Kunst, die als Verunglimpfung, Herabsetzung oder Diskriminierung einer Person oder Personengruppe oder gesellschaftlichen Gruppierung aufgrund von Hautfarbe, Glauben, Geschlecht, körperlicher Verfassung, Alter oder nationaler Herkunft verstanden werden könnte sollte grundsätzlich von staatlichen Fördermitteln ausgeschlossen werden.
Diese Forderung könnte durchaus als Imperativ im Rahmen eines zeitgenössischen Diskurses um einen sich neu formierenden Kunst- und Kulturbegriff stehen. Formuliert wurde er aber nicht von einem AStA, einer Gleichstellungsbeauftragten oder vermeintlich progressiven Kunstkritikern sondern bereits im Jahr 1989 vom 2008 verstorbenen republikanischen US-Senator Jesse Helms im Rahmen dessen, was man post festum »Culture wars« nannte. Helms wollte unter anderem diese Richtlinie als Zusatz zur amerikanischen Verfassung implementieren. Die Pointe: Er war ultra-konservativ, homophob und trat vehement gegen die Gleichberechtigung von Weißen und Schwarzen ein. Sein Vorstoß galt den damals »unzüchtigen« und »blasphemischen« Kunstprodukten beispielsweise eines Fotografen wie Robert Mapplethorpe, der Sängerin Madonna oder Martin Scorseses »Die letzte Versuchung Christi«.
Helms’ Zitat ist aus Wie frei ist die Kunst?, dem neuesten Buch des ZEIT-Feuilletonredakteurs Hanno Rauterberg. Es trägt den Untertitel Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus. Aus vier Sichtweisen – Produktion (Künstler), Distribution (Museen), Rezeption und Integration – untersucht Rauterberg das gewandelte Verständnis von Kunst von der Moderne über die Postmoderne hin zur Gegenwart, die im Buch Digitalmoderne genannt wird.
In der Einleitung benennt Rauterberg an einigen Beispielen der letzten Zeit die sich strikt an »Werte« orientierenden Ansprüche an Kunst. Da werden Personen aus Filmen herausgeschnitten, die wegen sexueller Übergriffe angezeigt wurden. Da wird ein Gedicht an einer Häuserfassade übermalt, weil es frauenverachtend und sexistisch sein soll. Als diskriminierend empfundene Wörter sollen aus Büchern getilgt werden. Werkschauen werden aufgrund von Sexismus-Vorwürfen an den Künstler abgesagt oder als anstößig empfundene Kunstwerke aus Ausstellungen entfernt. Karikaturen bleiben ungezeigt, weil sie religiöse Gefühle verletzen könnten.
War die Moderne die Agentin der Öffnung, die mit avantgardistischem Impetus das Bewährte überschreiten und sittliche Grenzen weiten wollte, so wird aus der Kunst in der Digitalmoderne die Emissärin einer abgrenzenden Vergewisserung, für viele Einzelne und mehr noch für Kollektive. Die Bewertung von Kunstwerken geschieht daraufhin, ob Empfindungen bei Rezipienten verletzt werden. Rauterberg nennt dies das Unwohlsein des Einzelnen. Das Unwohlsein gebiert »Opfer«, die, wenn ihnen selber nicht »unwohl« ist, paternalistisch beschützt werden müssen. Das Widersprüchliche, Sperrige, zur Not auch Abseitige wird gar nicht erst diskutiert, sondern sofort abgelehnt.
Das Unwohlsein, so Rauterberg, mag einen berechtigten Grund haben, denn es kann sich um Fälle politischer oder ökonomischer Beteiligung handeln. Doch um diese Benachteiligung zu bekämpfen, favorisiert die politische Korrektheit eben keine offensiv politische oder ökonomische Gegenwehr, vielmehr setzt sie vornehmlich auf eine Veränderung in ihrer Wortwahl und Verhaltensweise… Die Folge sei paradoxerweise eine verstärkte Emotionalisierung, obwohl es ja gerade die Affekte sind, die normativ geregelt werden sollten.
Letzteres ist eine nicht ganz schlüssig belegte Behauptung. Geht es nicht gerade darum, Affekte zu erzeugen um ein bestimmtes Ziel zu erreichen? Rauterberg spricht selber von Affektgemeinschaften, in der die Rücksicht auf Partikularinteresssen über das allgemein Verbindende und Ästhetische stehen. Ihre Protagonisten sind laut und gut vernetzt. Sie benutzen die digitalen Medien als Verstärker. Es genügt, dass ein Gedicht als sexistisch, ein Künstler als übergriffig, ein Kunstwerk als gewaltverherrlichend und/oder rassistisch, eine Formulierung als diskriminierend postuliert wird. Die Reaktionen der Kunstinstitutionen – der Museen und Galerien, in einem Fall auch eines Theaters – werden ausgiebig dokumentiert. Nahezu immer endet es mit dem Einlenken auf den Protest.
