(← 6/11)
Unter der Hand habe ich begonnen, Eigenschaften zu berühren, die mich an Forresters Essay stören. Muß das sein? Daß ich keine Rezensionen mehr schreibe1, sollte mich eigentlich von dem (Selbst-)Zwang erlösen, an Texten herumzumäkeln, die ich im großen und ganzen ziemlich gut finde. Aber vielleicht habe ich das Kind mit dem Bad ausgeschüttet und es ergeben sich durch derlei »Kritik« ja noch ein paar produktive Gedanken.
Ça m’intrigue, wie der Franzose sagt. Dies und jenes macht mich stutzig. Zunächst mehr die Ausdrucksform als einzelne Aussagen oder Argumentationslinien. Wird überhaupt argumentiert? Nein, meistens nicht. Vielmehr: Die Rede ergießt sich. Muß man argumentieren? Nicht unbedingt. Der Terror der Ökonomie ist ein sehr rhetorisches Buch; Rhetorik verstanden als Neigung, stets den Effekt des Gesagten zu suchen. Inhalte werden nicht im Textverlauf entwickelt, sie stehen vorher fest und werden mit großem sprachlichem Aufwand formuliert, wiederholt, variiert. Das ist der Grund, weshalb Forrester syntaktische Positionen ständig mehrfach besetzt. Eine solche Schreibweise nenne ich »rhetorisch«, oder auch »barock«. Dieses Barocke entfaltet sich in einem seltsamen Widerspruch zur Härte und Direktheit der vorrangigen Aussageintention, die eine – ich würde nicht sagen Kritik, sondern Denunziation des Neoliberalismus anstrebt. Diese Denunziation wird in zahllosen Anläufen verfolgt: Das Buch belagert mit sprachlichen Mitteln eine Festung, die in der Wirklichkeit, also mit politischen Mitteln, unüberwindlich scheint.
So werden zum Beispiel an einer Satzstelle drei Nomen gereiht (Kybernetik, Automatisierung, revolutionäre Technologien) und, im Prädikat, zwei Verben (sich davonstehlen, sich verschanzen). In derselben Passage wird der Parasit, zu dem die handfeste »Welt der Arbeit« gegenüber der digital-virtuellen Welt geworden ist, durch vier Nomen charakterisiert: 1. durch sein Pathos, 2. durch den Ärger, den dieser Parasit macht, 3. durch seine störenden »Katastrophen« und 4. durch die irrationale Hartnäckigkeit, mit der er auf seiner Existenz besteht, statt einfach zu verschwinden. (Hinter dieser parasitären Arbeitswelt verbirgt sich »der Arbeiter«, aber auch der Arbeitslose und letztlich – der Mensch.) Darauf folgen weitere Sätze, die überhaupt nur noch Nomen reihen, ohne prädikative Verklammerung: Nutzlosigkeit, mangelnde Widerstandskraft, Harmlosigkeit… Und so weiter, ich könnte jede Menge Beispiele bringen. Eine Anzahl von ungefähr gleichbedeutenden Eigenschaften wird wiederholt, um Nachdruck, Empörung, manchmal auch Mitgefühl zu erzielen. In weiterer Folge wiederholen sich dann auch die inhaltlichen Blöcke, die Aussageform wird tautologisch. Das Buch ist wenig strukturiert, nicht in Kapitel unterteilt; was schon zu Beginn vorgebracht wurde, findet man in Variationen auch in der Mitte und am Ende.
Solche Rhetorik gipfelt mitunter in Slogans, die der Sprache der Werbung entstammen könnten, obwohl auch sie im Kampf gegen Ökonomisierung und Kommerzialisierung eingesetzt werden. Die Werbewirtschaft, untrennbar mit der Kulturindustrie verwoben, ist im digitalen Zeitalter noch einmal stärker geworden: Es herrscht ein täglicher Krieg um die Aufmerksamkeit und die Daten der Konsumenten, und an diesem Krieg verdienen sich die sogenannten Internetriesen goldene Nasen, ohne dafür Steuern zu zahlen: Sie sind ja globalisiert, beweglich, nicht lokalisierbar. Verschwiegen und verdeckt wird von der neoliberalen Ideologie, so Forrester, das Elend der Ghettos in den USA, das Menschengewimmel in den Slums von Manila, der Favelas von Rio de Janeiro, der Townships von Johannesburg. Postkoloniale Formeln bestärken das, was Globalisierungskritiker ohnehin wissen; Zweifel, Gedankenexperimente, aber auch Ursachenanalysen haben in Forresters Text keinen Platz. Der Leser muß eines der beiden Lager wählen, pro oder kontra. Alles, was als Unsicherheit ausgelegt werden könnte, wird von der Rhetorik aus dem Diskurs ausgesperrt.
