Seit vielen Jahren zeigt Hans Magnus Enzensberger seine Zuneigung zum Enzyklopädischen, zur Sammlung des Wissens. In seiner »Anderen Bibliothek« war der größte Enzyklopädist des 18. Jahrhunderts, Denis Diderot, immer wieder als Autor präsent. 2013 – Enzensberger war nicht mehr bei Eichborn involviert – erschien dort in einer neu editierten Prachtausgabe Diderots Enzyklopädie.
Der Enzyklopädist sammelt nicht nur, er ordnet auch, wägt ab, trennt Unwichtiges von Wichtigem. Seine Auswahl ist immer subjektiv. Für seine textliche Verarbeitung hingegen gilt das Objektivitätsgebot. Hans Magnus Enzensbergers »Experten-Revue in 89 Nummern« ist nicht direkt ein enzyklopädisches Buch. Es sind persönliche Anmerkungen und Variationen des Autors Enzensberger zu dem, was den Menschen vom Tier unterscheidet: Der Arbeitsteilung und der Spezialisierung.
Zu Beginn wird in einem Dialog »der Natur mit einem Unzufriedenen« der »Dämon der Arbeitsteilung« als der Kern »vorläufigen Sieges« des eigentlich hinfälligen und schwachen Menschen auf dem Planeten Erde halb bewundernd, halb verängstigt konstatiert. Arbeitsteilung impliziert Spezialisten- und Expertentum. Aber: »Die meisten [Experten] haben einen Sparren und jagen ganz blödsinnigen Projekten nach.« Und es gibt, so erklärt die Natur dem Unzufriedenen, drei besondere Meta-Experten, »Experten des Expertentums«. Sie werden mehr angedeutet als genannt (keine Sorge – sie sind problemlos zu entschlüsseln): Bernard Mandeville (»Der unzufriedene Bienenstock«), Adam Smith und – natürlich – Karl Marx.
Ist Enzensberger nun jener »Unzufriedene«, der den scheinbar überlebensnotwendigen Organisationsgrad der Arbeitsteilung am Ende als simplen Trick der Natur begreift, weil sie ein unentwirrbares Netz von Experten- und Gegenexperten erzeugt, die die Hybris des Menschen mehr eindämmen als fördern? Oder ist es eine Hommage an diejenigen mit dem »Sparren«? Wer findet in der Revue der 89 Experten je nach Sichtweise Gnade oder Verehrung?
Schnell zerstreuen sich die Befürchtungen des Lesers, dass da eine Früher-war-alles-besser-Kulturkritik angestimmt wird. Die »Revue« besteht – wie schon bei den von ihm kürzlich gewürdigten Schriftstellern als »Überlebenskünstler« – aus Vignetten zwischen zwei und sechs Seiten pro Gegenstand, Expertentum oder auch einfach nur Erfindung. Aufgelockert wird dies durch Abbildungen sowie Illustrationen von Jan Riemer, teilweise »nach Vorlagen des Autors«.
Es sind fast immer die (zunächst scheinbaren) Nebenwege und/oder Nebenfiguren, die zu bahnbrechenden Entwicklungen führten und die Enzensberger interessieren. Er geht zurück in die Neuzeit – und spannt scheinbar mühelos den Bogen in die Gegenwart. Er feiert die Mechanik, das Handwerk, den Sonderling, den Kauz, den Universalgelehrten (mit dilettantischen Zügen) wie auch den genialischen Dilettanten. Es geht um Knöpfe und Bierdeckel, das Veloziped, Mausefallen, Zinken, Graffiti und Matratzen. Ein bisschen wird die Astrologie rehabilitiert, über die Abschaffung des Limbus und alte Handwerkkünste wie den Wachs- oder Drahtzieher, »Krumpfer, Schäumer, Tupfer, Zäckler oder Schrämer« referiert. Auch erfährt man einiges über den erst im 20. Jahrhunderts aufkommenden Beruf des Diplom-Tonmeisters. Man bekommt Esperanto und Volapük nahegebracht, erfährt wo man Pigmente aller Art heute noch kaufen kann und was »Schaben-Lucky« so macht. Enzensberger macht den Concierge von einst zum »geduldigen Übermenschen« und beklagt, dass man in Hotels nur noch eincheckt und nicht mehr empfangen wird. Man erfährt etwas über den »Laplaceschen Dämon«, Geodäsie, Kyrotechnik, Omnibusse und den Toponomastiker. Es gibt ein Lob auf die Faulheit (Enzensbergers Herzensangelegenheit) aber auch über Rolltreppe (die eigentlich anders heißen müsste), den Schallallergiker, den Pomologen und sogar den Dolologen.