Ausstellungen (und nicht nur diese) werden somit zu politischen Programmen umfunktioniert. Wichtig ist dabei einzig die Empfindsamkeit jedes Einzelnen, die den Diskurs und den »Wert« des Kunstwerkes bestimmt. Jede noch so kleine Minderheit kann damit die Verbreitung eines Kunstwerkes hemmen, insofern sie sich angegriffen, diskriminiert oder beleidigt fühlt. Weiterer Begründungen bedarf es nicht. Diskussion um ästhetische Kriterien unterbleiben. Rauterberg nennt dies an einer Stelle einen ästhetischen Klimawandel.
Hier ist eine erste kritische Bemerkung angebracht. Zwar ist es lobenswert, dass sich der Autor bemüht, den Affekten nicht seinerseits nachzugeben und sehr wohl Argumente für diese Form der interventionalistischen Kunst»kritik« findet. Und auch sein Befund ist klar: diese Form des Umgangs mit Kunst konterkariert den Liberalismus, der gerade in der Moderne ihre größte Ausprägung gefunden hatte und sich auch in der Gesellschaft – gegen alle regressiven Widerstände – niederschlug. Dennoch will er nicht pauschalisierend auf einen Angriff auf die Freiheit der Kunst sprechen, seien doch die Ausprägungen insgesamt bisher zu vernachlässigen. Die Argumentation des AStA in der Diskussion um die Entfernung des Gomringer-Gedichts von der Fassade des Gebäudes gilt hier als Indiz, dass die Initiatoren nicht die Kunstfreiheit per se angreifen, weil sie zugestehen, dass sich jeder das Gedicht in seine Wohnung hängen könne. Es gehe nur um die Entfernung des als frauenfeindlich empfundenen Textes aus der Öffentlichkeit. Ein Argument, dass in Bezug auf museale Kunstwerke und Performances allerdings nicht mehr gilt.
Den anmaßenden Totalitarismus, der in solchen »Gnadenakten« liegt, erkennt er nicht. Erst im letzten Kapitel, als er von den vermeintlichen Rettern der Kunstfreiheit berichtet, die er vor allem auf der politischen rechten Seite verortet, kommt ihm das Wort von der »Illiberalität« in den Sinn. Hellsichtig erklärt er zwar, dass die rechten/identitären Bewegungen die Kritik an der moralisierenden Kunstbetrachtung als trojanisches Pferd für ihre eigenen, restaurativen Kunstauffassungen missbrauchen. Einen Mittelweg beschreibt er jedoch nicht. Somit gerät man schnell unter Restaurationsverdacht. Damit spielt er unfreiwillig-freiwillig das Spiel derer, die das, was er die Liberalität nennt, aushebeln.
Dass die Illiberalität der rechten und linken nur zwei Seiten der gleichen Medaille sind, kommt nur sehr dezent vor: Es war die Kunst, die dem Individuum eine größtmögliche Freiheit zugestand, damit es sich selbst und womöglich eine höhere Wahrheit finde und auf diese Weise die Gesellschaft zu eigenen Freisinnigkeit anregen könne. Dieser Impuls droht – egal von welchem Lager – abgewürgt zu werden. Richtig heißt es: Nicht die Fixierung auf feste Identitäten war die Bestimmung dieser liberalen Kunst, vielmehr zog sie alle und alles hinein in ein Spiel befreiender, universell gemeinter Wandelbarkeit.
Statt die Zumutungen des Liberalismus zu ertragen werden Positionen bezogen und das fundamentalistische Verlangen nur noch größer. So schwindet das Ungewisse der Kunst, ihre schöne, funkelnde Polyvalenz. Sie sei, so die Quintessenz, das wahre Opfer der Kulturkämpfe. Museen agieren aus Furcht vor Shitstorms. Der Besucher wird bevormundet, indem ihm nicht für adäquat gehaltene Kunst verborgen bleibt. Und wenn nicht das, wenn werden »unpassende« Titel von Kunstwerken mit Sternchen abgeändert. Exponate werden nicht mehr im Kontext der Zeit gesehen sondern mit heutigen Sichtweisen bewertet. Es findet eine Enthistorisierung der Exponate statt. Etwas, was verstärkt auch für die Literatur beobachtet werden kann.
Keine Frage, Rauterberg beschreibt sehr stimmig das essentialistische Denken, welches den Einzelnen auf seine Merkmale reduziere und somit sofort Affekte produziert, wenn es »unpassende« Kunst und/oder Künstler gebe. Hier ist er von Peter Sloterdijks Diktum, die Massenkommunikation als das organisierte »permanente Plebiszit gemeinsamer Sorgen« sieht, nicht weit entfernt. Gesellschaft existiere, so Sloterdijk, nur noch als »massenmedial integrierte, zumeist polythematische Stress-Kommune«. Wichtig ist nur noch, die Balance zwischen Ablenkung und Stress, zwischen »lockeren unterhaltungsgemeinschaftlichen« und »dichten kampfgemeinschaftlichen« Zuständen zu finden.
