Die bereits in 2003 von Gunnar Heinsohn entwickelten Thesen zur Bevölkerungsentwicklung und deren eminente Bedeutung wurden Ende Oktober 2006 im »Philosophischen Quartett« des ZDF vorgestellt. Die ansonsten recht strukturiert und statisch von Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski moderierte Sendung geriet ein bisschen aus den Fugen, da Heinsohn, schlagfertig, ironisch und gelegentlich ein bisschen raunend Widerspruch provozierend, die Diskussionsteilnehmer in den Bann zog und im Laufe der 60 Minuten dann alle seinen Schlussfolgerungen erlagen.
Die Kernthese Heinsohns ist ziemlich einfach: In Gesellschaften mit überzähligen jungen Männern besteht die grosse Gefahr, dass diese jungen, wütenden [zornigen] und ohne Karriereaussichten Zweit‑, Dritt- und Viertsöhne (der erste, älteste Sohn ist durch Erbfolge abgesichert) ihre Perspektive anderswo suchen und es zu blutigen Expansionen und zur Schaffung und Zerstörung von Reichen kommt.
Heinsohn führt den Begriff des children bulge und des youth bulge* ein. Unter children bulge versteht er den Überschuss in einem prozentualen Verhältnis der Kinder unter 15 Jahren in einer Gesellschaft (bzw. einer Nation oder Region oder der Weltbevölkerung). Aus dem children bulge entsteht dann der sogenannte youth bulge; so nennt er die 15–24 jährigen (in vielen Gesellschaften beginnt das Kriegeralter bei 15 Jahren). Aus dem children bulge lässt sich das »Rekrutierungspotential« der »Zornigen« ablesen. Die weltweit zweifellos gestiegene ärztliche und ernährungstechnische Versorgung (Heinsohn belegt dies ohne zu verschweigen, dass noch vieles im argen liegt) sorgt dafür, dass aus dem children bulge relativ zuverlässig auf ein youth bulge geschlossen werden kann.
Die Phänomene children bulge und youth bulge dürfen nicht mit kurzfristig steigenden Geburtenraten verwechselt werden, die nach wenigen Jahren wieder abklingen; hierfür benutzt er das allseits bekannte Wort vom babyboom.
*[Heinsohn bietet keine Übersetzung der Anglizismen an; man könnte grob vereinfacht mit »demografischer Kinderbeule« bzw. »Jugendlichenbeule« übersetzen, was ein bisschen geschwollen klingt. Gelegentlich wird vom »Überschuss« gesprochen. Dabei ist unbedingt klarzustellen, dass dieser Begriff nicht im reduktionistischen Sinn gebraucht wird, sondern rein deskriptiv.]
Wichtig ist dabei, dass die absoluten Zahlen nicht unbedingt relevant sind. Am Beispiel der Volksrepublik China wird dies deutlich: Zwar gibt es dort derzeit 310 Millionen Kinder unter 15 Jahren (was eine gewaltige Zahl ist), aber mit einem Prozentsatz der Bevölkerung unter 15 Jahren (in letzter Halbdekade) von »nur« 24% liegt China bereits unter der vom Autor als relevant benannten Quote von 25% für potentiell »expansiv-aggressive« Gesellschaften; die Ein-Kind-Politik sorgt dafür, dass der Höhepunkt der Geburten bereits erreicht ist. Langfristig ist China eine vergreisende Gesellschaft. Eindrucksvolle Beispiele für vergreisende Gesellschaften liefert Heinsohn im Verlauf des Buches auch u. a. für Japan, Russland (insbesondere den asiatischen Teil), die Ukraine und auch – wenn auch nicht ganz so dramatisch wie bei den vorgenannten – für die Bundesrepublik Deutschland, in der bereits ganze Landstriche im Osten aussterben.
Wenn ein Vater statt einem plötzlich drei Söhne hinterlässt und fast alle Väter das in jeder nächsten Generation von neuem tun, dann lebt eine Nation mit einem Dauer-youth bulge. Der sucht – wie es beschönigend heisst – sein Glück eben nicht nur zu Hause, sondern auch in der Neuen Welt...[...] ‘Go west, young man!’, heisst eben nicht nur »verschwinde, zorniger junger Mann!«, sondern immer auch: »Es gibt noch jede Menge Chancen für die Gründung einer eigenen Existenz fern von Deinen Brüdern«.
Wichtig für die weitere Betrachtung ist, dass Heinsohn ausdrücklich erwähnt, dass die zornigen jungen Männer keinesfalls Geschwächte oder Hungernde sind, die sich quasi der Not gehorchend mit letzter Verzweiflung neue Lebensräume erobern wollen. Sie stecken nicht in absoluter Armut und hungern nicht (Ihre militärischen Optionen zielen zwar auch auf Ernährungsgrundlagen, aber eher im Sinne einer Optimierung, einer Gewinnung von ökologisch interessantem Lebensraum)
Heinsohn greift auch die so oft kolportierte These frontal an, (der islamistisch motivierte) Terrorismus sei Ausdruck einer Bewegung von Unterdrückten oder Schwachen. Ted Honderichs (umstrittener) Erklärungsversuch in »Nach dem Terror«, die Terroristen re-agierten aus einem gewissen Gerechtigkeitsfuror heraus (das Umstrittene daran war Honderichs’ mindestens rudimentär geäussertes Verständnis für diese Form von »Verzweiflungstat«; seine These ist aber komplexer und hier sehr verkürzt wiedergegeben), wird damit verworfen. Und auch Enzensbergers psychoanalytisch krude Deutung des »radikalen Verlierers« wird zerpflückt. Nach Heinsohn suchen die überflüssigen Söhne anderswo Anerkennung und letztendlich Spitzenpositionen, die sie in der eigenen Gesellschaft nicht mehr finden (da die raren Positionen von ihren älteren Brüdern besetzt sind).
Das Kernstück des Buches ist eine tabellarische Rangordnung der Nationen nach Zahl der Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres (auf dem Stand von 2003). Penibel listet er 124 Staaten und deren demografische Strukturen auf (und fügt in den Bemerkungen relevante Entwicklungen wie Kriege und Bürgerkriege ein; Heinsohn ist ja auch Völkermordforscher).
Neben den schwarzafrikanischen Ländern, die mit children bulge-Quoten von 40% und mehr erscheinen, legt Heinsohn natürlich besonderes Augenmerk auf die uns (scheinbar?) unmittelbar stärker tangierenden Bevölkerungsentwicklungen von Ländern wie Indien und – vor allem – den islamischen Staaten. Hier wird konstatiert:
Das aktuell quantitativ beeindruckendste Beispiel für youth bulges liefern die islamisch geprägten Länder, die in nur fünf Generationen (1900–2000) von 150 auf 1200 Millionen Menschen zugenommen haben...[...]
Europa, das sich bis 1900 mit 460 Millionen Menschen auf ein Viertel der Weltbevölkerung vermehrt hatte [...], ist (ohne Sowjetunion/Russland in Asien) in den 100 Jahren bis 2000 »nur« auf 660 Millionen gestiegen und hat sich so aus einer bald dreifachen »Übermacht« gegenüber dem Islam in eine zweifache »Unterlegenheit« gedreht.
Die Katastrophen zweier Weltkriege, die sich in Europa zwischen 1914 und 1945 ereignet haben, blendet Heinsohn nicht aus, sind aber letztlich nicht signifikant konstuierend auf die Bevölkerungsentwicklung; vor allem, was die Prognosen angeht.
China hat sich im gleichen Zeitraum von 400 auf 1200 Millionen »nur« verdreifacht; Indien (heutiges Territorium) von 250 auf 1000 Millionen vervierfacht. Lediglich für Einwanderungsländer konstatiert Heinsohn höhere Werte: Brasilien beispielsweise mit seinen zahlreichen Genoziden an Eingeborenen von 17 auf 170 Millionen. (Am Rande interessant: Die Bevölkerung der USA mit ihren Reservats-Deportationen und Indianergenoziden steigt zwischen 1790 und 1890 sogar von knapp 4 auf über 60 Millionen, also um den Faktor 15).
Die gesamte Menschheit hat sich zwischen 1800 und 2000 von 1,5 auf 6 Milliarden viervierfacht. Und: Von den 6,3 Milliarden Menschen des Jahres 2003 erblickten 4 Milliarden in den 35 Jahren nach 1968 das Licht der Welt... In den 2020er Jahren wird der Islam ein Viertel der Menschheit umfassen. Das entspricht dem Anteil Europas auf dem Höhepunkt seiner Weltherrschaft (1900) oder dem Anteil des Britischen Imperiums auf seinem Gipfel von 1920...
Um Missverständnisse zu vermeiden: Heinsohn stellt diese Fakten und Zahlen (und auch seine hieraus abgeleiteten Prognosen [hierüber wird noch zu reden sein]) vollkommen emotionslos dar. Eine Hysterisierung, was den Umgang mit den islamischen Ländern angeht, liegt ihm fern. Es gibt gelegentlich lakonische bis ironische Seitenhiebe auf das eurozentristische Weltbild, wenn er etwa die häufig benutze Vokabel der »Islamisten« für die Terroristen islamischen Glaubens auf das mittelalterliche Europa anwendet, und meint, niemand sei jemals auf die Idee gekommen, diese als »Christianisten« zu bezeichnen.
Ein »Verharmloser« ist Heinsohn aber auch nicht. Seine Rechnung ergibt bis 2020 rund 300 Millionen junge Männer, die in ihren Staaten keinerlei Perspektive mehr haben:
Dreihundert von insgesamt neunhundert Millionen jungen Männern aus der Dritten Welt werden in den kommenden fünfzehn Jahren entschlossen ausserhalb ihrer Heimat um Positionen kämpfen müssen. Sie gelten in den USA als Hauptgegner der nahen Zukunft. Sie sind alle schon geboren und werden auch dadurch nicht weniger, dass die 2‑prozentige Rekordzunahme der Weltbevölkerung im Jahrzehnt 1962–1971 bis 2003 auf 1,2% gefallen ist...
Und weiter heisst es ein wenig süffisant:
Mit der islamischen Speerspitze dieser Jugendarmee tritt nach dem Ende der marxistischen Weltbewegung erstmals wieder ein Herausforderer auf, der das Geschäft des aktuellen Hegemon nicht etwa übernehmen, sondern zerstören will.
Akribisch unterfüttert Heinsohn seine These im Blick auf die Geschichte – anhand der europäischen Hegemone von ca. 1400 bis ca. 1900 (danach die USA als bestimmender Welthegemon) – von den Portugiesen, den Spaniern, den Holländern, den Schweden, den Engländern, usw. Heinsohn belegt, dass immer dann, wenn youth bulge-Phänomene in diesen Völkern aufgetreten sind, die zornigen, aggressiven Zweit- bis Fünftbrüder ihre Spitzenpositionen – mangels Gelegenheit – in der Welt gesucht hatten – mit den allseits bekannten Folgen. Hier arbeitet Heinsohn auch den religiösen Überbau heraus, der den Eroberern als Vorwand diente – also der aktuellen Situation nicht unähnlich scheinend.