Im Unterschied zu französischen Soziologen wie Didier Eribon oder Édouard Louis, beide durch Pierre Bourdieu geprägt, nennt Forrester keine wirklich lebenden Personen und keine konkreten Fallbeispiele (bei Louis könnte man diskutieren, wo die Fiktion beginnt und die Dokumentation aufhört, die Differenz ist da hauchdünn). Forresters Subjekte und ebenso ihre Gedankenfiguren sind entschieden abstrakt.2
»Die Hungernden« – wer das ist, wie ihre Lebensbedingungen aussehen, wie sie ums Überleben kämpfen, erfahren wir nicht. Besonders häufig beschwört sie »die Jungen« – les jeunes – der Banlieues. Bei aller Rhetorik ist klar, daß Forrester ein gutes Sensorium für bevorstehende Entwicklungen besaß und den Aufruhr in den nördlichen Vorstädten von Paris, die sinnlose Gewalt, den Vandalismus (brennende Autos, aber auch brennende Schulen), die Repression durch die Polizei vorhergesehen hat. Was sie sich Mitte der neunziger Jahre nicht vorstellen konnte, war der islamistische Terror, der ebenfalls in den heruntergekommenen, perspektivlosen Vorstädten seine sozialen Wurzeln hat.
Die angesprochene Abstraktheit zeigt sich in manchen Passagen als Oberflächlichkeit, insofern die Autorin dies und jenes immer wieder nur streift, statt sich gedanklich und nachforschend darauf einzulassen. Man sieht das etwa an Vergleichen, die nicht erhellend wirken, sondern Bildungsgut an den sprichwörtlichen Haaren herbeiziehen. So vergleicht sie etwa die spärlich gewordene Arbeit mit dem Gral, nach dem alle suchen (Forrester bringt ihn seltsamerweise mit den Nibelungen in Verbindung). Nicht viel überzeugender ist der Vergleich mit Flauberts Romanheldin Emma Bovary, die vergeblich nach Liebe sucht. Arbeit als religiöser Kultgegenstand und erotisches Objekt der Begierde… Vermutlich wollte uns Forrester damit sagen, daß Arbeit umso mehr (und umso verzweifelter) geheiligt wird, je weniger davon vorhanden ist. Eine Aussage, die die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts durchaus bestätigen wird.
Auf der einen Seite eine Art Lyrismus, wenn es darum geht, das (abstrakte) Dasein der Opfer, also der Arbeits- und Aussichtslosen, zu beschreiben. So etwa in der (rhetorischen) Abwandlung des Ausdrucks »no man’s land« zu »Gegend der Nicht-Menschen« – gemeint ist die Entmenschlichung durch den Neoliberalismus – und schließlich zu »terrain vagues, ô combien!« (»ach wie heftig schwankender Boden!«, ungefähr so müßte das auf deutsch klingen). Forrester sieht sich bemüßigt zu unterstreichen, daß diese Bewohner des Niemandslandes, sprich: der Banlieues, daß also die banlieusards und zonards, wie sie im Jargon genannt werden, keine Engel sind und daß die dort verbreitete Kriminalität, meist in Zusammenhang mit illegalen Drogen, nicht zu leugnen sei. Doch die Konturen des entmenschlichten Subjekts bleiben so nebulös, daß die kraftvolle rhetorische Dynamik immer wieder in weicheren Lyrismus driftet.