Einiges spricht dafür, dass aus der Unterhaltungsgemeinschaft eine veritable Hyperventilationsgemeinschaft geworden ist. Wer die Erregungen über Kunstwerke und Künstler in den letzten Jahren verfolgt hat stellt, so Rauterberg, fest, dass Mitsprache- und Urteilskompetenz längst nach Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung gewichtet werden. Dabei erlischt allerdings jede Form von produktivem Diskurs, weil infolge einer Erosion gesellschaftlicher Verbindlichkeiten keine überindividuell gültigen Argumente mehr existieren. Stattdessen entsteht eine Heuristik des Verdachts. Der (selbstverschuldete) Verlust des freien Denkens und Argumentierens wird an etlichen (zumeist US-amerikanischen) Beispielen gut illustriert (deutsche Vorkommnisse, wie der »Fall« Dieter Wedel, fehlen – als ZEIT-Redakteur wäre es im letzten Fall wohl zu kritisch).
Statt der erwähnten gesellschaftlichen Verbindlichkeiten gibt es ominöse, einseitig verfasste Verbote und Tabuisierungen, die einen Absolutheitsanspruch behaupten. Nicht nur die 70er Jahre Freizügigkeit ist passé. Auch die Trennung von Autor und Werk existiert längst nicht mehr. Warum dies so ist, bleibt hier ungewiss. Eine Mitschuld ist sicherlich dem Feuilletonismus zu geben, der diese Verknüpfung aus Gründen der griffigeren Schreibe wegen seit vielen Jahren praktiziert.
Ein wenig arg schematisch erscheint Rauterbergs Rekurs auf das, was er Digitalmoderne nennt. Es handelt sich um einen Begriff, der die Bedeutung der digitalen Medien auf die gegenwärtige Kunstrezeption und –beurteilung verdeutlichen soll. Das Internet ist zwar nicht der »böse Bube«, aber letztlich die Instanz, die die Idiosynkrasien und Forderungen transportiert, wenn nicht gar verursacht. Ein Beispiel sind für ihn die Mohammed-Karikaturen. Aber bereits zu »analogen« Zeiten gelang die angesprochene Mobilisierung des Unbehagens, wie man an den weltweiten Protesten über Salman Rushdies »Satanische Verse« 1988 sehen kann (die Lektüre dieses Buches zur Begründung der Kränkung schien entbehrlich; man kennt dies allerdings auch aus anderen Kulturkreisen). Und auch der Blick auf die Kulturkämpfe in den 1990er Jahren in den USA (der gestreift wird) hätte ihm sagen müssen, dass dies nur ein Teil der Wahrheit ist. Natürlich kann man heutzutage in kurzer Zeit Petitionen und Shitstorms zu Alles und gegen jeden binnen weniger Stunden mit ein paar Tausend Unterschriften initiieren. Damit ist allerdings nichts über die Repräsentation dieser Interventionen gesagt. Die viel beschworene »Demokratisierung«, die durch das Internet auch in ästhetischen Fragen hergestellt werden soll, ist nämlich oft genug nichts anderes als ein Projekt von einer Minderheit in der Minderheit. Verlässliche Zahlen über die Nutzung beispielsweise von Twitter existieren nicht – es schwankt zwischen rund 2 Millionen »regelmässiger« Nutzer in Deutschland bis zu 12 Millionen -, aber die Zahl derer, die den Klicktivismus als aktivistisches Medium verwenden dürfte im Verhältnis zum Resonanzraum, der erzeugt werden soll, marginal sein. Sicherlich, in einem kleinen Topf kann Wasser kochen und dann ist es dort sehr heiß. Man darf das dann allerdings nicht mit den anderen Töpfen auf dem Herd und der Temperatur in der Küche verwechseln. Dass Initiativen in den sozialen Netzwerken eine breite gesellschaftliche Diskussion anstossen, ist eher selten. Unlängt war dies bei dem #Metoo-Hashtag zu beobachten. Allerdings müssen dann die »konventionellen« Medien dies aufnehmen und vertiefen.
Die Vorgänge in der Literaturkritik und ‑rezeption klammert Rauterberg gänzlich aus. Wie es dort um das »Schnüffeln« in und um Texten steht, konnte man unlängst in diesem Beitrag nachlesen. Genreübergreifend ist zu bemerken, dass diese affektiv von Idiosynkrasien bestimmten Codizes keine temporäre Angelegenheit sein dürften. Zensurbleistift und Spitzer werden an den Universitäten weitergegeben. Einiges erinnert an die Unzeiten des sozialistischen Realismus. Abweichungen werden mit Verbannung sanktioniert, welche die Teilnahme an den Subventions- und sonstigen Fördertöpfen erschwert bzw. verunmöglicht. Spätere Kanonisierung fraglich bis ausgeschlossen. Und ein Künstler, der Stigmata aufweist, erzielt auch keine der inzwischen wahnsinnigen Preise für seine Werke auf dem Kunstmarkt mehr und wird für potentielle Sammler uninteressant. Ein Caravaggio hätte heute keine Chance mehr. Der leicht optimistische Ausblick in Bezug auf die Kunstszene kommt einem da fast ein wenig rührend vor.