Eine interessante Korrelation entwickelt Heinsohn wenn es daran geht, zu ergründen, warum es ca. ab 1500 einen youth bulge in den verschiedenen europäischen Staaten / Hegemonen überhaupt gibt. Der Grund für die gestiegene Geburtlichkeit ist banal: Die Frauen bekommen mehr Kinder. Die Frage ist aber. Warum? Eine wichtige Ursache hierfür sieht er in der brutalen und durchgreifenden Hexenverfolgung, die ab 1484 einsetzte. Als »Hexen« wurden hauptsächlich Hebammen verurteilt, die ihr Wissen um die Verhütung an Frauen weitergaben (durch Abtreibung aber auch medizinische Hilfe). Mit der Tötung dieser als »Hexen« denunzierten Frauen (auch hier wurde der religiöse Grund nur vorgegeben), wurde das Wissen um Verhütungstechniken ausgerottet. Die europäische Bevölkerung wächst in dieser Zeit nicht primär aufgrund einer verbesserten medizinischen Versorgung – sondern weil mehr Kinder geboren werden.
Exkurs: Die Eigentumsgesellschaft
Ein youth bulge ist aber nicht der einzige Grund, dass sich Weltreiche implementierten. Neben einer überlegenen Waffentechnik (die spanischen Eroberer beispielsweise stiessen bei den Naturvölkern in Südamerika auf steinzeitlich bewaffnete Gegner), gibt es noch einen anderen Grund: Die Implementierung einer Eigentumsgesellschaft statt der Besitzgesellschaft, wie sie in archaischen Lebensverhältnissen und in frühmittelalterlichen Feudalgesellschaften Europas existierten.
Dieser Punkt der Eigentumsgesellschaft spielt eine zentrale Rolle bei Heinsohns Betrachtungen und er benennt die Transformation von der Besitz- in eine Eigentumsgesellschaft für einen extrem wichtigen Punkt, der heute den (sogenannten) Entwicklungsländern sogar als Königsweg aus ihrer verfahrenen Situation zu empfehlen sei.
Der besseren Übersichtlichkeit geschuldet, sind die Zitate aus Heinsohns Buch für diesen Exkurs in blauer Schrift (und nicht – wie im Rest dieses Begleitschreibens kursiv hervorgehoben.
Die Basis des Wirtschaftens liegt aber weder im Kapital noch im Markt, sondern im Eigentum. Das kann man nicht sehen, riechen, schmecken oder anfassen, weil es ein papierner Rechtstitel ist. Nun wird gern geglaubt, dass »Privateigentum« der menschlichen Gier am angemessensten Ausdruck gebe. Aber bürgerliche, also eigentümerliche Gier wird durch Polizei und Gerichtsvollzieher viel strenger kontrolliert als die von raubritterlichen Feudalherren oder »primitiven Stammesgenossen«. Vor allem im edlen Wilden hofft man auf einen Menschen noch ohne Eigennutz. [...] Aber auch und gerade unter Stammesgenossen gilt: »Der Erste, Schönste, Erfolgreichste, Stärkste und Reichste sein – danach strebt man«.
Die Suche nach Profit entsteht nicht aus einer Gier nach ihm. Er ist lediglich das, was einem Wirtschaftenden über die Summe hinaus bleibt, die er für die Tilgung seiner Geldschuld und den Zins darauf auch dann begleichen müsste, wenn ihm jede Gier fremd wäre. Und solche Schuldverpflichtungen entstehen nur dort, wo es neben dem Besitz auch Eigentum gibt. Die Unterscheidung zwischen Besitz und Eigentum ist für das Verständnis des Wirtschaftens fundamental. Ökonomie wird so schlecht verstanden, weil die Gelehrten Besitz und Eigentum für ein und dieselbe Sache halten.
Die auf Eigentum basierenden Gesellschaften können auch zahlenmässig grössere Völker übertreffen, weil Eigentum für die Schaffung von Geld belastet und für das Borgen von Geld in einem Kredit verpfändet werden kann. Der Geldschaffer verliert durch diese Belastung während des Kreditzeitraums die Freiheit seines Eigentums, kann es nicht noch einmal belasten und auch nicht verkaufen oder verschenken. Dafür gewinnt er die Zinszusage seines Schuldners. Und eben für den Zins, für dieses immer mehr aus niemals länger werdenden Jahresfristen, muss erfinderisch gewirtschaftet werden.
Gesellschaften ohne Eigentum haben kein Geld, also keine zinsbelasteten Schulden und bleiben deshalb ohne nennenswertes Wachstum.
[...]
Dass der Zins als entscheidende Zugkraft des Wirtschaftens am Eigentum haftet, ist zwar ganz allgemein schlecht verstanden. Aber nur die Marxisten streiten seit 1917 zu seiner regelrechten Abschaffung. Sie versprechen – wenn man so will – den Menschen für ihr Auto eine noch höhere und überdies pannensichere Geschwindigkeit, wenn man nur den Motor ausbaue. Diese Heilung der Tuberkulose durch Entfernung der Lunge hat an die 100 Millionen Menschen das Leben gekostet...
An einem Stück Ackerland lässt sich die wirtschaftliche Potenz des Eigentums über das bloss besitzbasierte – und ewige – Produzieren hinaus besonders leicht nachvollziehen. In allen drei der Menschheitsgeschichte bekannten Gesellschaftstypen – Stamm (nur Besitz), Feudalismus (nur Besitz) und Eigentumsgesellschaft (Besitz und Eigentum – kann der Besitz einer Feldmark zum Pflügen, Einsäen und Ernten genutzt werden, also einen greifbaren Ertrag hervorbringen. Gewirtschaftet wird bei dieser Nutzung der Ackerkrume jedoch nicht. Sie wird lediglich physisch benutzt, das heisst an ihr wird das Besitzrecht wahrgenommen.
Zur geschäftlichen Verwendung eines Ackers – also zum Wirtschaften mit ihm – kann es erst kommen, wenn zum Besitzrecht noch ein Eigentumstitel hinzutritt. Man kann sagen, dass mit dem Acker produziert, mit dem Zaun, der ihn umgibt, jedoch gewirtschaftet wird, wobei er den Eigentumstitel symbolisiert und nicht nach Draht und Pfosten betrachtet wird, die es auch in reinen Besitzgesellschaften geben kann. Während der Bauer einer Eigentumsgesellschaft seine Feldmark durch eigenen Gebrauch oder durch Verpachten – als Besitzer nutzt, kann er mit dem Eigentumstitel an ihr gleichzeitig und eben zusätzlich wirtschaften. Er kann diesen Titel für das Leihen von Geld – Mark z.B. – verpfänden, oder er kann ihn für die Besicherung des von ihm selbst emittierten Geldes – wiederum Mark – belasten.
Die Geldnote – ob auf Metall oder Papier gedruckt – ist also ein Eingriffsrecht in das Eigentum ihres Emittenten und kommt nur durch Schuldenmachen in die Welt. Auch das auf fast wertlosem Material notierte Geld ist wertvoll, weil hinter ihm besicherndes und zusätzlich verpfändetes Eigentum steht. Wo jemand Geld emittiert, tut er dieses für einen anderen, der ihm mindestens im selben Wert Eigentum verpfändet sowie Tilgung und Zins zugesagt hat. Der in die Zirkulation gelangten Geldnote entspricht mithin ein zweites notifiziertes Dokument. Das ist der Kreditkontrakt, in dem der geschaffene Betrag als mit Eigentum des Leihers besicherte und zu verzinsende Schuld niedergeschrieben ist. Erst wenn der die Schuld getilgt hat, kann die zum Verleiher heimgekehrte Geldnote vernichtet und der Kreditkontrakt zerrissen werden. Sind die Noten aus Metall oder ist das Papier noch gut, können sie bei einer neuerlichen Emission wieder verwendet werden. Bis dahin aber – bis zu einem neuen Kreditkontrakt, der sie gewissermassen auflädt bzw. scharf macht – sind sie nur Formulare. Die werden in einem Tresor aufbewahrt, weil sie, durch Diebstahl in Zirkulation gelangt, äusserlich nicht von solchen »Formularen« zu unterscheiden sind, die erst verschuldete Eigentümer durch Zusage von Pfand, Tilgung und Zins in genuines Geld transformieren.
Als Verwender von Geld, das immer jemand – nämlich der im geldschaffenden Kreditkontrakt Benannte – schuldet, entwickeln Mitglieder von Eigentumsgesellschaften einen ganz anderen Blick auf die Welt als Menschen aus reinen Besitzgesellschaften, also aus Stämmen oder aus Feudalgesellschaften – werden diese nun durch Adelskasten oder »Avantgarden« einer Arbeiterklasse dirigiert. Geldschuldner suchen immer nach Wegen, aus der prinzipiell unveränderlich gleich langen Zeit eines Jahres oder eines Monats das Zusätzliche herauszuholen, das sie für den Zins aufbringen müssen. Eben dafür erzeugen sie Märkte. Auf diesen versucht man Schuldendeckungsmittel, also Geld zu erlangen. Dessen Existenz geht dem Markt somit voraus, während die Marktwirtschaftler glauben, dass erst die Märkte da seien, auf denen es dann für eine Tauscherleichterung erfunden werde.
[...]
Die Kontakte der Europäer zu den neuen Welten werden also umgehend in die Erfüllung von Gläubiger-Schuldner-Kontrakten eingebunden. Dadurch beginnt Globalisierung.
Und für die Entwicklung der sogenannten Dritten Welt rät Heinsohn zur Vereigentümerung:
Wenn man den weniger entwickelten Ländern helfen will, dann darf man ihnen kein Geld geben. Die denken sonst in der Tat, dass auf rätselhafte Weise riesige Tresore voll mit dem edlen Papier gerade in den OECD-Staaten gelandet sind, die somit ruhig mal etwas abgeben könnten. Doch die haben keine Kisten, sondern für die Geldbeschaffung belastbares Eigentum. Die Etablierung von Eigentum wiederum erfordert nur ganz geringen technischen Aufwand. Blosse Besitztümer müssen um Eigentumstitel ergänzt und dabei breit gestreut werden. Diese Verteilung muss muss in Dokumenten über die Eigentumstitel fixiert werden. Kataster und Grundbücher sind anzulegen. [...] Man muss an Gesetze gebundene Polizei und unabhängige Gerichte schaffen, die in die Eigentumstitel – ohne Ansehen der Macht ihrer Halter – vollstrecken können.
Dennoch: Einen Automatismus, der hinter einem überproportionalen youth bulge und der Aggression ein Gleichheitszeichen setzt, gibt es bei Heinsohn nicht. Dabei ist nicht nur die Betrachtung der Hitlerschen Aggressionskriege gemeint, die mit einem direkten Sohnüberschuss nicht »erklärt« werden können. Heinsohn wird da ein wenig einsilbig. Er merkt an, Hitler habe den youth bulge sozusagen herbeidekretieren wollen – mit dem Versuch, Frauen von der seinerzeit fortschreitenden Erwerbstätigkeit wegzubringen und wieder als Mütter einzusetzen. Der erste Weltkrieg, der rund 10 Millionen Söhnen das Leben gekostet hatte, war noch in der demografischen Entwicklung Europas verankert.
