Als ich dem einen oder der anderen auf Nachfrage erzählte, was ich gerade lese, kamen fragende Blicke zurück. Wolfgang Menge? Das Coverbild – der markante und gutgekleidete Mann mit Glatze und Pfeife – half nicht immer. Die Rettung nahte bei der Erwähnung, dass Menge der Schöpfer von »Ekel Alfred«, der Hauptfigur aus Ein Herz und eine Seele, war. Den kannten sie, weil mindestens eine Folge – die vom Silvesterpunsch – in jährlicher Regelmässigkeit wiederholt wird. Bei Smog und Millionenspiel wussten die meisten auch nicht mehr weiter.
Nun also eine Biographie von Wolfgang Menge, fast ein bisschen verspätet zum 100. Geburtstag. Vielleicht liegt es am Verfasser Gundolf S. Freyermuth, Journalist, Autor und Professor u. a. an der Internationalen Filmschule Köln, der von Menge einmal als unpünktlicher Zeitgenosse charakterisiert worden sein soll, was der Freundschaft der beiden nicht im Wege stand. Die beiden lernten sich erst 1987 kennen. Menge war da 63, Freyermuth 32. Irgendwie finden sie einen Draht. Der junge Autor, der u. a. für den Stern schreibt und lange in den USA gelebt hat, kann Menge überzeugen, sein Computerequipment auf Macintosh umzustellen. Das war, wie sich später herausstellte, bemerkenswert, denn Menge war normalerweise schwer zu überzeugen.
Der Titel ist mit Wer war WM? interessant gewählt. Freyermuth schreibt in den fast 500 Seiten, die gelegentlich von Bildern aufgelockert werden, immer dann von »WM«, wenn es um allgemein biographische und/oder werkgenetische Dinge geht und wechselt zum »Wolfgang«, wenn es persönlich wird. Diese Methode erweist sich als Glücksgriff, weil der Leser sofort weiß, wer da gerade schreibt – der Freund oder der Biograph (wobei das eine nicht das andere ausschließen muss).
Keine Erinnerung
Wolfgang Menge wurde 1924 in Berlin geboren. Der Vater Otto Menge war Kaufmann, die Mutter Golditza kam aus Bulgarien (aus dem gleichen Dorf, in dem Elias Canetti geboren wurde) und lernte auf Dienstreise (sie war Beamtin) Otto kennen. Sie heirateten und zogen zusammen mit ihrem behinderten zweiten Sohn Werner, der 1935 starb, mehrfach um, bevor sie schließlich in Hamburg landeten. Wolfgang ist ein schlechter Schüler, mit 16 geht er in die Lehre bei seinem Vater, der dem Sohn die Hitlerjugend verweigert. 1941 geht es in den Reichsarbeitsdienst, danach militärische Grundausbildung und 1943 nach Polen.
Neben den biographischen Fakten destilliert Freyermuth auch die Angaben Menges aus zahllosen Gesprächen, die er mit ihm geführt hatte. Menge hatte eine Eigenschaft, die jeden Journalisten zur Weißglut bringt: Er verweigerte sich den Erinnerungen, schiebt Vergesslichkeit vor. Um dann, oft Jahre später, eher nebenbei, plötzlich doch mit einem Detail herauszurücken, was man nicht für möglich gehalten hätte. Bezogen auf den Krieg ist es vor allem die Tatsache, dass der junge »Deserteur« Menge irgendwann 1945 einen heranstürmenden SS-Mann aus nächster Nähe erschossen hatte, um seine Flucht fortsetzen zu können.
1946 wird Menge beim Schwarzhandel erwischt, muss für sieben Monate ins Gefängnis, wird aber vorzeitig unter Auflagen entlassen. Er versucht eine Ausbildung zum Fotoreporter, neigt aber eher zum Schreiben. Seine Vorbilder sind der Kabarettist Werner Finck und der Komiker Heinz Erhardt. Journalistenschulen gab es nicht; Menge wird Zeit seines Lebens Autodidakt bleiben, sich selber Fertigkeiten beibringen. Er bewirbt sich beim Vorläufer der dpa mit Gedichten und wird genommen. Man war nicht wählerisch. Als er nicht mehr zufrieden ist, kündigt er und wechselt nun einige Zeit »seine Jobs so häufig wie seine große Lieben«. 1947 wird er mit der Auszeichnung »begabtester Hamburger Nachwuchsjournalist« ein Stipendium der britischen Militärregierung bekommen und fährt nach Großbritannien. Hier lernt er die hohe Schule des Journalismus kennen, wird zum Verfechter von Staatsferne, Objektivität und Faktentreue, von nun an den Meinungsjournalismus verachten und auf Recherche setzen. Später sagte er einmal, dass es kein Nachteil sei, wenn ein Journalist von einem Thema nichts verstünde – es wäre sogar vorteilhaft, weil er dann vorurteilsfrei an die Recherche gehen könne.