Rauterberg verzichtet auf Polemik und scharfe Formulierungen. Ebenso ist er sichtlich bemüht »Kampfbegriffe« (»PC«, »Genderwahn«) zu vermeiden. Nur einmal ist von politischer Korrektheit die Rede. Dabei ist seine Meinung durchaus eindeutig: Die Kunst verliert als Kampfmittel einer Selbstvergewisserungsindustrie ihre in der Moderne endgültig errungene Freiheiten. Dennoch versucht er eine deeskalierende Sprache, um beide Seiten möglichst unvoreingenommen und vor allem ohne die (zu Recht) kritisierten Affekte darzustellen. Ziel ist es eine vermittelnde Position einnehmen. Sein Plädoyer für den »Liberalismus« in der Kunst bleibt dabei leider etwas konturlos, weil der Begriff am Ende nicht ausreichend definiert wird. So ist der Text mehr Aufsatz als Essay. Trotzdem ist Wie frei ist die Kunst? der gelungene Versuch einen Überblick über die aktuelle Verfasstheit vor allem in der Kunstszene zu verschaffen. Demzufolge eine fast unverzichtbare Lektüre. In einigen Jahren wird man dann sehen, ob die heutigen Zeiten als Beginn einer neuen Epoche oder nur als ein Strohfeuer gesehen werden.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Ich möchte beipflichten: Affekte werden nicht grundsätzlich befragt, sondern eingesetzt und die jeweilige Angelegenheit oder das jeweilige Ziel entscheiden über die Rechtfertigung ihres Ausmaßes und nicht etwa die Gebote eines vernunftorientierten Diskurses. Wenn die Verfasstheit unserer Gesellschaft Affektkontrolle, aber auch die Ausdifferenzierung der individuellen Gefühlswelt, erschwert, dann wäre das ein Teil der Erklärung; ein anderer könnte sein, dass eine immer liberaler werdende, also das Individuum aus allen (geistigen) Verbindlichkeiten entlassende Welt, dem Affekt wieder eine gruppenkonstituierende Funktion wiedergibt, ja mehr noch, dass die instrumentellen Logiken (Ökonomie, Bürokratie) ihn herausfordern und freisetzen. Rauterberg scheint da etwas »schuldig« zu bleiben.
Andererseits könnte man feststellen, dass das schlicht und ergreifend der »Diskurs« unserer Zeit ist, der eben auch (aber nur auch) die Kunst trifft. Sie teilt die allgemeine Malaise (Robert Pfaller, auf den Leopold Federmair unlängst hingewiesen hat, spricht vom Verschwinden der Sprache erwachsener Menschen und von einer Rede über Befindlichkeiten, die die Gesellschaft spaltet, weil sie Personen und Gruppen gegeneinander ausspielt, der Nutznießer ist das kapitalistische System, weil kein gesamtgesellschaftlicher, also über Grenzen hinweggehender, Widerstand mehr entsteht, etwa dadurch, dass man auf etwas wie ein Gemeinwohl hindenkt...).
Ich glaube ja, dass die Gesellschaft gerade an Liberalität einbüßt, obwohl immer das Gegenteil behauptet wird. Die zahlreichen Imperative, die zu berücksichtigen sind um keine Minderheiten zu verärgern, schränken ja künstlerische Freiheiten ein.
Fraglich finde ich den Befund, dass hierdurch so etwas wie das Gemeinwohl verdrängt wird. Der Begriff war (und ist?) immer noch negativ besetzt. Wer »Gemeinschaft« sagt gilt inzwischen (wieder? oder noch immer?) als rechts. Gemeinwohl wird dabei je nach Anschauung definiert. Hauptaugenmerk wird nur noch darauf gelegt, ob nicht irgendwo eine Diskriminierung konstatiert werden kann.
Danke für die Besprechung, Danke auch für den Link auf Pfaller. Der Kardinalsfehler der kulturalistischen Linken wird von Pfaller m.M.n. richtig erkannt. Ich vermute, auch Mark Lilla oder Jonathan Haidt würden hier zustimmen. Wenn sich die Linke ent-ökonomisiert, also die Regelung der Märkte und die Kontrolle des Kapitals (Investment) aufgibt, begeht sie einen verhängnisvollen Fehler. So geschehen, wohl Ende der Achtziger. Zwar kann sie ihre Werte-Hierarchie zunächst noch ganz gut über die Interessen von Minderheiten artikulieren, aber wie man inzwischen sieht, sind die Minderheiten keineswegs frei von primitiven Machtallüren.
Die direkte Folge des cultural turns ist, dass man anfängt, Kunsterzeugnisse zu verunglimpfen, die sich den gesetzten Prioritäten entziehen. Das fällt ja in die selbstgewählte Zuständigkeit. Die garantierte Freiheit des Rechtsstaats kann man mit subversiven Mitteln unterlaufen, etwa »absichtliches Falschlesen«, wie Sloterdijk es nannte, moralische Entrüstung im dünnen Mantel der »Theorie«, Skandalisierung, Schmerzdemonstrationen, Mobbing, etc.
Aber falsche Politik hat immer Konsequenzen, und sei es die Verschlimmerung der Lage durch das Aufkommen eines unbarmherzigen Gegners. Der Rechtspopulismus und die Propaganda der Empfindlichkeit sind beinahe schon symmetrische Übertreibungen, die an das Paradox von Henne und Ei erinnern. Was war zuerst?! Die Kausalität ist nicht zu entschlüsseln, aber man hasst sich prima auf beiden Seiten.