Heinsohn nennt zahllose Beispiele auch in der jüngeren Vergangenheit, die belegen, dass youth bulge-Staaten entweder in Bürgerkriege sich gegenseitig dezimiert haben oder aggressiv gegen andere Völker aktiv wurden (bzw. dies noch tun): Sri Lanka; Südamerika 1955–1995 im allgemeinen und El Salvador im speziellen; Nepal; Elfenbeinküste; Marokko (Genozid an den Sahauris); Afghanistan; unbedingt natürlich der Irak, den Heinsohn für lange Zeit »brodelnd« sieht; Palästina (wobei er den Palästina/Israel-Konflikt für in den Medien überzogen dargestellt sieht und in seiner Bedeutung – im Vergleich mit anderen Konflikten – eher am unteren Ende der Prioritätenliste sieht).
Eine Sonderstellung in der Betrachtung nehmen die USA ein (Heinsohn führt später den Begriff USanada ein [für USA und Kanada]). Als fast einziges westliches Land hat die USA noch Zuwachszahlen, die – so Heinsohns Prognose – am Weltmachtstatus der Vereinigten Staaten zunächst nicht rütteln werden (youth bulge-Quote von immerhin 21%). Aber die Politik der USA (wie auch Europas mit ungleich schlechteren Geburtenzahlen) trägt seiner Bevölkerungsentwicklung Rechnung:
Die Strategie der Vereinigten Staaten zielt...auf eine sequenzielle Ausschaltung despotischer Staaten mit Megatötungswaffen, weil ihre eigene Macht für die zeitgleiche Bekämpfung auch nur zweier aggressiver Atommächte nicht ausreicht.
Entwicklungen in anderen Staaten, innerstaatliche, bürgerkriegsähnliche Situationen oder regional begrenzte bilaterale Konflikte berühren die Weltmacht nur noch am Rande. Es wird zu Lippenbekenntnissen und wohlfeilen Appellen kommen, um den Schein zu wahren. Genozide wie in Ruanda oder jetzt in Darfur (Sudan) finden nicht das unmittelbare (prioritäre) Interesse der USA, weil die grundsätzliche Weltlage von ihnen nicht tangiert wird. Das ist der Grund, warum nicht eingegriffen wird: Wenn sich die youth bulge-Völker gegenseitig bekriegen, dann sinkt die Zahl der zu erwartenden Postensucher schon einmal. Das klingt hart, dürfte aber dem Kalkül der gängigen Politik entsprechen; übrigens nicht nur in den USA.
Obwohl Heinsohn die grösste Machtfülle der Vereinigten Staaten schon längst in der Vergangenheit sieht (er nennt die Zeit zwischen 1941–49; hauptsächlich deshalb, weil die USA zu dieser Zeit das Atomwaffenmonopol hatten), fällt ihm als Zukunftsperspektive nichts spektakuläres ein. Die Vereinigten Staaten werden wohl bis 2050 die bestimmende Macht bleiben. Neben der überlegenen Waffentechnik liegt dies auch daran, dass die Vereinigten Staaten (bzw. USanada) eine dauernde Heimstatt für die gut ausgebildeten Migranten sein werden; während die »Armutsflüchtlinge« hauptsächlich vor Europas Küsten stranden werden. Mit diesem Know-How sieht Heinsohn die USA à la longue dominierend; u. a. auch deswegen, weil selbst aus Europa die Eliten auswandern werden (allerdings wohl aus ökonomischen Gründen, denn einen youth bulge hat in Europa kein Staat mehr).
Die potentiellen Konkurrenten um den Weltmachtstatus der Zukunft sind entweder Vergreisungsgesellschaften (China; Europa) oder – tja, oder was? Warum Indien mit seinem youth bulge von 33% (Prognose 2050: 1628 Millionen [China 1394 Millionen; USA 413 Millionen]) dennoch keinen Gegenpart wird spielen können, lässt Heinsohn im Dunkeln. Es darf vermutet werden, dass er der doch sehr heterogenen indischen Gesellschaft mit durchaus grossen Klassenunterschieden den entscheidenden »Sprung« zur Herausforderung der USA als Weltmacht nicht zutraut. Viele gut ausgebildete indische Zweit- bis Fünftsöhne dürften übrigens auch von USanada angezogen werden.
Interessant ist Heinsohns These, dass die permanent steigenden Rüstungsausgaben der USA ein Ausweis von (gefühlter) Schwäche darstellt; die Römer hätten den Limes als Grenzbefestigung gebaut; die chinesische Mauer sollte Feinde abhalten, die mit Soldaten nicht mehr verdrängt werden konnten. Ähnliches sieht Heinsohn für die ehrgeizigen Rüstungspläne der USA (u. a. auch die Weltraumrüstung). Mit weniger als 5% der Weltbevölkerung [bringen die USA] auch im Jahre 2003 noch 50% aller Mittel der Menschheit für Forschung und Entwicklung auf. Da mag manche Wunderwaffe erfunden werden. Sicherlich ein nicht zu vernachlässigendes Argument.
Und Europa? Wie wird Europa den zornigen jungen Männern beispielsweise aus islamischen Gesellschaften begegnen können? Man kann Mauern errichten – Heinsohn hält diesen Weg für nicht sinnvoll. Man kann versuchen, Einwanderungspotential zu generieren, denn schliesslich sterben die europäischen Länder ja sukzessive aus. Um den Stand zu halten, müsste beispielsweise ein Land wie Spanien jährlich 1 Million Flüchtlinge aufnehmen (zum Beweis: derzeit leben in Spanien noch nicht einmal 1 Mio. Nicht-Spanier). Und:
Deutschland allein benötigt bis 2050 mindestens 15 und womöglich sogar 25 Millionen Neuzugänge – ... 500.000 jährlich, [einer Zahl,] der keiner richtig ins Gesicht sehen möchte.
Selbstredend wird es mit den Neuankömmlingen Schwierigkeiten zuhauf geben. Wer wollte ausschliessen, dass gerade aus der islamischen Welt voll ausgebildete Antisemiten herbeiströmen...[...] Man ersieht daran, dass unsere imponierenden Anstrengungen zur Fremdenliebe nicht aus dem Streben nach dem Guten als solchem erwachsen.
Zwischen den Zeilen liest man: Wo soll die Arbeit für diese Neuankömmlinge herkommen? Und: Welchen Ausbildungsgrad haben diese Menschen bzw. welchen »verlangen« wir? Die gut ausgebildeten werden sich direkt auf den Weg nach USanada machen; übrigens auch die in Europa herangezogenen Eliten, die Heinsohn in grossen Strömen dem sterbenden Kontinent den Rücken kehren sieht.
Ted Honderich hatte die Bildung als Ausweg gesehen: In Gesellschaften, in denen Frauen vermehrt freien Zugang zu Bildungseinrichtungen und danach in eine Art Berufsleben fanden, gingen die Geburtenzahlen signifikant zurück (freilich gab es hier auch Ausnahmen, wie beispielsweise der Iran und – vor allem – der Irak). Heinsohn sieht – das mag ein bisschen fatalistisch sein – keinen Ausweg; vor allem keinen Königsweg und rät (mehr oder weniger) zum Ausharren. Die Krieger von 2020 sind eh schon alle geboren; für die Zeit danach sieht er eine gewisse »Entspannung« (was eigentlich rein spekulativ ist und von Heinsohn auch so kommentiert wird).
Lediglich in der programmatischen Ausrichtung hin zur Eigentumsgesellschaft vermag man einen Hoffnungsschimmer zu erkennen: Durch eine Ökonomisierung der jeweiligen Gesellschaft könnten die sonst anderweitig gesuchten »Spitzenpositionen« in der eigenen Entität entstehen.
Die USA beschreibt Heinsohn insgesamt sehr optimistisch. Auguren wie Emmanuel Todd, die im horrenden Handelsbilanzdefizit der USA eine tickende Zeitbombe sehen, (und zwar nicht nur für die USA, sondern für die gesamte Weltwirtschaft) kommen bei ihm nicht zu Wort. Die Tatsache jedoch, dass die USA grosse Teile ihrer Industrieproduktion abgeschafft hat und auf Importe angewiesen ist, kann nicht wegdiskutiert werden.
Am Beispiel Chinas könnte Heinsohns Theorie einen Dämpfer erhalten. Zwar ist die Volksrepublik bevölkerungsmässig nicht in der Lage, exzessive Kriege mit grossen Verlusten zu führen – aber vielleicht braucht man dies auch nicht mehr, um trotzdem eine Hegemonialposition zu erreichen (die andere Voraussetzungen bringt China ja mit). Ökonomisch ist China sowohl als Produzent als auch als Nachfrager die aktuelle Weltmacht – die Wachstumsraten erreichen regelmässig schwindelerregende Höhen (kein Wunder, es gibt natürlich viel »aufzuholen«). Ähnliches gilt für Indien. Wie wäre es, wenn sich Hegemonialpositionen im 21. Jahrhundert nicht mehr ausschliesslich an klassische (bellizistische) Kennzahlen orientieren, sondern auch (oder vor allem?) an ökonomische Parameter? Liefert nicht Deutschland seit Jahrzehnten auf bestimmten Gebieten (immer noch!) ein Beispiel, wie eine weltpolitisch relativ unbedeutende Nation durch ökonomische Stärke eine gewisse Relevanz erreichen kann (und diese dann – bedauerlicherweise oder doch nicht? – nicht in der Lage ist, politisch hieraus Kapital zu schlagen)?
Heinsohns Zahlen sind aufregend und beeindruckend; keine Frage. Gelegentlich sogar beklemmend. Das Buch enthält manchmal sarkastische Spitzen. Zarte Seelen könnten Anstoss an gelegentlich drastische Formulierungen nehmen; der Autor wird’s verschmerzen. Das Zahlen- und Quellenmaterial ist beeindruckend und umfangreich (nach 160 Seiten Buch gibt es eine Literaturliste von 21 Seiten!); gelegentlich auch einmal verwirrend. Manche Unterthesen, die Heinsohn aufstellt, sind verblüffend und – im besten Sinne – nachdenkenswert (beispielhaft möge der Epilog dienen). Man mag nicht immer alles goutieren, aber das Buch ist unbedingt und dringend zu empfehlen. Danach wird man eine Zeit lang immer bei Nennung eines Landes die demografischen Daten nachschlagen. Und man sieht einiges in anderem Licht.
Epilog: Idolisierung aggressiver Führer heute und damals
So kann es kaum verwundern, dass etwa auch die jungen Leute Südkoreas den nordkoreanischen Diktator Kim Jong II gerade wegen seines Atompotenzials bewundern. Von den mindestens 500.000 Menschen, die er seit 1994 verhungern lässt (Hayashi 1997) und von seinem unvermindert tötenden Gulag (Bork 2003,10) lassen sie sich kaum irritieren. Nach der Einstufung dieses Landes in die »Achse des Bösen« durch den US-Präsidenten George W. Bush ist die Zahl der amerikafeindli- chen Südkoreaner dramatisch hochgeschnellt – von 15 Prozent 1994 auf 53 Prozent 2002. Aber nur 26 Prozent der über 50-jährigen gehören in diese Gruppe. Von den 20- bis 30-jährigen hingegen sind es 75 Prozent. Eine 29-jährige Frau erklärt An- fang 2003: »Wenn Nordkorea Atomwaffen will, soll es sie ruhig haben. Nordkorea würde uns nie angreifen. Wir sind ein und dasselbe Volk« (Goodman/Choo 2003, 6). Die Phantasien über die Möglichkeiten einer vereinigten 70-Millionen-Nation mit der ökonomischen Stärke Südkoreas und den dann noch verbesserbaren Megatötungswaffen des Nordens erweisen sich als unwiderstehlich. Und in der Tat bräuchte ein solches Korea keine Amerikaner mehr. Aber mit China zöge man nuklear gleich, und das altgehasste Japan liesse man hinter sich. Man tafelte im selben Klub mit Frankreich und Grossbritannien. Auf jeder diplomatischen Bühne der Welt wären junge Koreaner dabei und wichtig. Wie wohl das nationale Fühlen der Deutschen aussähe, wenn sie über die DDR an Atomwaffen gelangt wären – mit all dem Uran im Erzgebirge?