Lost in Japan
Im November 1948 wird er des Landes verwiesen. Über die Gründe schwieg er sich aus bzw. erzählte, dass er sie nicht wisse. Erst 1960 wurde das Einreiseverbot aufgehoben. Seine »Britishness« wird bleiben, sowohl was die Arbeit als auch Kleidung und Habitus angeht. Menge hatte sich eine »neue Identität« geformt, fängt beim Hamburger Abendblatt an (damals Springer-Konzern) und schreibt »Tatsachenberichte«, die man heute etwas vereinfacht Reportagen nennen würde. Nach einem Streit kündigt er, schreibt für die Zeit und wird »fester Freier« für den Rundfunksender NWDR mit einer wöchentlichen Kabarettsendung, die er mit einigen Unterbrechungen fast zwanzig Jahre mit Glossen und Satiren füttern wird. Er schreibt jetzt für die B. Z., später für die Welt, für die er 1955 nach Japan geht, wobei es vor allem Menges Entschluss war, Deutschland zu verlassen.
Offiziell ist Menge Asienkorrespondent der Welt. Er lebt mit seinem Sportwagen in Tokio und findet sich überhaupt nicht zurecht. Die Stadt kommt ihm als eine Ansammlung von Dörfern vor, in denen die Menschen neben- statt miteinander leben. Ablenkung gibt es kaum, ein Nachtleben ist inexistent. Er kennt niemanden. Sein Fix-Gehalt ist verglichen mit den Lebenshaltungskosten zu niedrig. Seine Texte werden selten gedruckt; die Kommunikation mit der Heimatredaktion ist schwierig, der Postweg lang. Er ist »fremd, verarmt, vergessen, vereinsamt«. Menge droht, depressiv zu werden, nimmt »englische Tabletten«. Der Journalist Will Tremper, der viel erfolgreicher ist als Menge, verspricht ständig, nach Tokio zu kommen, was Menge noch hält. Freyermuth beschreibt dieses merkwürdige Warten auf einen imaginären Godot fast ein bisschen zu ausführlich.
Menge reist in das vom Krieg zerstörte Korea und berichtet darüber. Dann besucht er Hongkong. Hier, in der britischen Kronkolonie, die wirtschaftlich brummt, weltoffener ist als Tokio und sich drastisch von der Armut Rotchinas unterscheidet, will er wohnen. Nach einem Jahr Tokio kommt er im Januar 1956 in Hongkong an, sein »Paradies«. Binnen weniger Tage findet er Anschluss, eine deutschsprachige Gemeinde und erwirbt ein Segelboot.
Aber Die Welt verändert die Blattlinie. Axel Springer möchte nicht, dass schlecht über das kommunistische China geschrieben wird. Er hat Pläne, die deutsche Wiedervereinigung mit der Sowjetunion einzufädeln und ist dafür bereit, journalistische Grundregeln über Bord zu werfen. Menge macht da nicht mit, es gibt Streit. Er kommt mit der Transsibirischen Eisenbahn, die kurz zuvor erst eingeweiht wurde, nach Deutschland zurück, schreibt darüber eine lange Reportage und gibt den Tagesjournalismus auf.
Semidokumentarisches
1958 beginnt er Drehbücher zu schreiben, die sich an realen Verbrechen orientieren. Er recherchiert vor Ort. In den Filmen werden die realen Schauplätze, die Polizisten und Zeugen eingebunden. Die Regie übernimmt ein Freund von ihm, Jürgen Roland. Die Reihe heißt Stahlnetz und lehnt sich an ein amerikanisches Vorbild an. Menge und Roland gestalten das, was man heute Crime-Doku nennt, ergänzt mit Spielszenen, die ebenfalls möglichst nahe an der Realität sind. Stahlnetz ist ein Riesenerfolg, das, was man damals in Ermangelung von Aufzeichnungsmedien, »Straßenfeger« nannte. Über vier Stahlnetz-Fälle schreibt Wolfgang Menge zudem noch je einen Roman. Die Drehbücher, die Form der Behandlung von Kriminalfällen, die Mischung aus Dokumentation und Spiel – all das ist in Deutschland singulär. Freyermuth erklärt diese Mischung aus Neorealismus und amerikanischem Film Noir sehr anschaulich.