Die Kunst ist immer noch frei; aber wie wird sie auf die politische Dynamik reagieren?! Die Dramatiker müssen eigentlich nur mitschreiben. Die Lyriker müssen sich wohl die Ohren zustopfen. Der Roman kann ganz unterschiedlich ausfallen: die Suche nach der Idylle (Handke); die Erfahrungen von Minderheiten, am besten frisch nach der Migration, in der ersten Generation; oder milieubedingter Widerstand durch ästhetische Sublimation, auch wieder verteilt in links und rechts (Despentes vs. Houellebecq)
@die_kalte_Sophie
Die Frage nach der Freiheit der Kunst stellt sich eigentlich erst, wenn die Werke (gleichsam) die eigenen vier Wände verlassen. Aber das ist eben entscheidend.
Zur Parallelität von Populismus und Empfindlichkeitspolitik (wie der oben genannten Problematik am Beispiel der Kunst) gehört auch, dass in beiden Fällen nicht nur gehasst wird, sondern vor allem Affekte (aber auch Moral) als Bindemittel wirken. Die Identitären, die man zwar keinem der beiden »Lager« eigentlich zurechnen kann, sind nichts anderes als die rechte Antwort auf die linksliberale Identitätspolitik, sozusagen ein Gegenangriff mit denselben Mitteln.
@Gregor
Die Frage nach einer Einbuße von Liberalität ist ambivalent: In der Ökonomie und der von ihr kolonisierten Pädagogik werden Arbeit und Lernen (»Bildung«) immer stärker freigestellt (flexibilisiert) und auf selbstständige Teams oder den Einzelnen (Selbstbildung) verlagert; hinzu kommt aber eine rigide Endkontrolle (Qualitätsprüfung, Lernzielüberprüfung). Etwas allgemeiner formuliert: Wir sind frei zahlreiche Entscheidungen zu treffen, wir können kaufen was wir wollen, ebenso unsere Freizeit gestalten oder uns amüsieren und auch in der Wahl unserer Arbeit steht uns vieles offen. Allerdings müssen wir systemkonform agieren und werden immer umfassender überwacht. — Was meinen wir mit unserer Idee von der Freiheit, gleich was liberal und Liberalismus nun bedeuten? Das ist die Frage, die sich aufdrängt und die Kunst ist dafür vielleicht gar kein schlechtes Beispiel.
Es mag sein, dass man als rechts gilt, wenn man über etwas wie das Gemeinwohl nachdenkt, aber ist das nicht unumgänglich, wie die Frage nach Gerechtigkeit oder eben Freiheit? Das Gemeinwohl ist eine Idee, die davon ausgeht, dass es Belange gibt, die alle betreffen, etwas wie Interessen von allen und sie (die Idee) fällt damit, dass man immer nur Teilgruppen konstituiert und über deren Befindlichkeiten diskutiert. Zu mehr kommt es eben nicht, weil Interessen, die über Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Migrationshintergrund oder was auch immer hinausgehen, gar nicht angenommen werden. Und das kommt den Interessen oder Praktiken entgegen, die sozusagen als einzige universal sind, den ökonomischen.
@metepsilonema
Das Agieren in einer gewissen Konformität mit einem »System« gab es immer schon. Und früher gab es ja sehr wohl so etwas wie einen sozialen Druck – was sich z. B. am äußeren Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit zeigte. Mit der Individualisierung, die verstärkt ab den 1970er-Jahren einsetzte, verschwanden diese zum Teil archaischen Verhaltensvorgaben. Nicht umsonst nannte man dies dann irgendwann das Zeitalter des »anything goes« (nicht nur als Beschreibung in der Kunstwelt). Neben den Vorteilen gab es den Nachteil einer Ent-Sozialisierung von Gesellschaft. Wenn jeder sich selbst der Nächste ist, dann gibt es so etwas wie »Gemeinwohl« nicht. Das ist keinesfalls mit dem sogenannten »Neoliberalismus« zu verwechseln, der erst in den 2000er Jahren in Deutschland Fuß fasste (nachdem er in den USA und Großbritannien bereits 20 Jahre zuvor »ausgebrochen« war).
Das »anything goes« ist nun einem zum Teil anders-repressiven System gewichen, in dem Abweichungen mit ökonomischen, vor allem aber sozialen Ausschlüssen sanktioniert werden. Es gibt keine »Betreten verboten«-Schilder mehr auf Rasenflächen wie in den 1950er Jahren. Die Imperative sind andere, feiner formuliert, aber nicht weniger deutlich. Bei dem vielbeschworenen und – teilweise – beklagten Ende der sogenannten »Volksparteien« in den Demokratien wird die Partikularisierung deutlich. Indem immer mehr bestimmte Minderheiten zu politischen Mehrheitsmachern werden, werden ihre Bedürfnissen zu allgemeinen Bedürfnissen gemacht. Das zeigt sich insbesondere in der Kunst sehr deutlich, weshalb Rauterbergs Buch für mich so etwas wie das Buch der Stunde ist (trotz der angesprochenen Schwächen).
Die Entökonomisierung (@ die_kalte_Sophie) der Linken zeigt sich vor allem darin, dass so etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen eingefordert bzw. geplant wird. Damit sollen dann alle Probleme gelöst werden. Wozu braucht man dann noch Marx?