Die jungen Muslime, Koreaner etc. idolisieren ihre aggressiven Führer im 21. Jahrhundert also kaum anders als etwa im 18. Jahrhundert die Deutschen aus Goethes Kindheit den späteren Grossfriedrich, der – mit Preussen – gerade nicht dem ressourcenreichsten Gemeinwesen vorsteht und dennoch blutiger und tückischer oder eben kühner und intelligenter als alle anderen deutschen Fürsten sein Reich durch räuberische Überfälle auf die Nachbarn schmiedet. Diesen grossen Töter bewundert der junge Goethe: »Aber kaum hatte ich am 28. August 1756 mein siebentes Jahr zurückgelegt, als gleich darauf jener weltbekannte Krieg ausbrach, welcher auf die nächsten sieben Jahre meines Lebens auch grossen Einfluss haben sollte. Friedrich der Zweite, König von Preussen, war mit 60.000 Mann in Sachsen eingefallen, und statt einer vorgängigen Kriegserklärung folgte ein Manifest, wie man sagte, von ihm selbst verfasst, welches die Ursachen enthielt, die ihn zu einem solchen ungeheuren Schritt bewogen und berechtigt. [ ...] Und so war ich denn auch preussisch oder, um richtiger zu reden, fritzisch gesinnt. [ ...] Ich freute mich mit dem Vater unserer Siege, schrieb sehr gern die Siegeslieder ab, und fast noch lieber die Spottlieder auf die Gegenpartei. [ ...] Bei den Grosseltern [ ...] wollte mir kein Bissen mehr schmecken: denn ich musste meinen Helden aufs greulichste verleum- det hören. [ ...] So fing ich nun, wegen Friedrichs des Zweiten, die Gerechtigkeit des Publikums zu bezweifeln an. [ ...] Bedenke ich es aber jetzt genauer, so finde ich hier den Keim der Nichtachtung, ja der Verachtung des Publikums, die mir eine ganze Zeit meines Lebens anhing« (Dichtung und Wahrheit, Erster Teil, Zweites Buch).
Die Fritzischen und die Bin-Laden’schen haben mithin viel gemein. Mit unverhüllter Wehmut, dass ihm selbst diese Rolle nicht mehr gehört, hat sogar Libyen Diktator Gaddafi das zugestanden: »In der islamischen Welt ist er [Bin Laden] ein Prophet geworden und alle jungen Leute verehren ihn« (Weymouth 2003, 18). Mordversuche von Al-Qaida gegen die blutige Operettenfigur der 1980er Jahre dürften dieses Eingeständniss kaum erleichtert haben. Im Mai 2003 verfügt Osama bin Laden über das höchste moralische und politische Ansehen in fünf von sechs islamischen Ländern (Ausnahme Türkei), die in einer weltweiten Forschung über die Autorität von Politikern einbezogen wurden: Palästina, Indonesien, Jordanien, Marokko und Pakistan (Bortin 2003, 1/6).
??
Hallo,
Deine ausführliche Besprechung läßt mich mit mehr Zweifeln als Erleuchtung zurück.
Das beginnt mit der Ausgangsthese Heinsohns von den überzähligen jungen Männern (Was ist mit den Frauen?).
Was heißt es, sie seien chancenlos? Müßte nicht der Zusammenhang von Wirtschaftsweise und Chancen betrachtet werden?
Auch in unserer Gesellschaft gilt es als schlichte Tatsache, daß 5–10 Millionen Menschen überzählig/chancenlos sind. Offenkundig hat das bei uns nichts mit 2.-, 3.- usw. Söhnen zu tun.
Auch Heinsohns Betrachtung von Besitz- und Eigemtümergesellschaften macht mich eher schwindlig in meinem armen Kopf. Der Feudalherr, der antike (oder nichtantike) Sklavenhalter bleiben Eigentümer, auch wenn sie keineswegs kapitalistisch wirtschaften. H. scheint ziemlich rigoros das Verständnis von Eigentumsverhältnissen als Formen von Produktionsverhältnisen zu ignorieren....
Na schön, das gilt heute wohl als sein Recht.
Oder argumentiert er diesbezüglich?
Aggressionspotential...
geht für Heinsohn von männlichen Nachkommen aus. Damit dürfte er nicht so schief liegen. Und um es ein wenig platt auszudrücken: Der »Posten«, den die Frau in vielen Gesellschaftsen auch heute noch einnimmt, ist die der Gebärerin; der Hüterin des Nachwuchs. Wie ich erwähnte, zeigt er hieraus keinen Ausweg (man kann allerdings sagen, es ist nicht sein Thema gewesen).
In Entitäten, die Frauen Zugang zu Bildung bieten (Schule; Universität; Beruf), sinken normalerweise innerhalb von ein, zwei Generationen die Geburtenzahlen (Kind pro Frau).
»Chancenlos« bedeutet, dass sie innerhalb ihrer Entität keine Möglichkeiten haben, Posten zu besetzen. Diese sind in der Regel durch den Erstgeborenen besetzt. Möglichkeiten, sich in abstrakte Arbeitsverhältnisse einzubringen, gibt es meist nicht,(was an den Arbeitslosenquoten in diesen Staaten deutlich wird). Das ist natürlich ein bisschen vereinfacht; es gibt durchaus auch heute noch Gesellschaften, in der ein Sohn die Nachfolge des Vaters antritt (wobei auch immer); einer eine soziale oder politische Aufgabe übernimmt und einer »für die Religion« abgestellt wird.
Der Rekurs auf unsere Gesellschaft ist dahingehend abwegig, da es sich (1.) um eine aussterbende Gesellschaft handelt (die islamischen Länder, Indien, sehr viele schwarzafrikanische Staaten jedoch dramatisch ansteigende Kinderzahlen melden), also die Population (dramatisch) zurückgeht und (2.) die »chancenlosen« hier durch soziale Transferleistungen einigermassen abgesichert sind. Somit entfällt die Option, sein »Glück« anderweitig zu suchen.
Der antike Sklavenhalter war in Heinsohns Sinn nicht Eigentümer; er war »nur« Besitzer, der sich zwar als Eigentümer generierte, dies jedoch nicht belegen konnte (er brauchte es wohl auch nicht, weil ihn niemand befragt hatte). Wozu Heinsohn tendiert – wenn ich ihn da richtig verstanden habe – ist ein Wirtschaften, in der Eigentum die Rolle einer Art Geldbeschaffungsmaschine spielt, was wiederum die Ökonomie antreibt, neue Posten schafft, usw...
Danke Gregor,danke Gunnar Heinsohn,
ein überwältigendes Buch, einfach,stimmig und schlüssig.
Die Frauen werden nicht vergessen, aber sie führen die Kriege ja nicht.Sie werden mit den übriggebliebenen Spermaträgern neue
Männer generieren für den nächsten Krieg.....
Ich werde mir schon mal ein hübsches Kopftuch aussuchen oder mich mit den Chinesen anfreunden, Schlitz- bzw.Mandelaugen hab ich ja eh....
Ein großartiger Soziologe, mir wird schwindlig von seinem Können ‚schweerige Sachverhalte ganz einfach zu formulieren-das können eben nur die ganz Gscheiten...
Keine Entkopplung
Man darf die Bevölkerungsentwicklung nicht von der allgemeinen ökonomischen und politischen Entwicklung des entsprechenden Landes oder der Region trennen. Es ist nicht die Relation der Kinderzahlen im Vergleich zu anderen Gebieten der Erde entscheidend, sondern die Perspektiven der Menschen bei sich zu Hause. Wenn man das mit hinein rechnet, dann hat Heinsohn natürlich recht. Bei den ersten Kreuzzügen um 1000 n. Chr. wird ja als eine der wesentlichen Ursachen auch immer wieder genannt, dass wegen des Erbrechts viele Zweit- und Drittgeborene ihr Land verlassen mussten, weil sie daheim keine Perspektive mehr hatten.
Was Heinsohn in deinem Zitat über Besitz und Eigentum schreibt, ist aber – mit anderen Worten – sowohl im Marxismus als auch in der Volkswirtschaftslehre Grundlagenwissen und im Gegensatz zu Heinsohns Worten durchaus sehr gut verstanden. Der Unterschied zwischen Besitz und Eigentum liegt nicht an den damit verbundenen Rechtstiteln, sondern was man mit dem bereits Vorhandenen macht. Ob eine einfache oder eine erweiterte Reproduktion erfolgt und wie diese organisiert wird. Es ist also der Unterschied zwischen quasifeudalen und kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen.
Seine Grundthese lässt sich meiner Meinung nach in einem einfachen Satz unterbringen: Wenn der Zinssatz der Bevölkerungsentwicklung größer als der Zinssatz der ökonomischen Entwicklung ist, die Menschen objektiv und im Durchschnitt ärmer werden, dann führt das automatisch zu politischen Problemen und in der heutigen globalisierten Welt zu Migrationsströmen, die zudem pseudoreligiös unterfüttert werden.
Gerade in Bezug auf China und viele Entwicklungsländer der islamischen Welt ist für mich deshalb die Hauptfrage, ob es dort auf dem Weg zu einer modernen Gesellschaft möglich ist, das Stadium des Manchesterkapitalismus zu überspringen, also maximaler Profitraten mit sehr wenig politischen Rechten der Mehrheit und maximal unterschiedlicher Nutznießung vom Fortschritt in der Gesellschaft. Wenn das nicht gelingt, haben wir ein gewaltiges Problem: Höheren ökonomischen Zuwachsraten steht ein primitiveres Politikverständnis und ein noch archaischeres Alltagsdenken gegenüber.
Heinsohn entkoppelt nichts
Genau das sagt er ja: Die Perspektiven der Menschen zuhause ist entscheidend. Wenn im Verhältnis der möglichen Positionen (»Posten«) zu viele Nachkommen vorhanden sind, gibt es entweder ethnische Spannungen innerhalb der Entität (dies u. a. wenn – wie in vielen afrikanischen Staaten – die Grenzen willkürlich und ohne Berücksichtigung der ethnischen Gegebenheiten gezogen wurden) oder der »Zorn« richtet sich nach aussen. Die Plausibilität des Heinsohnschen Denkens liegt in der Parallelität dieser Faktoren.
Deine Subsummierung verstehe ich vermutlich nicht richtig.: Der »Zinssatz« der Bevölkerungsentwicklung – also das, was er youth bulge nennt – ist in einigen Ländern weit über 40% (teilweise bis an 50%). Es gibt keinen direkten Rekurs auf das Zinsniveau der von ihm proklamierten Eigentumsgesellschaft; Heinsohns Annahme liegt ja u. a. darin, dass sehr viele Länder noch keine ausreichende Infrastruktur für diese Eigentumsgesellschaft zur Verfügung haben.