Menge und Roland reiten die Krimi-Welle weiter und verfilmen zwei Romane von Edgar Wallace. Die Wallace-Romane mochte Menge nicht und würzte die Drehbücher mit Ironie und einer Imagination eines anglo-germanischen Kulturraums. Als Sündenfall betrachtete er sein Drehbuch von Strafbataillon 999 nach der Vorlage von Heinz G. Konsalik.
Menge kehrte zu seiner semidokumentarischen Form zurück und dreht Polizeirevier Davidswache. Der Film war ein voller Erfolg, aber es kam zum Krach mit Jürgen Roland. Menge sah sich von Roland nicht genug geschätzt. Mitte der 1960er Jahre wagte er wieder Neues und schrieb in kurzer Zeit zwei Theaterstücke, die später für das Fernsehen verfilmt wurden. Er setzte sich in einem Stück humorvoll mit der deutschen Teilung auseinander; eine Beschäftigung, die sich durch sein ganzes Werk wie ein roter Faden zieht. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen beginnen die Experimentierjahre. Mit Protagonisten wie Günter Rohrbach, Peter Märthesheimer, Gunther Witte, Horst Königstein und Reinhart Müller-Freienfels gelingt ein »Aufbruchsfernsehen« mit neuen Spiel- und Filmformen. Menge wollte »Aktualität und Relevanz« in die Drehbücher bringen. Wichtig waren ihm dabei Tatsachentreue und Wirklichkeitsnähe.
Er inszeniert Fernsehspiele als Simulation von Authentizität, in der Entwicklungen in die Zukunft fortgeschrieben werden (»prognostisches Erzählen«). Dabei kommt ihm sein journalistisches Schreiben zu Gute. Die berühmtesten Filme dieser Epoche sind Das Millionenspiel (1970) und Smog (1973). Beide könnten beim zufälligen Einschalten als Bestandteile des regulären Programms aufgefasst werden. Im Millionenspiel muss ein Kandidat für ein Preisgeld von einer Million DM den Nachstellungen seiner Gegner trotzen, die ihn sogar erschießen dürfen. Das Stück ist eine »Kritik des Fernsehens im Fernsehen und mit den Mitteln des Fernsehens«. Smog thematisiert die Hilflosigkeit der Politik gegenüber menschengemachten Umweltkatastrophen vor Augen führt. Regie führt hier übrigens der damals nahezu unbekannte Wolfgang Petersen. Die Spielshow ist ein Ausblick auf das, was (in abgeschwächter Form) durch das Privatfernsehen drohte (Menge kannte aus anderen Ländern solche Institutionen). Smog ist scheinbar in der Zukunft angesiedelt, wird in den 1970er Jahren insbesondere in Regionen des Ruhrgebiets zur Realität. Freyermuth sieht in Smog einen Vorläufer zum Sozialrealismus à la Lindenstraße, die 1985 begann.
»Liveness«
Irgendwann will Menge mehr »Liveness«, ist es leid, »Konserven« zu produzieren. Hintergrund ist, dass die administrativen Wege in den Sendern immer länger werden. Manches ist, wenn es gesendet wird, nicht mehr im Aktualitätskorridor oder sogar veraltet. Das wird im Laufe der Jahrzehnte noch zunehmen. Menge bediente sich am Format der »Sitcom«, situationskomischer, meist dialogischer Fernsehspiele, mit häufig nur ungefährem Drehbuch, improvisiert und vor allem live, vor Publikum. Er entwickelte aus der BBC Reihe Till Death Us Do Part von Johnny Speight Ein Herz und eine Seele. Sogar die Vornamen des Originals kann er übernehmen. Die Sendungen werden am Tag der Ausstrahlung kurz vorher aufgezeichnet, sind also »fast« live.