@Gregor
Ich stelle ja nicht in Abrede, dass es früher keinen Konformitätsdruck gab, meine aber, dass der äußerlich weniger sichtbar, dafür aber umfassender und subtiler geworden ist (da scheinen wir ja übereinzustimmen). Ich habe die 68iger Jahre und die darauf folgenden nicht erlebt, meine aber schon, dass damals soziale Fragen gestellt wurden, dass nicht nur ein »anything goes« galt. Abgesehen davon: Wenn z.B. laufend von der Benachteiligung von Frauen (in dieser Allgemeinheit) zu hören ist, dann geraten all jene Männer aus dem Blick, die in Berufen arbeiten (Briefträger, Müllabfuhr, Bauarbeiter, Fernfahrer,...), die körperlichen Verschleiß mit sich bringen und die gewiss keine »ökonomisch privilegierte« Position bedeuten, obwohl viele davon in die Rubrik »heterosexuelle weiße Männer« fallen. Das spielt Frauen gegen Männer aus und treibt vor allem die letzteren Richtung Populismus, weil der auf ihre klassische Position rekurriert. Der Nutzen ist doch offenkundig (dass das Denken an etwas wie ein Gemeinwohl oder an Vergleichbares schon vorher zu erodieren begann, ja sicherlich, ich habe auch nicht behauptet, dass das anders gewesen wäre...).
Inzwischen wird ja offen diskutiert, ob es nicht eine Art »Populismus von links« geben sollte, der sich gegen den Rechtspopulismus wendet (selbst bei Müller wird das ja angeschnitten, allerdings verwirft er weitgehend eine solche Position). Im Zentrum dieser Betrachtungen steht ein behauptetes Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Demokratie.
Das oben verlinkte Gespräch mit der Adeptin eines notwendigen linken Populismus ist dahingehend interessant, als das die Migrationsfrage als Folie dieses Spannungsverhältnisses dient. Interessant ist wie der Begriff der Liberalität hier definiert wird. Liberal wäre demnach die unbedingte Grenzöffnung, »demokratisch« der Rekurs auf nationale Grenzen.
Entscheidend für diese Diskussion ist aber die Aussage, dass pluralistische Demokratien für »Gleichheit der politischen Rechte, Gleichheit der Partizipationsmöglichkeiten, Gleichheit der politischen Einflussmöglichkeiten« stehen. Die Frage ist nun, wie dies im alltäglichen Gebrauch umgesetzt wird. Die von Rauterberg skizzierten Kulturkämpfer wollen diese Gleichheitsgrundsätze nicht nur in ruhenden Grundrechteverträgen erfüllt sehen, sondern mahnen diese in der Praxis offensiv an. Dabei werden die Empfindlichkeiten immer ausgeprägter und immer skurriler. Über »Gleichheit« ist ja nichts gesagt, ob ich nun das generische Maskulinum verwende oder permanent ein Gendersternchen setze.
Am Ende sind diese interventionalistischen Idiosynkrasien so etwas wie der Anfang eines »linken Populismus«. Folgen: unbekannt.
Ausdrückliche Zustimmung (@mete) noch einmal für die Bedeutung der Affekte bei der Organisation von populistischen Bewegungen. Ich glaube, Jan-Werner Müller steht mit seiner Unterscheidung von »Pluralität« und Alleinvertretung etwas zu weit im Garten der normativen Kategorien, der Systemkonformität und der »guten Manieren«, darin leider Habermas fortschreibend, der die Parallele von Akademie und Öffentlichkeit idealisiert.
Ja, und welche Raffinesse liegt eigentlich darin, eine immer schon Emotions-begabte Linke zur Gründung eines eigenen Populismus aufzurufen... Ein Etikettenschwindel, der an die Nachdatierung von abgelaufenen Fleischprodukten im Supermarkt erinnert.
Chantal Mouffe ist bemerkenswert betriebsblind, wenn sie der Linken wieder mal die natürliche Begabung zur vernünftigen Argumentation bescheinigt, der für mich »größte Mythos unserer Zivilisation überhaupt«, dicht gefolgt von der Auferstehung Christi. Ein schwacher Begriff der Rationalität mit einem Echoraum für die Wertepreferenzen machts immer noch möglich.
Wer so weit daneben liegt, zieht natürlich die exakt falsche Schlussfolgerung: mehr Affekte, mehr Leidenschaft, mehr Liebesverhältnisse entlang der »Diskurse« durch Vereinfachung gesellschaftlicher Komplexität.
So dreht sich das Rad immer weiter: Liberalismus ist nur noch in der Verpackung des Linksliberalismus zu haben, jedenfalls nach der Vorsortierung im medialen Großhandel. Gefühlsbetonte Identifikationen begründen die Korrektur an der Freiheit anderer, der Verstand hat noch immer die nötigen »Argumente« geliefert.
Was lange gährt, wird endlich Essig.
@die_kalte_Sophie
Naja, es gibt schon noch den sogenannten »Neoliberalismus«, der ja in Wirklichkeit ein Laissez-faire des Ökonomischen vor dem Sozialen ist und eigentlich Wirtschaftlibertarismus genannt werden müsste, weil er eher dem libertären als dem liberalen zuneigt.