Deine Befürchtung, was China angeht, ist m. E. längst Realität: Das ökonomischen Wachstum geniesst dort absolute Priorität; alles ist ihm untergeordnet. Ein Punkt allerdings stimmt mich nach Heinsohns Lektüre skeptisch: Die chinesische Regierung müsste schnellstens von ihrer repressiven Ein-Kind-Politik Abstand nehmen, um der ohne Zweifel sonst unabänderlich kommenden Vergreisung vorzubauen. Diese Politik war ja eigentlich der Tatsache geschuldet, dass China irgendwann nicht autarkgenug sei, um seine Bevölkerung zu ernähren. In der globalisierten und vor allem technisierten Welt dürfte dieses »Argument« nicht mehr zutreffen (selbst wenn man Lebensmittel ob einer grösseren Bevölkerungsanzahl importieren müsste, wäre der Nachteil des schwindenden Handelsbilanzdefizites geringer als der Nachteil, irgendwann keinen »nachwachsenden Markt« mehr zu haben) . Im Moment interessiert dies aber wohl niemanden, da die Wachstumsraten enorm sind; immer noch sind hunderte von Millionen Chinesen potentielle Wohlstandsgewinnler (das Land ist immer noch sehr argrarisch strukturiert).
Noch ein wichtiger Hinweis zur Religion: Heinsohn ist ein unbedingter Verfechter der These, dass der »Zorn« der jungen Männer vor der Religion vorhanden war. Erst der Zorn – dann die Schriften, die diesen metaphysisch unterfüttern. Dies war sowohl beim Christentum der Fall – als auch jetzt beim Islam. Was er nur streift (ich zitiere es in meinem – zugegeben exzessiv langen – Aufsatz): Die zornigen jungen Männer des Islam bieten gar keinen neuen Entwurf an – sie sind (einfach formuliert) »nur dagegen«. Ein über das metaphysische hinaus gehender sozialer, ökonomischer und politischer Überbau – irgendwelche Utopien – gibt es nicht bzw. nur metaphysisch verbrämt (»Gottesstaat«).
So ganz vermag ich Deiner Aussage, dass es unerheblich ist, ob etwas Besitz oder Eigentum ist, nicht zu folgen: Für denjenigen, der sich über ein Stück Land beugt und es bewirtschaftet ist sehr wohl relevant, ob seine Erträge irgendwann zu festen Preisen verkauft werden (damit wäre bspw. die Qualität zweitrangig) oder ob er mit der Ernte frei agieren kann (weil sein Land sein Besitz ist). Der Kommunismus ist u. a. daran gescheitert, dass Leistungsanreize schon im Keim erstickt wurden. Das er sich so lange gehalten hat, ist dennoch nicht ungewöhnlich: Eine »Grundversorgung« war unter bestimmten Bedingungen (der politischen Angepasstheit bspw.) unabhängig von der Leistung garantiert. Ich habe neulich einen Beitrag aus Nordkorea gesehen. Dort hat man bei ab und zu experimentiert und Menschen ein kleines Stück Land zur eigenen Bewirtschaftung zur Verfügung gestellt. Das Ergebnis war, dass in diesen Regionen die Lebensmittelknappheit, die fast permanent in diesem Land virulent ist, zurückging. Und dies, obwohl es sich »nur« um Besitz handelte!
@Gregor
Besitz oder Eigentum
Da habe ich mich wohl schlecht ausgedrückt. Ich wollte sagen, dass er damit nichts Neues gefunden hat, seine phänomenologische Beschreibung ist die des Unterschieds zwischen Feudalismus und Kapitalismus. Eine „Marktwirtschaft“ gab es in beiden. In der vorkapitalistischen Ära wurden dort Waren gehandelt, im Kapitalismus kommen als entscheidende Triebkräfte das Kapital und die Arbeitskraft hinzu. Derjenige der nur letzteres besitzt, muss sich selbst verkaufen, ist zwar juristisch frei, kann diesen „Sachzwängen“ aber nicht entgehen. Der Kapitalbesitzer verleiht die Möglichkeit etwas zu produzieren und fordert einen Zins dafür.
Das ist genau Heinsohns Unterschied: Besitz benutzt man selbst, Eigentum kann man gegen Zinsen verleihen, der Zins ist die wieder zu Geld geronnene Arbeitskraft des Leihenden. Gesellschaften nach diesem Strickmuster sind dynamischer als alle vorhergehenden, weil man jetzt einen objektiven Maßstab für die Wertschöpfung hat – es ist der Zinssatz, den man für alles und jeden bestimmen kann. Das Kapital strebt immer zu dessen Maximum, das ist der Grund für das exponentielle Wachstum kapitalistischer Gesellschaften. Heinsohns Irrtum besteht vielleicht darin (ich kenne das Buch ja nicht), dass er glaubt, allein der Übergang von „Besitz“ zu „Eigentum“ allein würde die Gesellschaft zum Besseren wenden. Es bedarf aber eines die Ökonomie regulierenden politischen Überbaus, dieser entsteht erst in einem zweiten Schritt, wenn man durch den Manchester-/Raubtierkapitalismus durch ist.
China
Das demografische Problem Chinas wird größer als das des Westens werden. Es gibt nämlich dort überhaupt kein staatliches Rentensystem. Die Alten wurden bisher (im Sinne Konfuzius) von ihren Kindern ernährt. Die Einkindpolitik hat dieses System zerstört, aber kein neues an dessen Stelle gesetzt. China generiert sein hohes Wachstum heute dadurch, dass es weder für die Altersvorsorge noch für den Umweltschutz sorgt, die Chinesen verkonsumieren heute die Zinsen ihrer Zukunft. Dieser Umgang mit den eigenen Menschen hat in China Tradition, es gibt ein Buch einer Exilchinesin (den Namen habe ich vergessen), die berechnet hat, dass Mao mehr Leute auf dem Gewissen hat als Hitler und Stalin zusammen.
@Köppnick
Kapitalismus
Deine Darstellung des Zinsmodells entspricht genau dem, was im Buch gemeint ist. Mein Zitat ist – was das ökonomosche Argument Heinsohns angeht – ziemlich vollständig; später wird noch einmal am Rande der Gedanke gestreift.
Es ist nicht so, dass Heinsohn der Übergang von Besitz zu Eigentum alleine ausreicht, um die Verhältnisse in der (sogenannten) Dritten Welt zu ändern. Es ist aber das einzige »Argument« überhaupt, was von ihm in diese Richtung geht. Das ist ja auch einer meiner Kritikpunkte am Buch: es gibt keine »Auswege« – aber vielleicht liegt es daran, dass es nicht Aufgabe des Buches sein soll, diese zu benennen.
Was Heinsohn vermutlich wirklich glaubt, ist, dass eine Eigentumsgesellschaft sozusagen parallel auch eine soziopolitisch stabile Infrastruktur schafft, die zu mehr Rechtssicherheit und damit zu mehr Prosperität führt. Was diese Staaten brauchen ist dann keine staatliche Gängelung (das haben / hatten sie genug), sondern ein freies Spiel auf den Weltmärkten. Zu welchen Verwerfungen das allerdings führt, sehen wir am Beispiel Chinas bzw. der Reaktionen der multinationalen Konzerne darauf.
China
Ich vermute Du meinst dieses Buch hier. Neulich lief eine Knopp-Doku im ZDF, in der die These von den 70 Millionen Toten bestätigt wurde.
Ich finde, solche Zahlenakrobatik macht wenig Sinn. Wenn man schon Massenmörder rubrizieren will (Heinsohn ist ja auch Völkermordforscher!), dann könnte man dies auch an dem Prozentsatz der eigenen Bevölkerung festmachen, die man umgebracht hat. Dann wäre m. E. Pol Pot blutrünstiger als Mao und Stalin.
Hm, nur sone Anmerkung
Hat sich Heinsohn seine Theorie wirklich genau überlegt?
http://www.beepworld.de/memberdateien/members/shual/demogra.html
Es kommt noch etwas hinzu. Heinsohn hätte wissen sollen, das die israelisch-jüdische Gesellschaft nicht nur 2004 seine Grenze zur potentiellen »expansiven-aggressiven« Gesellschaft überschreiten würde [hübsche Abwechlung zum Zionismus], sondern das die israelische Gesellschaft auch im Gegensatz zu Deutschland zB eine demographische Besonderheit aufweißt. Die Flüchtlinge nach dem Weltkrieg ... in Deutschland liegt der Anteil der 65+ bei 20%. In Israel bei nur 11,5%. Bis sich die demographische Situation in Israel in 15 Jahren »normalisiert« hat wird der Anteil der für »Heinsohn relevanten« Gruppe unter 15 weit über 30% liegen.
Aber vielleicht schreibt er ja darüber ein zweites Buch. Part II. »Warum Israel einfach anders ist als andere.«
Ich vermute stark,
dass sich Heinsohn seine These sehr gut »überlegt« hat.
Es ist ja auch keineswegs so, dass er einem Automatismus das Wort redet, d. h. eine Gesellschaft, die ihren youth bulge von beispielsweise 24,8% auf 25,3% »steigert«, wird dadurch nicht automatisch »aggressiv«. Im direkten Vergleich mit den Palästinensern, die einen youth bulge von 47% aufweisen, interessiert vor allem die Proportion.
Vielleicht erläutern Sie mir einmal genau, was sie mit der Bemerkung der Flüchtlinge nach dem Weltkrieg in Bezug zu Israel meinen. Und warum er ein Buch mit einem zweiten Teil schreiben sollte.
Hallo Herr Keuschnig,
ich habe nichts von »Automatismus« geschrieben, ich halte mich an die »Kernthese« die eine »Gefahr« beschwört. Aus naheliegenden Gründen muß ich die Anwendung der These auf das Land Israel strikt ablehnen. Insofern halte ich die These für unnütz und überzogen, da sie keine allgmeine Gültigkeit besitzt. Ich werde meine Hauptkritikpunkte anhand der Seite 34 hier nun kurz darlegen [warum er noch ein zweites Buch schreiben sollte.]
Vorab: Die Bemerkung über die Flüchtlinge sollen nur auf die Tatsache hinweisen das Heinsohns Theorie Vertreibungen niemals vorausberechnen kann. Sie sind ein Unsicherheitsfaktor. Nehmen Sie als anderes Beispiel die Situation in Syrien/Jordanien bezüglich der irakischen Flüchtlinge. Diese Migranten erzeugen sehr oft ein neues demographisches Bild, von den sozialen Verwerfungen oder auch positiven Aspekten mal ganz abgesehen. Niemand kann 2001 die konkreten Auswirkungen für das Jahr 2020 anhand fixer demographischer Konstanten in den jewiligen Ländern vorhersagen, da man 2001 nicht prognostizieren kann welche Folgen ein potentieller Einmarsch der Amerikaner 2003 haben wird.
Die Bemerkung zu Israel zeigt auch das es demographische Abweichungen von der Norm gibt, die eben ihr Eigenleben entwickeln. Ich kann aufgrund der Daten des CBS prognostizieren das im Jahr 2020 in Israel der Anteil der Kinder unter 15 bei 33% liegt. Ich kann aber die These Heinsohns nicht anwenden. Aber jeder daher gelaufene Antisemit kann es. Die brauchen immer etwas länger, aber eines Tages wird diese These Heinsohns zum Standardrepertoir antisemitischer Aktivisten gehören. Ich habe noch nicht in Amerika sondiert, vielleicht ist es dort schon soweit. Ein Bärendienst!