Ein Herz und eine Seele startet 1973 in schwarz-weiß im Dritten Programm des WDR. Nach elf Folgen wechselt man in die ARD und in Farbe. Fünf Folgen, die im WDR in schwarz-weiß ausgestrahlt wurden, drehte man in Farbe für die ARD leicht verändert nach. Nach zehn Folgen im Hauptprogramm ist im November 1974 Schluss. Anderthalb Jahre später wurden noch einmal vier Folgen gezeigt, die aber weniger Aufmerksamkeit auf sich zogen. Womöglich lag es daran, dass zwei der vier Protagonisten durch andere Schauspieler dargestellt wurden.
Der Titel ist zynisch, denn Harmonie gibt es selten. Hauptfigur ist ein gewisser Alfred Tetzlaff, ein kleinbürgerlicher Angestellter mit zutiefst reaktionärem, teilweise faschistoidem Weltbild, der aus seinem Herzen keine Mördergrube macht. Er verflucht und denunziert die sozialliberale Regierung unter Willy Brandt (später Helmut Schmidt) und nennt mindestens einmal pro Sendung seine leicht naive Frau Else »dusselige Kuh«. Die Tochter der beiden lebt mit ihrem Ehemann im gleichen Haus bzw. in der gleichen Wohnung. Der Schwiegersohn ist bekennender Sozialdemokrat. Die Familie ist eine Vorhölle; Konflikte sind vorprogrammiert.
Die Vehemenz von Alfreds Invektiven kommt nicht überall gut an. Ist er »abschreckendes Beispiel« oder populäres »Sprachrohr verdrängter Vorurteile und Neigungen« der Deutschen? Ist Alfred gar ein Wiedergänger Hitlers? Freyermuth berichtet, dass selbst Brandt, der einmal bei Menge in dessen Haus auf Sylt zu Gast war, irgendwann beleidigt gewesen sei. Vom Gerücht, dass die SPD Einfluss auf den Sender nehmen wollte, findet sich im Buch nichts. Menge sah sich nach Kritik auch aus ausländischen Medien genötigt, seine Kunstfigur zu erklären: »Er ist eine Zusammenfassung so ziemlich aller psychologischer Deformationen, die in unserer Gesellschaft anzutreffen sind. Insgesamt bleibt er ein Monstrum… […] Aber durch Alfred wird vielen Zuschauern klar, wie sehr sie sich haben anstrengen müssen, um nicht so zu sein wie Alfred. Sie werden an ihre eigenen zivilisatorischen und kulturellen Mühen erinnert. Darüber freuen sie sich dann zu Recht. Das bedeutet aber auch, dass wir unsere eigenen Vorurteile mit denen von Alfred vergleichen können. Es sind in der Regel Probleme, die wir irgendwann einmal selbst hatten, aber schließlich rationalisiert oder einfach verdrängt haben. Durch Alfred tauchen sie wieder auf, und wir müssen uns mit ihnen beschäftigen.«
Halb scheint Freyermuth amüsiert, halb verärgert darüber, dass bei Wiederholungen der Folgen heute ein Disclaimer vorangestellt wird, der auf eventuell diskriminierende Bestandteile hinweist. Menge wollte aufklären, dabei aber nicht mit erhobenem Zeigefinger belehren. Die Reflexion muss beim Zuschauer einsetzen. Es ist eine Variante dessen, was die Griechen in Bezug auf die Tragödie »Katharsis« nannten, eine Reinigung von versteckten, inneren Konflikten. Damals wurde dies kontrovers diskutiert, heute wäre es unmöglich.
Ein Herz und eine Seele war ein ökonomischer Erfolg für Wolfgang Menge, der schon sehr lange sehr gut verdiente (der Autor nennt Zahlen). Jetzt konnte er, so Freyermuth, von den Tantiemen der Wiederholungen leben. Aber darum ging es Menge nicht. Er begann, sich vor die Kamera zu stellen. Ein neues Format, aus den USA und Großbritannien nach Deutschland gekommen, eroberte das Fernsehen: Die Talkshow. Am 19.11.1974 um 21.55 Uhr startete im Dritten Programm von Radio Bremen III nach 9. Die »III« waren zunächst Gert von Paczensky, Marianne Koch und Wolfgang Menge. Sie sprachen zwanglos mit Gästen aus Politik, Gesellschaft und Kultur und dies über die tagesaktuelle Agenda hinaus. Ein »moderner Salon« mit Streitkultur. Das war neu. Die Sendung war improvisiert, man blendete sich in laufende Gespräche ein und nach einer gewissen Zeit auch schon einmal ohne Angabe von Gründen aus.