Auf der anderen Seite, denn es handelt sich um einen Kampf, bei dem immer noch und immer wieder das Menschenrecht (oder besser: die Menschenwürde?) erkämpft werden soll – auf der anderen Seite die Ironie, der schwarze Humor, ja, eine gewisse Tendenz zum Zynismus, wenn es darum geht, die zerstörerische, menschenverachtende, letztlich menschenvernichtende Gegenwart des Neoliberalismus zu geißeln: »Künftig haben wir die Wahl zwischen der Entscheidung – à la carte! –, ob wir die Arbeitslosigkeit der extremen Arbeit vorziehen oder die extreme Armut der Arbeitslosigkeit. Dilemma! Nachher dürft ihr euch nicht beklagen, schließlich seid ihr es, die entschieden haben. Aber keine Sorge, ihr bekommt sowieso beides. Schließlich gehört beides zusammen.« Das könnte man einfacher sagen: Die neoliberale Ökonomisierung bringt den Menschen Arbeitslosigkeit und (daher) Armut. Die Rhetorik erscheint hier als Akt des Widerstands, der sich im sprachlichen Surplus äußert. Freilich kann man auch hier wieder fragen: Wer sind sie eigentlich, diese extrem Armen? Sicher nicht Viviane Forrester und die Ihren. Und auch nicht die Drogenhändler jener »Zonen«, die sich eine alternative, wenngleich kriminelle Arbeit gefunden haben und in einer alternativen Kultur (genannt Rap) leben, deren Künstler allesamt nach dem Mainstream der Kulturindustrie schielen, weil auch sie das große Geld machen wollen (und manch ein Rapper hat es ja gemacht).
Forrester stellt sich diese Frage nicht, da sie die konkrete Erfahrungswelt nicht berührt. Sie unterschlägt, daß in all diesen Jahren zwar die Ungleichheit der Einkommen gewachsen ist, aber trotz allem auch die Sozialleistungen gestiegen sind und ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung über ein Vermögen verfügt. Piketty weist darauf hin, daß zwar die Einkommen der abhängig Arbeitenden stagnieren, aber die angehäuften Vermögenswerte so hoch sind wie nie zuvor, und das betrifft nicht nur die Besitztümer der Superreichen. Trotz allem geht es uns, in den westlichen Ländern, besser denn je. Fakt ist nicht die extreme Armut, sondern deren Gespenst, also die Angst vor ihr. Angst vor dem Abstieg und Absturz. Diese Angst läßt viele Angehörige der Mittelklasse rechtsextreme Parteien und Persönlichkeiten wählen. Was aber Forresters Ironie betrifft, so wandelt sie sich zur Entrüstung, die in Feuerwerken von Ausrufe- und Fragesätzen gipfeln. Der Stil, obwohl durchaus gepflegt, paßt zur Empörungs(un)kultur, wie wir sie heute erleben. Man könnte nun einwenden, Stilfragen seien bei einem Buch, das in erster Linie und mit Leidenschaft ein politisches Anliegen verficht, zweitrangig.3 Madame Forrester habe diese Mittel gewählt, um ihre Botschaft an den Mann zu bringen (was ihr hervorragend gelungen ist, das Buch wurde in mehr als dreißig Sprachen übersetzt). Also gut, wenden wir uns den Inhalten zu!
© Leopold Federmair
Leopold Federmair: Kleine Ökonomie der Geschmacksbildung, in: Neue Zürcher Zeitung, 24. 6. 2016; eine längere Fassung hier unter dem Titel "Warum ich keine Literaturkritik mehr schreibe". ↩
Ähnlich verfuhr einst Ernst Jünger in seinen "metaphysischen" Typus-Beschreibungen. Durchgehend atmet man hier (wie dort) die dünne Höhenluft der Abstraktion. "So gibt es keinen Maschinenmenschen; es gibt Maschinen und Menschen – wohl aber besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen der Gleichzeitigkeit neuer Mittel und eines neuen Menschentums. Um diesen Zusammenhang zu erfassen, muß man sich allerdings bemühen, durch die stählernen und menschlichen Masken der Zeit hindurchzusehen, um die Gestalt, die Metaphysik, zu erraten, die sie bewegt." Jünger dixit. In Der Arbeiter versucht Jünger, die Transformation in eine quasi-soldatische Arbeitsgesellschaft nachzuzeichnen. Diese Transformation könnte man auch als Auflösung der Arbeit (im herkömmlichen Sinn) interpretieren. Die Maschinen werden früher oder später unabhängig vom Menschen fungieren, sie brauchen ihn nicht mehr. Interessant die folgende Reflexion aus einem seiner Tagebücher, die geistige, nicht körperliche, Arbeit zum Ausgangspunkt hat. Die Lage des "Einzelwissenschaftlers" habe sich sehr