Dabei versucht Heinsohn mit in meinen Augen propagandistischen Mitteln eine „Kontinuität der jüdischen Unterlegenheit gegenüber der arabischen-islamischen Mehrheit“ zu produzieren.
Erstens ist die Verwendung von Aussagen zB „Arafats“ zum Beleg ein Offenbarungseid für einen angesehenen Wissenschaftler. Arafat war „Bauingenieur“ und kein Soziologe. Warum im Buch nicht strikt auf vorhandenes arabisches wissenschaftliches Material zurück gegriffen wird ist mir schon klar: Das ist Heinsohn zu „einseitig“.
Zweitens ist das Buch unglaublich schlecht Korrektur gelesen. Schaun Sie auf Seite 34: »zum David geworden«. »David« symbolisiert niemals Unterlegenheit, sondern den Sieg des scheinbar Unterlegenen über das scheinbar Überlegene. „Der wesentliche Aspekt liegt in dieser Geschichte auf dem Verzicht auf Gewalt (im damals landläufigen Sinn), seine Ersetzung durch Gewitztheit und Mut, welcher auch den Mut zum eigenen Untergang einschließt. Letzteres war – nach allen realistischen Maßstäben – die Ausgangsposition Davids.“ [Zitat einer Bekannten]. Es ist eigentlich müßig solche intelektuellen Spielchen zu kommentieren. Israel ist ein staat mit Wirtschaftskraft, Atomwaffen, Merkavas und F16s, führt präventive Militäraktionen durch, etc... Tut mir Leid, veralbern kann ich mich alleine. Und wenn ich die These incl. Atomwaffen anwende bin ich sofort bei der „Gefahr des Orthodoxen-Staats“, der in seinen Grundzügen dem heutigen Iran ähneln könnte.
Drittens [Ich bin noch auf Seite 34]: Zahlen sind in politischen Büchern IMMER den Begriffen übergeordnet. Zahlen sprechen klar Sprache. 3–1. Punkt. Da weiß jeder Bescheid und die Empathie zersetzend auflösenden Wortschöpfungen wie »Kinder in der Flüchtlingsdiaspora« tun ihr Übriges. Der Haken: Die Zahlen 600Tsd für Israel ist getürkt. Die Wahrheit: Es waren beits 2002 700Tsd isralische »Davide«. Das Problem der Zahlgleichheit, die obige Kontiuität des Verhältnisses Juden-Moslems im Betrachter auflösen könnte [700–750] wird von Heinsohn mit dem ältesten Trick der Welt gelöst. Er lügt. [600–750] »Der wissenschaftliche Mitarbeiter hat die Zahlen verwechselt!« Sie können meine Daten jederzeit auf der Webseite der CBS nachprüfen. Wundert mich nur warum das ein Wissenschaftlerstab nicht schafft.
Fazit für mich: Es gibt keinen Zweifel an der Problematik die der „youth bulge“ mit sich bringt. Zumindest im Bereich „Naher Osten“ ist das vorgelegte Buch ein reines Sammelsurium an althergebrachtem apolitischem Propagandamaterial. Es besitzt keine Qualität und ist angesichts der Realität vornehmlich in Israel vollständig abzulehnen. BITTE NOCHMAL. Der erste Versuch war nix.
Gruß, Shual
Ihre Kritik geht an der Substanz vorbei
Heinsohn Antisemitismus zu unterstellen bzw. das Buch und die These als »Steinbruch« für Antisemiten zu betrachten ist ein derartiger Unsinn, dass man ihn nicht weiter kommentieren muss.
Im Buch gibt es nur ein Zitat von Arafat (auf Seite 33) – dieses wird belegt. Warum dies ein »Armutszeugnis« sein soll, erschliesst sich mir nicht. Arafat wird auch nirgendwo als Soziologe bezeichnet. Er kommt in Heinsohns Betrachtungen übrigens sehr schlecht weg; also absolut kein Grund, ihm Einseitigkeit vorzuwerfen.
Heinsohns Buch ist in einem bestimmten Ton verfasst. Man könnte diesen Ton sarkastisch-ironisch nennen. Das ist nicht jedermanns Geschmack, das mag sein.
Ihre teilweise kleinkarierten Anmerkungen tragen dem Buch und der entwickelten These in keiner Weise Rechnung. Kritik an seiner These kann man sicherlich üben, aber nicht mir Rekursen auf bestimmte Metaphern oder Bilder, die eher nebensächlich sind.
Heinsohn erhebt nicht den Anspruch, seine These berücksichtige alle Imponderabilien, die beispielsweise durch kriegerische Aktionen hervorgerufen werden (sie nannten die Flüchtlingsproblematik). Die von Ihnen zum Staat Israel gemachten Angaben sind andere, als die, die Heinsohn vorlegt – man wird sehen, wie es sich wirklich entwickelt.
Die youth bulge-»Problematik« trifft vermutlich gerade auf den Nahen Osten zu, da hier auch noch andere von Heinsohn genannten Faktoren zusammenspielen (eben nicht nur die Kinder-/Jugendquote). An seinen Zahlen und seinem Material ist nichts althergebrachtes apolitisches Propagandamaterial. Dieser Vorwurf – mit Verlaub – trifft eher auf ihre Argumentation zu.
Vielleicht notwendige Anmerkung
„Gefahr des Orthodoxen-Staats“. Bitte beachten Sie hierbei das in Israel im jüdischen Gesellschaftsbereich die Geburtenraten zwischen säkular-Mitte/Links und ultra-Orthodox/Mitte-Rechts stark divergieren. Ebenso natürlich die Erziehung. Bitte beachten Sie hierbei auch das bereits vorhandene Wählerpotential entsprechender Parteien.
Hallo Herr Keuschnig
Es war mir schon vorher klar, das von hier eine schlichte »verteidigende« Reaktion erwartbar ist, die mit meinem Text nicht umgehen wird.
Deshalb habe ich zuvor eine fähige Contra-Position zu meinem Text hierher eingeladen und wenn Sie erlauben nutzen wir [nicht lange] ihren Webspace zu einer kleinen Unterhaltung. Mal sehn ob er kommt.
Bitte bewerten Sie am Ende nochmal. Wenn Sie nicht wollen, machen wirs selbstverständlich »anderswo«.
Platzsparend
@Shual – Sorry
ich antworte auf Links, die mir keine Rückantwort erlauben, grundsätzlich nicht; diese Art von Kommunikation ist mir ein bisschen zu einseitig. Ich habe aufgehört Ihren Text zu lesen, als ich von Ihrer »Medienberaterin« las. Das ist mir zu verschmockt.
Ich behalte mir vor, Ihren letzten Kommentar v. 16.1., 19:08 Uhr, zu löschen.
Selbstverständlich
»Medienberaterin«, ja die ist eben so. Harmoniesüchtig. Ich sage ihr immer wieder das es nichts bringt, aber ich muß ihr den Gefallen tun.
Ihre offensichtlichen Probleme mit konstruierenden Texten kann sicher nicht durch Ignoranz und »LöschdenBeitrag«-Reflexen kompensiert werden.
Sie warten auf ein gutes Buch.Und sie bekommen nur einseitigen Mist präsentiert. Ich verstehe ihre Wut, aber deswegen muß man doch nicht gleich auf kleinen Füchsen rumtrampeln. Sie befinden sich hier [ich bin wohl der Erste der das Ihnen sagt] in einem virtuellen Raum. Hier sind die Gesetzmäßigkeiten ihres realen Lebens vollkommen belanglos. Ich empfehle Ihnen [das]
Ein grandioser Bildband. Schicken Sie mir bitte [das ist Ernst] auf shadowbox587@hotmail.com Ihre Adresse. Ich schenke Ihnen den Bildband. Und wenn sie mir nicht trauen, kaufen Sie sich ihn bitte selbst.
Dialektik der Abklärung: Wer ist Gunnar Heinsohn?
Dialektik der Abklärung:
Umrisse einer neuen Sicht auf den Auf- und Untergang des Abendlandes – oder:
Wer ist eigentlich Gunnar Heinsohn ?
Gunnar Heinsohn hat bereits 1984 und 1987 in zwei paradigmatischen Aufsätzen zwei fundamentale Fragen gestellt, die die geistige Situation unserer Zeit noch immer nicht losgelassen hat. Beide Fragen, gestellt schon vor der epochalen Zäsur der Rückabwicklung der großen sozialistischen Oktoberrevolution im Osten Europas, nämlich »Wer will denn überhaupt Sozialismus?“ (1984) und »Hat Aufklärung überhaupt schon begonnen?« (1987) stoßen in das Zentrum der Diskussion, wie sich Emanzipation nach dem großen Scheitern des angeblich emanzipatorischen Projekts marxistischer Provenienz neu denken lässt.
Es geht daher nochmals! um Postmoderne, die Aufklärung, ihre Dekonstruktion, ja Depotenzierung, um die Ein- und Rückholung ihres metaphysischen Überschusses und letztlich ihre Rehabilitierung und (Wieder-)Einsetzung !
Zurück hin zu Kant und zur Wissenschaft, und über die zur Praxis – richtig, eine bekannte Figur: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern: falsch, denn mit Odo Marquard heißt es, von Marx und den Folgen, dokumentiert im Schwarzbuch des Kommunismus und des Weltbürgerkrieges, kommend, schon eher richtig: Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert, es kömmt drauf an, sie zu verschonen!
Ja, aber was, wenn es denn hieße, es kommt schlicht drauf an, sie nur richtig zu sehen ? die Welt richtig sehen und begreifen, also wissen, was war und ist ?
Es wird also eine Art zivilisatorisch motivierte Revue geschrieben werden (müssen), um zum Ziel zu kommen, das dem von Sloterdijk´s Sphären am Ende entspricht:
„Der Satz „Gott bist tot“ wird als die gute Nachricht der Gegenwart bestätigt. Man könnte ihn auch umformulieren: Die Eine Kugel ist implodiert, nun gut – die Schäume leben. Sind die Mechanismen der Vereinnahmung durch simplifizierende Globen und imperiale Totalisierungen durchschaut, liefert das gerade nicht den Grund, warum wir alles hinwerfen sollten, was als groß, beflügelnd und wertvoll galt. Den schädlichen Gott des Konsensus tot sagen heißt bekennen, mit welchen Energien die Arbeit wieder aufgenommen wird – es können keine anderen sein als jene, die in der metaphysischen Hyperbel gebunden waren. Hat eine große Übertreibung ausgedient, erheben sich Schwärme von diskreteren Aufschwüngen.“
Nur, dass auch mit einer weiteren Spielart der Metaphysik, die Karl Löwith in „Von Hegel zu Nietzsche“ schon lange am Wirken sah, gleich mit aufzuräumen ist und dies gründlich ! Denn darin liegt das Manko der bisherigen anderen Bemühungen auch der eher linken Provenienz. Es ist nicht so, dass das Ende der Staatssozialismen auch den Sozialismus aus den Köpfen der Menschen vertrieben hätte. Der spukt irgendwie als Möglichkeitsfeld, das zum Wohlsein des Menschen zu denken und vielleicht auch noch zu erkämpfen anzustreben wäre, noch immer durch die Köpfe. Nicht er ist diskreditiert, sondern, so die meisten Menschen, die Menschen, die ihn machten. Er sei besser als die Menschen, die an ihm als Menschen scheitern.