Von Würstchen und intellektueller Selbstverzwergung
Menge trat damals erstmalig derart öffentlich auf. Er wirkte bisweilen grantig, bis zur Unhöflichkeit. Dennoch mag man sich heute kaum vorstellen, wie anziehend diese Sendung war. Bisweilen konnte ich sie auch sehen, und zwar immer dann, wenn sie vom Dritten Programm des WDR übernommen wurde, was nicht immer der Fall war. Mir ist vor allem in Erinnerung, dass Menge häufig eher hilflos wirkte, versuchte, möglichst offene Fragen zu stellen, um die Leute zum Reden zu bringen. Das kann man im Gespräch oder besser: Gesprächsversuch mit Alice Schwarzer von 1978 gut erkennen. Den Zwischenruf einer Zuschauerin, die sich über die Fragen Menges beschwerte, konterte dieser zwar schlagfertig, aber in der Sache hatte sie recht. Menge war häufig fahrig, insbesondere, wenn er nicht weiterkam. Die Souveränität eines Gert von Paczensky oder den schneidend-humorigen Biss von Karl Heinz Wocker (der später dazustieß) hatte er nicht. Warum auch immer: 1982 feuerte Radio Bremen das Moderatorenteam, wie es hieß, »begründungslos«. Menge sagte dazu: »Wo die Würstchen an die Macht kommen, wird der Senf rationiert.« Er stürzte sich sofort in ein ähnliches Projekt mit dem Titel Leute. Federführend war der SFB. Gisela Marx, die WDR-Journalistin und Produzentin, die mit Menge immer wieder Fernsehproduktionen unternehmen wird, war die andere Fragerin. Später stieß Elke Heidereich dazu; die drei wechselten sich ab. 1987, nach vier Jahren, kam es zu Spannungen. Heidenreich wollte keine Sendung mehr mit Marx machen, die, wie sie schrieb, die Gäste nicht befrage, sondern wie vor einem Tribunal gestellt behandele. Die Angelegenheit eskalierte, Heidenreich stellte ein Ultimatum, die Würstchen knickten ein, Gisela Marx wurde gefeuert und Wolfgang Menge ging freiwillig mit.
Menge hörte auch während seiner Talkshow-Zeit nicht auf, Fernsehspiele und ‑filme zu schreiben. Im Frühherbst 1989 begann er mit Baldur Blauzahn eine Satire auf den deutsch-deutschen Politbetrieb in Bonn zu schreiben, in dem er die aktuellen Probleme in die Zeit der Germanen legt. Als die ersten Folgen 1990 gezeigt werden, sind sie nicht mehr aktuell – die Mauer war gefallen. Die Reihe läuft abends, praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Dritten Programm des WDR. 1993 versuchte Menge in der Figur des West-Berliner Frührentners Motzki, der mit seinen Schimpfereien gegen Ostdeutsche und die Wiedervereinigung eine Art Revival von »Ekel Alfred«. Wie bereits bei Ein Herz und eine Seele polarisierten die Episoden. Nach dreizehn Folgen war Schluss.
Längst hatte das Privatfernsehen Einzug gehalten und die öffentlich-rechtlichen Anstalten biederten sich an, in dem sie Einschaltquoten als Legitimation einführten und in den »Wettbewerb« mit den neuen Sendern traten. Das Massenpublikum zersplitterte zusehends. Hinzu kam die Möglichkeit, Sendungen mit Videorekordern privat aufzuzeichnen. Der Niedergang der öffentlich-rechtlichen Medien begann Mitte der 1990er Jahren. Er war, wie Freyermuth Menge zitiert, weitgehend selbstgemacht: »Intellektuelle und künstlerische Selbstverzwergung gepaart mit bürokratischer Sklerotisierung und erdrosselnder Kontrolle durch die Parteien.«
In den Redaktionen herrsche Konformität, eine »Wolke der Feigheit«, ein »Dunstkreis von Rücksichtnahmen und Ängstlichkeiten, von Zurück- und Ausweichen, von Bremsen und Umkreisen, von Ranrobben und Wegkriechen, von Verschieben und Blockieren – eine subalterne Alltagswelt, in der Schweigen und vorauseilender Gehorsam zur Pflicht und Eiertänze, Bücklinge und rotierendes Schwanzwedeln zur Kür gehören.« Menge echauffierte sich schließlich über die »Machtübernahme durch inkompetente Dilettanten«, die sich an die Vorlieben der Parteien orientierten.