verändert, d. h. "sich der des Arbeiters angeglichen, der hinter der Maschine steht. Der Mensch ist aus dem Werk herausgetreten, das autonom geworden ist, und wird nun immer ersetzbarer und entbehrlicher. Man kann ihn auswechseln wie einen Maschinenteil, und auch die Ergebnisse, zu denen er gelangt, sind außer ihm geboren und instrumentieren den Vorgang mehr, als daß sie in ihn eingriffen. Die Unentbehrlichkeit des Menschen schwindet mit seiner Originalität und damit auch der Respekt vor ihm." Yuval Noah Harari hat seinen Bestseller mit "Homo Deus" betitelt, doch im Schwung seiner Begeisterung über technische, elektronische Fortschritte entpuppt sich eher die Überflüssigkeit des Menschen, zum Beispiel in der Medizin: "The training of a human physician is a complicated and expensive process that lasts years, and in the end, all you geht is one doctor. If you want two doctors, you have to repeat the entire process from scratch. In contrast, if and when you solve the technical problems which are still hampering AI from displacing most doctors, you will get an infinite number of doctors, available 24/7 in every corner of the world.” Harari hatte in diesem Interview zuvor die Abläufe computergestützter medizinischer Diagnosen und Therapien geschildert und sich dabei ausschließlich auf Datenmengen, Vergleich und Korrelationen bezogen. Daß es spezifisch menschliche und durchaus nützliche Fähigkeiten eines Mediziners jenseits des Rechnens, das Computer natürlich besser können, gibt, bleibt dabei außer acht (hin und wieder erinnert sich daran). Korrelationen sind nicht dasselbe wie Zusammenhänge. Aber es stimmt schon, die Revolution des deep learning hat gerade erst begonnen. ↩
Olivier Betourné, der Verleger Forresters (Éditions du Seuil), hebt jedoch anläßlich der Veröffentlichung des Fragments La Promesse du pire kurz nach ihrem Tod die Originalität und Kraft ihres Stils hervor, la puissance du style, sicher zurecht. Es war nicht zuletzt diese Sprachmächtigkeit, auf die es ihr ankam. ↩
Ihre Analyse ist ausgezeichnet. Es ist die klassische Zweifaltigkeit von Inhalt und Stil, wie sie sich außerhalb von Kunst und Wissenschaft abzeichnet. In der Tat hat unser Kulturraum sich immer schon die »rhetorische Dimension« offen gehalten, da Theologie und Politik darin stattfinden.
Unablässig werden Begriffspersonen zum Leben erweckt; wie anonyme Gesichter und Gestalten in einem Dokumentarfilm tauchen sie auf und verschwinden wieder. Attribute werden zu Allegorien (die Armen, die Reichen, die Überflüssigen, etc.), und abstrakte Nomina fordern eine Empfindsamkeit, die den Verstand zu einer Ehegemeinschaft verpflichtet (die Nutzlosigkeit, die Industrie, das Vermögen, etc.). Systematik und Logik werden vernachlässigt, und selbst wenn der Autor sich zur Disziplin zwingt, wirken sie immer wie der willkürliche Rahmen in einem ansonsten unbegrenzten Panorama. Der Essay ist keine Kunst jüngsten Datums, sondern ein uralter Begleiter unserer Gesellschaft [und schon habe ich ihn »vermenschlicht«...]. Er ist nicht mal eine ausgewiesen moderne Form, weil das Mittelalter schon sein ganzes Potenzial genutzt hat. Deleuze sagte einmal so schön: Ich versuche, meinen Texten die Konsistenz eines frisch aufgeschlagenen Hühnereis zu geben. Ich möchte, dass die Teile zusammenhalten, und nichts über den Tellerrand hinausläuft.
Die Philosophie ist voll von diesen Versuchen, wobei die Autoren stets dem Risiko unterliegen, exkommuniziert zu werden, weil sie Begriffsfetischisten als Notare bestellt hat, die diese leichte Muse immer schon missbilligen. [Wird man eines Tages vielleicht ihre Lektionen verstehen?! Deleuze war in dieser Hinsicht sehr mutig.]
Bravo Leopold!
Für mich ist Montaigne immer noch das Alpha und Omega der Essaykunst. Nicht Mittelalter, Anfang der Neuzeit. »Humanismus«: es wird oft übersehen, aber ich finde es schon erstaunlich, wie er mit seinen lateinischen Autoren jongliert, mit hunderten, heute zumeist vergessenen, und das mit neuzeitlichen Beobachtungen und Zitaten verknüpft.
Und Deleuze: Er ist oft wirklich sehr witzig. Ganz ohne Humor gibt es keine Kreativität (und um letztere ging es ihm).