Nach Überwindung des metaphysischen Überschusses, der ganz unterschiedlich daher kommt, Sloterdijk ist wie auch Heidegger dabei der eine diskursiv-narrativ-phiosophische Weg, kommt die aus der Bahn geworfene Aufklärung am Ende wieder auf Spur.
Denken erzeugt Realitäten, und neue Realitäten erzeugen neue mögliche Denk-Möglichkeitsfenster; es gilt, auch das Ungeheure zu denken, ja denken zu können !
Was also ansteht ist, Geschichte, Philosophie und ökonomische Theorie, in einer Kombination neu zu strukturieren bzw. zu e i n e r Lektüre zu vereinen, denn; Die Kritik der politischen Ökonomie – immerhin Grundlage des dann einsetzenden roten Terrors und seiner das 20. Jahrhundert bestimmende Jahrhundert der weltkriegsentfachenden Ideologien – war der große Fehler. Sie konnte nicht stimmen, genauso wenig, was daraus folgen sollte, weil das, was von Marx kritisiert werden sollte, schon da selbst falsch war.
Es geht nicht um die Rücknahme des Projekts der Aufklärung als Projekt der Moderne, sondern um dessen Abrüstung. Das Programm der klassischen Aufklärung ist doch letztlich: Gott ist tot, es lebe der Mensch, der Mensch nimmt die Geschichte selbst in die Hand: mehr oder weniger implizit formuliert mit dem Forschungsprogramm der bürgerlichen Aufklärung, der “Natural History of Society“ der schottischen Moralphilosophen, zu denen auch Adam Smith gehörte: woraus auch zu sehen ist, vorher die normativen Grundlagen der politischen Ökonomie als Wissenschaft kommen: der liberale Grundgedanke, wer ein sich selbst glaubt, und danach handelt, indem er seine Interessen vertritt, handelt zum Wohle aller Gesellschaftsmitglieder, quasi per »invisible hand« ist doch genau der aufklärerischen Utopie geschuldet, die bürgerliche Welt werde sich schon als Krone der Zivilisation durchsetzen.
Die Natural History ist als Theorie des stufenweise sozialen Fortschritts von der Ur- Gesellschaft, wie sie den Theoretikern über Fernreisen der Epoche protokolliert wurden bis hin zur »commercial« oder »polished« society (Adam Ferguson) ein Forschungsprogramm in emanzipatorische Absicht. Zwar ist sie nicht durchwegs teleologisch zum „Heil angelegt, so aber doch zur bürgerlichen Gesellschaft, die dann per kommunikatives Handeln zu sich selbst kommt. Nun ist es aber so, dass die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft nicht gleich auch eine zum Wohlstand aller ist und der Markt nicht der große Vermittler, als der er gedacht wurde. Es geht in der bürgerlichen Gesellschaft nicht um Waren und Warentausch, sondern ums Geld.
Daher hat Marx den Kapitalfetisch so betont und gezeigt, dass Geld eine entscheidende Rolle im Wirtschaftsablauf hat: G‑W-G´: da ist er über die Klassiker Smith und Ricardo hinausgegangen, ohne aber im Kuhnschen Sinne eine wissenschaftliche Revolution, wie sie erst der Keynesianismus gebracht hat, zu vollziehen: er ist Klassiker geblieben, da er seine Kritik auf dem Boden der klassischen politischen Ökonomie übertrieb und kein wirklich alternatives Paradigma entgegenhielt.
So wie auch schon der bürgerliche Materialismus der Schotten die Arbeit als Vermittlung zwischen Mensch und Natur ins Zentrum der Dialektik des Fortschritts über die Arbeitsteilung und das Ausdifferenzieren der Bedürfnisse rückten, bleibt Marx bei diesem Paradigma (Deutsche Ideologie) und hebt es mit Hegel über sich hinaus: der Hegelianer Marx, wie Klaus Hartmann 1969 deutlich gemacht hat, will Philosophie praktisch verwirklichen: das geht nur mit der Überwindung von nur – Philosophie, dem Studium der konkreten Bedingungen der Menschen in der Absicht, den stummen Zwang der Verhältnisse unter bewusste Kontrolle zu bringen.
Jene Dialektik mit ihrer Logik des Widerspruchs ist das Prinzip, das er auch in der Welt am Werke sieht: oder, wie E.M. Lange es 1980 ausdrückt: aus Hegels „Arbeit der Weltgeschichte« wird Marxens »Weltgeschichte der Arbeit«: Marxens Errungenschaft besteht denn auch nach seinen eigenen Worten darin, die Dichotomie von konkreter und abstrakter Arbeit wissenschaftlich entdeckt zu haben: und damit die Dichotomie von Gebrauchs- und Tauschwert nochmals in einem Grundwiderspruch fundiert zu haben: diese Widerspruchsdialektik, die nach Auflösung strebt, ist das Prinzip, mit dem das Apriori der Durchgängigkeit des Kapitalismus und seine Notwendigkeit theoretisch stringent nachgewiesen werden kann: formal korrekt, aber auf Prämissen beruhend, die normativ sind.
Oder deutlicher: Marx stellt den Fortschrittsoptimismus der bürgerlichen Aufklärung nicht infrage, sondern steht auf dem Gipfel des narzisstischen Gedankens, der Mensch könne Gott ersetzen: es ist dieser Punkt, bei dem abgerüstet werden muss, es ist der Überschuss, diese Überforderung der Gattung: Nicht Gott ist mehr das idealisierte Spiegelbild, die Rettungsinstanz für die Defizienz des schwachen Menschen, wie Feuerbach richtig gesehen hatte, Gott wird säkularisiert zur Gattungsvernunft, womit wieder eine Überforderung betrieben wird.
Diese kommt zu sich selbst, wird praktisch, wenn nach der Überwindung des Privateigentums der neue Mensch seine Verhältnisse bewusst regelt: das ist, was Marx zeigen will, warum er Kritik der politischen Ökonomie betreibt, und dabei zu der überschwänglichsten Apotheose des Unternehmerkapitalisten und des Kapitalismus als solchen (Manifest !) kommt, apologetischer als die Schotten vor ihm, dennoch, aufgrund der Widerspruchsdialektik zu einer höheren Zivilisationsstufe fähig, wenn dazu reif, abzudanken.
Die Aufklärungsidee des Bürgertums wird nur um eins verschoben. Marx hat den Aufklärungsgedanken zu Ende geführt und radikalisiert, nicht infrage gestellt: wie konnte er es auch: der Materialist Marx war der größte deutsche Idealist im Grunde seines Herzens und Denkens: aus einem metaphysischen Grundverlangen überschüssig gespeist.
Die Synthese aus britischer Arbeitswertlehre und den Linkshegelianern Moses Hess und Feuerbach war genial, theoriegeschichtlich quasi unvermeidlich, daher objektiv in der Luft, aber deshalb noch lange nicht wahr im emphatischen Sinne, oder gerade doch wahr eben in diesem Sinne, aber nicht richtig.
In seiner Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens hat Jochen Kittsteiner in seiner Dissertation „Naturabsicht und Unsichtbare Hand“ das grundlegende Fazit gezogen:
»Um dem geschichtsphilosophischen Denken vollends zu entkommen, sind noch weitere Stufen der „Entmystifizierung“ über die Marxschen hinaus notwendig…) erst dann kann Geschichte begriffen werden; als ein fremder Prozess, der in das individuelle Leben ein-schneidet, der nicht zum allegorischen Ausdruck eines geheimen Sinns gemacht werden kann und der nicht Bündnispartner für irgend jemanden ist. Was dann noch an bescheidenen humanen Zielsetzungen übrig bleibt, muss gegen die Geschichte erkämpft werden. Schlägt man sich die Vorstellung aus dem Kopf, ihres Inhalts losen Prozesses irgendwann Herr werden zu können, so kommt es auch nicht mehr darauf an, sie durch „gesellschaftliche Praxis“ auf einen imaginären Zustand zu bringen, sondern man muss nach neuen Bestimmungen suchen, was es heißen kann, ein Lebewesen zu sein, dass seiner nicht Machbaren Geschichte nicht entrinnt.“
Das klingt nun sehr resignativ. Dennoch setzt an diesem Punkte nach-metaphysisches Denken an. Doch was bei Kittsteiner im Grunde Fazit ist, bleibt bis heute forschungsstrategisches Postulat: nämlich zu zeigen, warum Marx « der Versuchung nachgibt, der im Prozess der Kapitalakkumulation zunächst entqualifizierten Bewegung eine immanente Dialektik zuzuschreiben, die sie, begründet nur durch den revolutionären Erwartungshorizont einer Verknüpfung von ökonomischer Krise und Aktion des Proletariats, doch wiederum in den sicheren Hafen einer humanen Kontrolle einmünden lässt“.
Es ist eben nicht nur die Erwartungshaltung, sondern die über Hegels Widerspruchsdialektik gewonnene normative geschichtsphilosophischen Prämisse bei Marx, die ihn dazu zwingt, seine Ökonomiekritik paradigmatisch so anzulegen, dass der Widerspruch in mehreren Stufen zum vor-gedachten, theoretisch einzulösenden Ergebnis, nämlich Sozialismus, kommt.
Der Kapitalismus ist bei ihm theoretisch so angelegt, dass er überwindbar ist – unabhängig von der empirischen Welt: es ist die normative Grundlage der Marx´schen Theorie, die aus obiger Prämissen folgt, und dann, in der Theoriegeschichte des Marxismus zum Dogma wird: und dann eine ganze Serie von Marxisten dazu zwingt, im Hypothesenschutzgürtel (Lákatos) jeden Nichteintreten des erwünschten Resultat irgendwie zu begründen, ohne selbst den harten Kern anzutasten: was bei Marx mit seiner Kritik des Gothaer Programms selbst seinen Anfang hat. Es kann also nicht darum gehen, aus der Empirie, die uns keinen Sozialismus beschert hat, Marx zu widerlegen, sondern aus den theorieimmanenten Prämissen den Punkt herauszuarbeiten, der das Theoriegebäude konstituiert, das denn auch logisch stringent aufgebaut ist.
Dass dort der wunde Punkt liegt, wussten auch die kritischen Theoretiker: womit ich zu Adorno und Horkheimer komme, wie im Angesicht der Barbarei gleichsam notwendig sich richten mussten gegen den „säkularisierten Messianismus“ (Horkheimer) , als der sich ihnen der Marxismus entpuppte,“ eine Art Ersatzchristentum (aus dessen Ansatz) alle theoretischen Fehler (resultieren)“, wie Horkheimer, so von Pollock in den „Spänen“ festgehalten, formulierte:
„Es ging um die Vergottung der Geschichte, auch bei den atheistischen Hegelianern Marx und Engels. Der Primat der Ökonomie sollen mit historischer Stringenz das glückliche Ende als ihr immanent begründen“, so Adorno an entscheidender Stelle der Negativen Dialektik und wendet sich mit seiner Kritik gegen die Vernunftkonzeption der Aufklärung an sich: denn „keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität (Natural History bis Bürgertum, dann Sozialismus bei Marx, F.H.), sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe.“ So Recht Adorno mit seiner Marxkritik da hat, so folgt daraus aber keineswegs die globale Verteufelung der Geschichte, wie er sie mit seiner „ negativen Anthropologie“ betreibt.