Es wird nicht ganz klar, wann es diesen Wutausbruch gab. Das Frappierende ist, dass das alles heute mehr denn je Gültigkeit hat. Innovationen gibt es kaum noch, stattdessen endlose, lieblos hingeschmierte, geistlose Krimi-Drehbücher, langatmige Quizshows oder Fernsehfilme, die sich darin erschöpfen, bestimmten Diversitätsregeln und politischen Anschauungen zu entsprechen. Und wer heute III nach 9 schaut, bekommt ein unerträglich banales Palaver einer abgehobenen Bussi-Bussi-Gesellschaft zu sehen, dass bei Menschen mit halbwegs normaler Intelligenz zuweilen zu Fremdschämanfällen führen muss.
Facettenreiche Darstellungen
Menge machte mit Schwierigkeiten noch ein paar Jahre weiter, schrieb mit Ende der Unschuld einen herausragenden semidokumentarischen Film über den Wettlauf um die Atombombe zwischen Nazi-Deutschland und den USA, versuchte sich an einer Kurz-Sitcom, thematisierte in Spreebogen satirisch den Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin. 1998 erhielt er den Schiller-Preis, obwohl Menge zeit seines Lebens geisteswissenschaftliche Attitüden fremd, ja verhasst waren. Als der WDR mit Schalom eine Sitcom über das jüdische Leben in Deutschland ablehnte, hörte Menge 2004 auf.
Gundolf S. Freyermuth hat eine ausführliche, meist chronologische Biographie des »Televisionärs« Wolfgang Menge geschrieben. Von großen, intimen Enthüllungen aus dem Privatleben (Menge war auch nach seiner Heirat gelegentlichen Liebschaften nicht abgeneigt), bleibt man verschont. Die Persönlichkeit wird in ihrem Facettenreichtum und Widersprüchlichkeit gezeichnet, aber nicht verklärt. Da ist der früh sehr gut verdienende Autor mit Hang zu teuren Sportwagen, der zugleich sparsam bis zum Geiz war. Er war ein Technikfanatiker und musste immer die neuesten Errungenschaften haben. Witzig, wie in den 1990ern Menges Hantieren mit einem Dutzend Fernbedienungen für alle möglichen Videorekorder und ‑geräte beschrieben wird. Menge lebte in Berlin, aber seine Liebe galt Sylt (allerdings nicht dem Massentourismus, der dort irgendwann ausbrach). Dort war er häufiger als in Berlin, trat weltmännisch bis hochmütig auf, legte aber keinen Wert auf das Urteil anderer. In der Arbeit war er, wie es scheint, ein Getriebener, sprudelnd fast bis zum Schluss vor Ideen. Wie alle Perfektionisten trat er fordernd und kompromisslos, zum Teil verletztend auf. Einige Male distanzierte er sich von den nach seinen Büchern erstandenen Filmen, weil sie, wie er meinte, von Regisseuren zerstört worden seien. Wunderbar die Schilderungen und Briefe von Menges Frau Marlies, die viele Jahre Journalistin bei der Zeit war.
Neben einer ausgiebigen, zuweilen etwas kleinteiligen Darstellung der Person gibt Wer war WM? eine informative Skizze über den deutschen Nachkriegsjournalismus und dokumentiert anschaulich die Entwicklung der Hochzeit des analogen Fernsehens in Deutschland, das am Ende nur aus knapp drei Jahrzehnten bestand und von »WM« stark mitgeprägt wurde. Ein weiterer Vorteil des Buches ist, dass ein seliges Schwelgen in »gute, alte Zeiten« vermieden wird. Und dennoch: Ein bisschen Wehmut kommt schon auf.
Eine treffende Rezension eines hervorragenden Buches. Besonders gefällt mir die gleichzeitig professionelle und persönliche Herangehensweise von Gundolf Freyermuth, was den Text gehaltvoll und unterhaltsam macht. Eine Hymne auf den Journalismus, mutig, unbestechlich und unparteiisch – und aus heutiger Sicht wichtiger denn je.