Zuweilen sind es auch einfach Portraitfunken von Persönlichkeiten (sowohl bekannten als auch nahezu vergessenen), wie dem Zukunftsforscher, Militärstrategen, System- und Spieltheoretiker Herman Kahn, der Sennerin Kathi S., Menschen wie Erwin Weinert, Adrien Proust, Johannes Rottenhöfer, Walter Ingrisch, Giovanni de Dondi, Theo Blick und Christian Komposch oder den »Kugelfischer«. Auch diverse mathematische Formel- und Zahlenfinder wie etwa der Abbé Marin Mersenne, Francis Bacon, Hieronymus Cardanus oder Georg Ferdinand Ludwig Philipp Cantor werden vorgestellt. Und ja, so mancher Experte hatte auch noch »polymorphe Gaben«.
Stück für Stück entsteht ein Wimmelbild der Finder und Erfinder, welches Enzensberger mit der Lupe lächelnd, bewundernd aber auch zuweilen spöttisch würdigt. Etwa wenn er von der Unübertroffenheit des »Corporate Design der NSDAP und ihrer Gliederungen« berichtet und dann beklagt: »Daß eine kritische Gesamtdarstellung der NS-Reklame bis heute fehlt, liegt vermutlich daran, daß ein Rest von Peinlichkeit der Branche bis heute anhaftet.« Hier ist er dann, der Sarkast, der eben auch die Menschenrechte bei den Personenkontrollen vor einem Flugantritt geißelt, über die »endlose und völlig überflüssige Liste« der UNESCO-Weltkulturerbeliste mäkelt und nebenbei eine Gemeinsamkeit von Hochstaplern und Schriftstellern findet. Fast höhnisch wird Enzensberger wenn es um den Scharfrichter-Beruf und den Benimmexperten geht und dabei Protagonisten mit ihrer bruchlosen beruflichen Karriere vor und nach 1945 entdeckt. Da wird das joviale Sakko kurz abgelegt.
Ansonsten ist der Ton launig, zuweilen dozierend. Es ist merkwürdig, wie da ein Sog entsteht, worüber es in der jeweils nächsten »Nummer« dieser Revue geht. Und selbst innerhalb der Texte gibt es unverhoffte Sprünge. Enzensberger ist ein Meister des Exkurses, der fast immer eine Bereicherung ist und keine Abschweifung. Lange könnte man über die Experten räsonieren, die fehlen, wie zum Beispiel alle, die mit der Implementierung dessen, was man digitale Welt nennt, auch nur das Entfernteste zu tun haben. Gut so. Hans Magnus Enzensberger hat ein unterhaltsames und lehrreiches Buch geschrieben.
Also der Sog beim Lesen hat sich bei mir nicht eingestellt. Die NZZ hat den Vorabdruck des Buches bald einmal sein lassen... Es gibt freilich Perlen, man muss sie aber suchen. Etliches ist von früheren Büchern bekannt.
Zu Ihrer Bemerkung:
»Lange könnte man über die Experten räsonieren, die fehlen, wie zum Beispiel alle, die mit der Implementierung dessen, was man digitale Welt nennt, auch nur das Entfernteste zu tun haben. Gut so.« –
-Naja, Enzensberger handelt im Experten-Buch explizit von Bill Gates mit Blick auf – Ray Kurzweil. Und über diesen Computerpionier u n d Utopisten Kurzweil schreibt er schon lange und schrieb er schon oft, so auch hier, ziemlich ausführlich sogar.
Kurzweil wird im Buch als Begründer der »Alcor Life Extension Foundation« abgehandelt – einer Organisation, die Menschen einfriert, um ihnen später »ewiges Leben« zu geben. Gates kommt nicht einmal vor. Sie haben vermutlich ein anderes Buch gelesen.
Gates kommt namentlich vor, lieber Herr Keuschnig, grad’ so wie ichs oben geschrieben habe, und auch von Kurzweils Computertaten ist explizit die Rede. Schauen sie nochmal nach, vielleicht finden sich auch in Ihrem Exemplar so einschlägige Sachen wie die da über Kurzweil: »Die Wirtschaftszeitung Forbes hält ihn für die ‘ultimative Denkmaschine’ «. Oder das da: »Die Singularität, die Kurzweil zufolge unmittelbar bevorsteht, ist das Zusammenwachsen von Maschinen und Menschen.« Na, usw. – Steht in meinem »Experten« – Exemplar auf S. 150, übrigens.