Und aus dem Linksliberalismus keimt eine Art von paternalistisches Weltrichtertum – in sich mindestens autoritär, wenn sich totalitär. Alles natürlich im Sinne des »Guten«. Da ist der Weg zur Religion nicht mehr weit.
@Gregor
Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit ist nicht gerade die allerneuste Neuigkeit, dafür bleibt unerwähnt, dass sich Liberalität gesellschaftlich und /oder (!) wirtschaftlich äußern kann (klarerweise kann dann ein autoritäres System »liberale« Aspekte besitzen). Beipflichten möchte ich, dass es zumindest den Anschein hat, dass viele Repräsentanten unserer Funktionseliten nicht verstehen, dass »der Populismus« ein systembedingtes Phänomen ist, im Spannungsfeld eines Oben und Unten, eines abstrakten, zumindest teilweise selbstgenügsamen, ja selbstreferentiellen politischen Systems (vgl. Haider in Österreich, wobei das »Ausländerthema« etwas leichtfertig beiseite geschoben wird). Ohne die Europäische Union gäbe es das Phänomen in dieser Form nicht. Ein schwerer Fehler, vor allem der sozialdemokratischen Parteien, war, sich rückhaltlos dem Projekt EU zu verschreiben, was der Aufgabe jeder kritischen Position gleichkam; dieses Feld bleibt den sogenannten populistischen Parteien vorbehalten (zuzüglich einiger linker Gruppierungen).
Wenn man zwischen Affekten (wenig durchdrungene und bewusst wahrgenommene Regungen und Ausbrüche, »Überschüsse«) und Gefühlen differenziert, findet man vielleicht eine Erklärung: Affekte suchen sich Ziele, ja Adressaten und zwar ihresgleichen oder verwandtes, sie suchen Bindung und werden ausgelöst oder sind – sozusagen – vorhanden (als Resultat des Lebensvollzugs). Ich will Gefühle als ein der Vernunft beigestelltes Entscheidungsmittel gar nicht diskreditieren, aber eine Politik, die vornehmlich auf Affekte zielt, egal wie sie sich nennt, entzieht diese letztlich aller Begründungspflicht und der Frage nach Wahrheit. Wenn man auf letzteres Wert legt, kann ein solches Unterfangen kein Ziel sein. Trotzdem verweisen die Affekte, vor allem die negativen, auf etwas, dessen man analytisch »habhaft« werden muss (das scheint ein Vorteil der rechten Bewegungen zu sein, dass sie es schaffen die negativen Affekte zu sammeln, daher wohl auch die Forderung nach einem linken Populismus).
Wenn ich an Peter Pilz in Österreich denke, der auch gerne von linkem Populismus spricht, dann gibt es schon Unterschiede eines linken Populismus zu den linken kulturalistischen Unterfangen und zwar bei den Themen Migration und Islam.
Ich bin (@Gregor) offen für jede gelungene Abgrenzung des Liberalismus vom Libertarismus, sowohl in der Theorie als auch in der Realpolitik. Aber einfach ist das nicht. Die Abwägung der sozialen Implikationen gegenüber dem Primat der wirtschaftlichen Freiheit muss ja pausenlos geschehen. Die westlichen Demokratien haben darin beachtliche Erfolge erzielt, aber ein womöglich »prinzipielles Unbehagen« bleibt. Ich sehe kein strukturelles Defizit, das den Phasenbegriff »Neoliberalismus« definieren könnte. Artikuliert sich darin eine Grunderfahrung, wie der Abstand der Arbeitnehmer zu Entscheidungen der Unternehmensführung?! Das wäre uralt, und nicht »Neo«... Oder ist es die technokratische Sprache der Wirtschaftspolitik, die Arbeitnehmerinteressen keine Priorität einräumen kann, manchmal sogar völlig ausblendet?!
Ich kann mir keinen Reim darauf machen, deshalb die rhetorischen Fragen. Ich vermute, der Begriff ist selbst ein Erzeugnis des Meinungs- und Deutungskampfes der Achtziger Jahre, also ein politischer Begriff nach Kosseleck, d.h. nur bedingt objektivierbar.
@mete: Ihre Unterscheidungen von Emotionen und Affekten scheint mir gelungen. Eine Gegenüberstellung von rationaler (Ironie: links-rationaler) Politik und affektgeladenen Überwältigungsversuchen (Populismus) verfehlt die Bedeutung der Emotion in der politischen Sphäre: Demokratie lebt von einem sachlich ungenauen Vermittlungsprozess. Das würde am Ende kein »animal rationale« überzeugen, wenn die Emotionen nicht mithelfen würden.
Um die Qualität der Politik zu prüfen, braucht es die Begründung. Nur dann kann man sich rückversichern darüber, ob wir es mit Bauchentscheidungen, Ideologie oder Populismus zu tun haben. Affekte stehen zu Recht in Verdacht, unfaire und wenig reflektierte Politiken zu »kommunizieren«, aber völlig irrational sind diese Politiken nicht.
Der Hinweis auf die EU ist vollkommen richtig: warum nimmt es man nicht zur Kenntnis, dass sich beinahe alle Populisten mit der EU anlegen?! Mit der EU ist der prekäre Vermittlungsprozess des Politischen auf die Spitze getrieben worden. Die Regierenden sind Unbekannte, die Verantwortung für Entscheidungen kann nicht mehr zugeordnet werden. Parlament und Kommission geraten zur Black Box.
