bewerbe mich nicht um Stiftungsgelder, Stipendien, Sparkassenunterstützung. Die Zeit, die ich dafür aufbringen müsste (ohne Gewähr, dass ich schließlich zum Zuge käme), stecke ich lieber ins Inhaltliche, verwende sie zum Üben und Proben und Bedenken. Selbstverständlich rechnet sich das alles nicht. Rechnen würden sich andere Dinge, die ich zum Teil sogar tun könnte (und auch schon getan habe), wenn ich das wollte. Aber ich mag nicht (mehr). Ich mag mich nicht vor irgendeinen Kommerzkarren spannen lassen und Rendite erwirtschaften. Ich mag keine Luxus-Events in ländlicher Idylle. Meine Konzerte, Lesungen, Theaterabende, finden statt wegen der Sachen selbst und sind umsonst und sie kommen zur Aufführung, weil ich die Erfahrung mache, dass sich die Menschen, auch die sogenannt einfachen, weit mehr interessieren, sogar (ja gerade) für das nicht bloß Unterhaltende, Angenehme, Bekannte. Nur ernst muss man sie nehmen, die Menschen, die »einfachen«, vor die man tritt.
Mein Talent reichte nicht aus, um in den Zentren der Kultur zu bestehen. Denn auch da setzt sich der Schnellere, Geschicktere, Auffälligere, Begabtere durch. Und ich sage das mit der größten Hochachtung vor den geschätzen, manchmal verehrten Kolleginnen und Kollegen dort. Aber deswegen bin ich nicht ohne Qualitäten, ohne (hoffentlich schönen) Eigensinn. Und der vermag sich hier zu entfalten und sorgt mit für einen Zuwachs an Bildung, an kultureller Erfahrung, an Sinnhaftigkeit.
Klingt ja alles wunderbar, paradiesisch. Heile Welt, ha, ha, ha …
Wie aber ist Dir’s möglich?
Bescheidene Geldeingänge gibt es. Ich unterrichte ein bisschen. Da und dort bin auch mal Teil einer traditionellen, subventionierten Theaterarbeit, „verdiene“ bei einem Konzert.
Aber vor allem kann ich mir all dies leisten, weil es in meinem privaten Umfeld Menschen gibt, die sagen: das, was ich für meine Arbeit an Geld überwiesen bekomme, das reicht auch, wenn ich Dich daran teilhaben lasse. Darum kann ich Miete zahlen und mich mit Lebensmitteln (Essen, Trinken, Kleidung, Bücher) versorgen. Diese Mittel werden mir gewährt ohne die Bedingung einer Gegenleistung. Ich könnte mich auch einfach ins Bett legen.
Welch blöde Idee, sich nicht mehr zu mühen (auch das muss ein Künstler, ja, ja) für ein Lied, einen Text. Welch menschenverachtende Behauptung, dass das Menschen tun würden, nur noch herumliegen und glotzen und saufen, sobald keine finanzielle Notwendigkeit mehr besteht, „für sich selbst zu sorgen“ (schon diese Aussage ist Unfug in unserer Zeit).
Nachhaltigkeit entsteht für mich überhaupt nur da, wo der Mensch endlich damit aufhört Müll zu produzieren, Dinge, die nicht wieder in Kreisläufe eingehen können, seien es biologische, oder technische, Dinge, die keiner wirklich braucht, Dinge, die Mensch und Umwelt schaden, sie zerstören. Nichts ist unendlich teilbar und die Ressourcen sind selbstverständlich knapp.
„Man muss durch die Natur zum Louvre kommen und durch den Louvre zur Natur zurück.“ Paul Cézanne
Es tut mir leid, dass ich (noch?) nicht über‘s Poesiealbum hinauskomme. Ich werde mir Zeit nehmen, @Sophies Kommentar, den wohlklingenden, dichten, enigmatischen, zu bedenken.
@ Sophie #3
Land, nicht Volk. Und wenn Volk, dann vielleicht lieber Völkchen. Mit Genitivverbindung erinnert uns Handkeaner das unweigerlich an sein »Volk der Leser«. Diese Kombinationen sind dann auch variabel, man hat die Zugehörigkeit nicht ein für alle Mal, nicht von Geburt an und bis zum Tod, sondern muß sie sich erwerben.
Aber nüchtern betrachtet, abseits vom Poesiealbum, kann es nur um Land, Territorium und, wenns sein muß, Staat gehen.
@ Leopold, vorhin gerade:
Konstruieren wir uns doch mehr solcher Völkchen. Das der rührigen Skeptiker zum Beispiel.
@ Florian
viele
Lebenskonzept Kooperation, ja. Ich bin überzeugt, daß die Verdrängung dieses Lebenskonzepts, seine Ersetzung durch ein Streitkonzept, mit der Durchsetzung des Neoliberalismus und seiner ökonomistischen profitorientierten Ethik zu tun hat. Diese Antiethik hat sozialdarwinistische Züge (hier könnten wir wieder mal Definitionsfragen wälzen). Sie wurde mehr und mehr auch in höchsten Weltmachtkreisen vertreten. Kein Wunder, daß sie viele einfache und auch komplizierte Menschen teilen. Demgegenüber kann und sollte man auf einer echten Ethik bestehen, die kooperativ und/oder ästhetisch ausgerichtet ist (wieder das alte Entweder-Oder!). Daß sich das konkrete Verhalten in so einem Konzept oft nicht »rechnet« – geschenkt.
Nach meinen Beobachtungen versumpfen trotz allem viele Menschen, wenn sie keinen von außen vorgegebenen Lebensrahmen haben. Ohne äußeren Zwang lassen sich gehen und dieses Sich-Gehen-Lassen wird von der Kulturindustrie (im weitesten Sinne) profitorientiert ausgenutzt. Man könnte und sollte mit diesen Menschen aber auch anders umgehen. Zumindest könnte und sollte man das versuchen.
@ #9
das viele ist zuviel
@Leopold. Da bin ich ganz und gar einverstanden. Die Skepsis kann tatsächlich mit dem Optimismus vermählt werden; sie hat nur einen schlechten Ruf. Zum Nihilismus oder einer maskenhaften Arroganz ist es ja nur ein kleiner Schritt.
Es kommt mir so vor, als ob wir mit diesen »Beschlüssen« einen alten Weg erneut antreten. Es mag sich für jede Generation dieselbe Aufgabe stellen; dennoch wird man die ganze Angelegenheit einmal komplett durchbuchstabieren müssen, weil sich die Lebensumstände nun mal rapide ändern. Neues Wissen, neue Gefahren, etc.
Ich sehe ebenfalls die Territorialität als das bleibende Charakteristikum. Wenn man artifizielle Begriffe mag, könnte man es gleichbedeutend einen Kultur-Zeitraum nennen.