Gates wird von HME nicht genannt. Er kommt auf einer faksimilierten Seite vor, die sich u. a. mit Kurzweils Vision einer neuen Weltregierung im Jahr 2020 beschäftigt. – Über Digitalisierung lässt er sich nicht aus. Bei Kurzweil geht es ihm um die prognostizierte »Unsterblichkeit«, die er mit sehr ironischem Blick betrachtet (und die an Houllebecqs »Elementarteilchen« denken lässt).
Ok – die »faksimilierte« Seite in Enzensbergers Buch ist nicht wörtliche Rede von Enzensberger, sondern – »seufz« – »nur« eine Zitat-Montage. Zitat-Montagen – das macht Enzensberger schon länger, seit Jahrzehnten nämlich. Diese Zitat-Montage, die ich nicht für faksimiliert halte, aber was weiß denn ich – vielleicht ist sie’s ja doch, – diese Zitat-Montage aber steht in Enzensbergers Buch, jetzt wo Sie es sagen, auch in Ihrem Exemplar dieses Buches, na bitte, Gregor Keuschnig, ich bin froh!
Und nein, es geht Enzensberger bei Kurzweil nicht allein um dessen Unsterblichkeitsideen. Im Grunde ist das wie gesagt schon lange vor sich gehende Kurzweil-bashing Enzensbergers eine Sache der zwei Kulturen. Ich meine es gehe Enzensberger um Kurzweil als Repräsentanten des Schirrmacher-Fehlers, wie ich den mal nennen will: Schirrmacher hat irgendwann gefunden, die deutsche intellektuelle Landschaft sei ausgezehrt und ist nach New York gejettet und hat sich da in David Gelernter und – Ray Kurzweil und in die Zeitschrift The Edge verguckt. Das waren seine neuen Helden, die und – - ‑Slavoj Zizek, den Schirrmacher als den bedeutendsten philosophischen Kopf Europas ausrief, damals, – kurz bevor er das Zeitliche segnete.
– Und das war, auch was die Amerikaner anging, sehr kurz gesprungen, weil das im großen und ganzen humanistisch und soziologisch und politologisch ziemlich unbedarfte Techies waren. Kurzweil ist neben dem Literaturagenten John Brockmann deren Leitikone – nicht zuletzt, weil er wirklich für Bill Gates gearbeitet hat – in den USA zählt eben der wirkliche finanzielle Erfolg...
Um noch einen letzten konkreten Punkt zu nennen, der Enzensberger von Kurzweil, Brockmann und – Kahn usw. – diesen ganzen technokratischen Amerikanern trennt, ist, dass Enzensberger – - – peu à peu und: explizit – - – »Abschied von der Zukunft« genommen hat, als ihm nach ’68 langsam dämmerte, dass mit dem (Neo)-Marxismus etwas nicht stimmt. Der späte Enzensberger hält es, was die Zukunft angeht, eher mit Mark Twain oder Karl Valentin oder – waum denn nicht, gleich mit dem Volksmund, dem ja Valentin und Twain ihre Bonmots abgelauscht haben – dass es eben schwer sei, Vorhersagen zu machen – vor allem, wenn diese die Zukunft beträfen. Und genau an dem Punkt packt er auch in seinem Experten-Buch den Ray Kurzweil wieder: Der hat sich nämlich mit einer ganzen Reihe von – wie man nun weiß: Falschen – Prognosen bis auf die Knochen blamiert. – Enzensberger genießt nun den Vorteil des alten Mannes: Er überblickt hinreichend große Zeiträume, um in seiner Zitatmontage belegen zu können, was für ein miserabler Prognostiker dieser vermeintlich überragende Geist tatsächlich ist. Das hat auch etwas Märchenhaftes, wie ich finde: Kurzweil ist der Hase, und Enzensberger ist der Igel! – Kurzweil ist außer Atem und – Enzensberger gewinnt...
(Das würde ich wirklich mal gerne von einem Volkskundler untersucht sehen, welche Vorformen dieses mal Valentin und mal Twain zugeschriebene Bonmot über das Wesen der Prognose kennt. Meine Vermutung wäre: Es gibt etliche davon.)
Beziehen sich diese »Portraitfunken von Persönlichkeiten« auch auf lebende Personen?
Ja, es kommen auch lebende Personen vor. Allerdings sind sie meist so etwas wie »Verwalter«: Sammler, Museumseinrichter oder einfach nur Konservatoren des Wissens. Viele davon sind Autodidakten.
apropos »die Vorteile des alten Mannes«, eine Binse: Ein alter Mann (ich z.B.) weiß, wie es ist und was man so denkt mit 3O Jahren. Umgekehrt geht’s nicht (sag ich manchmal meinem Sohn).