Auf dieses elitäre Machtverhältnis mit Affekten zu reagieren, ist vertretbar. Dass man dabei den politischen Schaltkreis wieder auf die nationale Ebene verengt, liegt in der Natur der Sache. Genau da ist die Demokratie beheimatet.
Die EU hat den Populismus nach sich gezogen. Auch wenn es wie eine Konfrontation von Progressivität und reaktionärer Restauration aussieht, ist es nicht mit der Erklärung der Irrationalität getan. Genauso irrational war es, die EU mit postnationalen Utopien aufzuladen.
Ich glaube nicht, dass der EU eine grössere »Schuld« am Populismus-Phänomen zuzuweisen ist. Zumal sie erst seit kurzer Zeit als handelnder Akteur wahrgenommen wird. Vor der Eurokrise war die EU in der Bevölkerung nicht geliebt, aber geduldet. Man mokierte sich über einzelne Verordnungen und hatte sich damit abgefunden, dass Volksabstimmungen gegen sie solange wiederholt werden, bis das gewünschte Ergebnis herauskommt. In Deutschland änderte sich dies mit der Banken- und vor allem der Griechenland-Eurokrise. Hier lag – das wird oft vergessen – der Impetus für einen gewissen Professor Lucke, eine »Alternative für Deutschland« zu gründen. Ein subkutanes Versprechen der deutschen Politik wurde nämlich gebrochen. Bis dahin hatten die Deutschen gerne auf nationale Symbole verzichtet. Schwarz-Rot-Gold war nicht wichtig gewesen. Das einzige, markante nationale Symbol war die Deutsche Mark. Das Versprechen war, dass sich mit dem Euro nur die Bezeichnung ändert. Die Stabilität bleibt nicht angetastet. Wer dies befragte, galt als »eurokritisch«. Kleinste Risse bekam das Versprechen als Länder wie Griechenland und Italien die Kriterien erfüllten, obwohl man immer von deren wirtschaftliche Instabilität hörte.
Das änderte sich 2008ff. Es lag auf dem Tisch, dass gemauschelt wurde und der Euro eine politische Entscheidung war statt eine ökonomische. Von nun an kannte das EU-Bashing keine Grenzen mehr. Das halfen auch die jährlichen Meldungen in den Nachrichten, dass die Roamingtarife bei Handys aufgrund von EU-Initiativen reduziert und schließlich abgeschafft wurden, nicht mehr. Die Ereignisse vom des Flüchtlingsherbstes 2015 gab der EU dann den Rest, obwohl sie dafür wirklich nichts konnte.
Das Problem ist, dass die wichtigen Protagonisten der EU schwach sind. Juncker ist nur dort, weil er solange schon an anderer Stelle war – er musste seinen Job finden (bei Schulz wäre es ähnlich gewesen). Die Eurokrise hat allerdings gezeigt, dass die EU immer noch an den Nationalstaaten hängt. Daher die Utopien, sie sozusagen eigenständiger zu machen. Außer ein paar Intellektuelle interessieren sich aber zu wenige dafür, da die Veränderungen gravierend wären. Selbst Macron benutzt die EU nur noch um im Falle eines Falles Eurobonds einzurichten um die französische Wirtschaft vor dem Kollaps zu bewahren.
Natürlich hängt die EU am Nationalstaat, es ist immer noch er der unsere Bürgerrechte sicherstellt, für Rechtsprechung sorgt und alle wesentlichen alltäglichen Verwaltungs‑, Bildungs- und Sozialaufgaben erfüllt. Ein Teil der Gesetzgebung wurde ausgelagert, es gibt eine Außengrenze, einen Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung (für einige Staaten jedenfalls); aber für jede Um- und Durchsetzung irgendwelcher Beschlüsse ist der Nationalstaat mit seinen Institutionen unentbehrlich. Deswegen ist der Verwaltungsapparat der EU relativ klein, verglichen mit den jeweiligen nationalstaatlichen.
Dieser Schieflage eingedenk, bin ich mir recht sicher, dass alle abstrakten bürokratischen Entscheidungen, als rein rational-ordnende und damit verfügende, Widerstand erzeugen, also diffuse Emotionen (Affekte). Beispiele sind etwa die Umstellung der Heizwert- auf die Brennwerttherme (Ökodesignrichtlinie) oder die Datenschutzgrundverordnung, die teilweise tief in die jeweils individuellen Leben eingreifen und Ohnmacht erzeugen (da rede ich noch gar nicht von demokratiepolitischen Dingen oder dem Übertreten selbst gesetzter Regeln). Sicherlich werden Dinge auf die EU geschoben, für die diese nicht verantwortlich ist, aber ein so gestaltetes politisches Unternehmen erzeugt diese Problematik – wie die kalte Sophie schon anmerkt – selbst mit. Oder anders: Die konkreten Subjekte tauchen in den Gesetzesvorlagen und Überlegungen gar nicht erst auf; das liegt zwar in der Natur der Sache, aber die Berücksichtigung schwindet mit der Ebene der Abstraktion.