Der Zweifel Adornos in der Einleitung zu seiner Negativen Dialektik, vielleicht langte die Interpretation nicht zu, die den praktischen Übergang verhieß“ muss radikalisierte werden auf die Frage(Fest-)stellung, ob: dass die Interpretation versagte, weil sie den Übergang verheißen musste, da sie ja dazu angelegt war ! Das trifft Horkheimer: „Zu den großartigen Leistungen von Marx zählt, dass er den verzweifelten Menschen (und sich selbst. F.H.) die Überzeugung gab, dass dieses Ziel nicht nur erreichbar sei, sondern „ wissenschaftlichen als geschichtlich notwendig nachgewiesen werden könnte.“ (GW 12).
Daher ergibt sich das Postulat einer, nicht mehr, wie in den 70er Jahren (letztlich apologetischen) Rekonstruktion der Marxschen Theorie, sondern eine kritische Rekonstruktion im Sinne kritischer, das heißt positiver Überwindung und eben nicht ideologiegeleiteter Destruktion, was bei Hartmann und – ohne es so explizit zu formulieren, ‑Lange zum großen Teil analytisch durchgeführt wurde.
Das hat die kritische Theorie nicht geleistet, sie hat immer auf dem marxschen Fundament argumentiert, ohne aber die Grundlagen selbst zu hinterfragen. Wo sie, wie hier oben, das tut, wird es zumindest bei Adorno umgekehrt: was bei dem einen zum Himmel auf Erden, wird bei dem andern zur Hölle auf Erden. Abrüstung bedeutet hier nun, die Kontingenz des Geschichtsprozesses zu begreifen und damit eine gelassenere Haltung – was nicht heißt, und da begegne ich gleich dem möglichen Vorwurf des Zynismus, passiv sich demgegenüber zu verhalten, einzunehmen, sowie das Horkheimer am Ende auch tat: mit dem dazu gehörigen Zug der Trauer.
Auf der Ebene der Moderne-Postmoderne-Debatte ergibt sich nach der Zäsur von 1989:
Am Ende jener steht die Erkenntnis, dass es die von der Geschichtsphilosophie motivierte, teleologisch nach vorne oder deterministisch gelenkte Entwicklungslogik nicht gibt, die im „esse per se ipse subsistens“ ruht, vom Weltgeist getragen wird, in der klassenlosen Heilsgesellschaft oder in der kommunikativen Reziprozität vernünftig Handelnder die Vorgeschichte beschließende Gemeinschaft endet.
Eine Dialektik der Abklärung wäre Philosophiegeschichte als Theoriegeschichte einer Depotenzierung: das Naturrecht zuerst mit dann ohne den über allem stehenden Schöpfer, der aufklärerische Rationalismus gibt die Beherrschbarkeit der Welt zum Besten, Hegel depotenziert die positive Religion, Feuerbach das religiöse Verlangen, Marx den philosophischen Idealismus, die kritische Theorie den zur Religion erstarrten Marxismus, Habermas depotenziert die kritische Theorie….
Nicht das unvollendete Projekt der Aufklärung als Habermas´sches Projekt der Moderne ist das Problem, sondern die unvollendete Aufklärung im Sinne von schlicht mangelnder Einsicht und Wissen, was Gemeinschaft, Herrschaft und Gesellschaft ist, die nach der Dialektik der Abklärung erst neu verstanden werden können:
Entscheidend ist die Notwendigkeit der Aufgabe des Evolutionspostulats: es gibt Strukturbrüche in der Universalgeschichte. Das kann erst erkannt und wirklich begriffen werden, wenn keine evolutionäre Kräfte mehr für die e i n e große Theorie gebraucht werden.
Jetzt heißt es zu fragen: was ist und woher kommt Geld, was ist Zins, wie kommt das Privateigentum in die Welt, ohne a priori zu bestimmen: Ware ist Arbeit ist Geld ist Kapital…, weil die Kategorien jeweils so sein müssen wie sie eingeführt werden.
Wenn also abgeklärt wird, dass die klassische Ökonomie und darauf fußend auch die Marx´sche Kritik daran aufgrund ihrer normativen Prämissen wesentliche Einsichten in die Funktionsbedingungen verstellt haben, so heißt dies, dass wir erst heute über ein analytisches Instrumentarium verfügen, welches uns erlaubt, den Wirtschaftsprozess und damit Gesellschaft zu verstehen. Hier setzt die Eigentumsökonomik von Gunnar Heinsohn und Otto Steiger historisch ein:
Was Peter Sloterdijk in seiner essayistischen Eleganz phänomenologisch mit seinem Begriff der Kinetik beschreibt, ergibt sich bei Heinsohn systematisch aus der Eigentumsökonomik mit der ihr inhärenten Dynamik, die alle Phänomene hervorbringt, die die anderen phänomenologisch bloß erfassen: die Mobilmachung der Beschleunigungsträger Sloterdijk´s ergibt sich aus dem permanenten Innovationszwang, Schuldendeckungsmittel, also geliehenes Geld samt Zins zu erwirtschaften.
War Moderne dadurch gekennzeichnet, dass die Aufklärung angetreten war, den Menschen als Lenker und Beweger seiner Welt zu sich selbst kommen zu lassen, ohne sich in seiner Begrenztheit eingedenk zu sein, Moderne also das tätige Projekt der Verwirklichung dieses Anspruchs, so könnte man es als „postmodernes Wissen“ bezeichnen, dass dieser Anspruch überschüssig war und der Surplus an Anspruch folglich zurückzunehmen ist:
Postmoderne ist heute insofern eine Suchbewegung im Sinne Albrecht Wellmers (Coda), als Aufklärung sich ohne Metaphysik neu zu reflektieren hat. Postmodern ist der Impuls, doch das Neue anzusetzen, aber nicht gegen die Vernunft, sondern mit einer auf ihr heilsames Maß zurückgeschraubten, abgeklärten, realistischen Vernunft, der bewusst geworden ist, dass die Erde weder Paradies noch Hölle, sondern nur ein kurzfristig zu bewohnender Hort ist, ohne uns Heimat zu werden im Bloch´schen Sinn: wobei dann möglicherweise doch die Metaphysik in der Seinsfrage nach einer Heidergger´schen Version relevant würde, sich nach einer Heidegger´schen Linken akut würde. Die Wahrheit der Metaphysik liegt in ihrem Bedürfnis – eben weil der Hort nur Hort bleibt. Akzeptierte man das aber unhintergehbar, die vielleicht wird er dann doch zu wohnlichen Heimstätte ?
Die entscheidende Gewissheit, von der wir heute wohl alle ausgehen können, scheint die zu sein, dass wir keiner e i n e n g r o ß e n Erzählung mehr glauben können. Die große Erzählung vom Urmenschen mit der Keule, der sich entwicklungsgeschichtlich hoch und durcharbeitet zum Anzug tragenden Bewohner einer europäischen Metropole kann getrost als Mär ad acta gelegt werden. Der große Mythos der Evolution beziehungsweise der evolutionären Lehre von der Entwicklung des Lebens und der Arten, welche am Beginn des sozialwissenschaftlichen Denkens auch auf die Theorie der sozialen Evolution der Menschheitsgeschichte übertragen wurde gerät zum Menetekel europäischen Fortschritts-denkens, das im wesentlichen unser wissenschaftliches Bild noch heute prägt.
Wer neu nachdenken will, muss genau hier ansetzen. Gunnar Heinsohn hat denn auch in seinen verschiedenen Studien zur Zivilisationstheorie die drei oben genannten Formen des Zusammenlebens von Menschen auf den Begriff gebracht:
• Stammesgesellschaft, die auf Reziprozität beruht mit der neuen soziologischen Überschrift: Gemeinschaft
• Feudalismus mit seinen historischen Erscheinungen als antiker Priester-Feudalismus, dem mittelalterlichen Feudalismus und der modernen Variante des Sozialismus, mit der neuen soziologischen Überschrift: Herrschaft
• Die Privateigentumsgesellschaft in ihrer antiken kaufsklavenkapitalistischen und ihrer neuzeitlichen Variante mit freien Lohnarbeitern mit der neuen soziologischen Überschrift: Gesellschaft.
Diese Neuaufteilung der Soziohistorie in Gemeinschaft, Herrschaft und Gesellschaft bedeutet im Kern, dass diese drei Formationen nacheinander aber auch nebeneinander bestanden haben oder bestehen können und dass sie in ihrer ökonomischen Funktionsweise wesentlich unterscheiden. Dabei bedeuten die unterschiedlichen Wesensmerkmale, dass die eine Gesellschaftsformationen nicht bruchlos in die andere übergehen kann und umgekehrt. Einen- wie von der Lehre der sozialen Evolution unterstellt – graduellen Übergang der einen Gesellschaftsformationen in die andere gibt es gerade nicht.
Dieses wiederum bedeutet, dass man sich jede Formation eigenständig ansehen muss und es gerade auf den Zivilisationsbruch, beziehungsweise wie sich der Übergang von der einen zur anderen Formationen vollzieht, ankommt.
In seinen Publikationen, die er teilweise mit Otto Steiger geschrieben hat
• 1979(mit Otto Steiger et al.)
Menschenproduktion: Allgemeine Bevölkerungstheorie der Neuzeit (suhrkamp)
• 1984
Privateigentum, Patriarchat, Geldwirtschaft (suhrkamp)
• 1995
Warum Auschwitz. Hitler´s Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt (rororo)
• 1996 (mit Otto Steiger)
Eigentum, Zins und Geld (Rowohlt)
• 1997
Die Erschaffung der Götter. Das Opfer als Ursprung der Religion (Rowohlt)
• 2000
Wie alt ist das Menschengeschlecht (mantis)
• 2003
Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen (orell füssli)
• 2006 (mit Otto Steiger)
Eigentumsökonomik (metropolis)
beleuchtet Gunnar Heinsohn sowohl die Zivilisationsbrüche als auch die jeweiligen Formationen menschlichen Zusammenlebens in einer Weise, die deswegen neu und revolutionär ist, weil sie eben bewusst darauf verzichtet, eine allgemeine Theorie der Gesellschaft oder der Zivilisation geben zu wollen.
Der Bogen der zivilisationstheoretischen Untersuchungen spannt sich von der Entstehung des Homo sapiens, dem ökonomischen Überlebensmechanismus der Stammesgesellschaft, der Entstehung von Opferkulten und feudalem Priestertum am Beginn der Frühantike sowie der daraus entstehenden Religion, über das In-die-Welt-Kommen des Privateigentums und damit von Zins und von Geld über das monogame Patriarchat der okzidentalen Antike, bis zur massentotbringenden Geburtenkontrolle der frühen Neuzeit bis zur europäischen Bevölkerungsexplosion und der Verbreitung der europäischen Zivilisation auf der Grundlage der eigentumsbasierten Geldwirtschaft samt Zinsdruck, technischen Fortschritt und zahlreicher überschüssiger Söhne. Dieses Wissenschaftsprogramm beschreibt den Beginn einer Aufklärung, II. Teil.
Dipl.-Pol. Frank‑C. Hansel
Eisenacher Str. 3
D‑10777 Berlin
Herr Hansel,
habe mit großem Interesse und Gewinn ihren Beitrag gelesen.
Möchte mich einfach nur bedanken.
MfG