General Beck wird später zitiert werden, er habe den Inhalt der Rede »sofort wieder vergessen«. Zwar existiert eine inoffiziell angefertigte Protokollnachschrift, die vermutlich einem der Hammerstein-Kinder an die Komintern nach Moskau gefunkt wurde, aber ob hier tatsächlich wesentliche Elemente der Rede Hitlers, die dann eindeutig eine Aufrüstungsrede gewesen wäre, korrekt wiedergegeben wurde?
Hans Magnus Enzensbergers Buch bezieht einen Grossteil seiner Faszination gerade aus diesen gelegentlich unklaren Faktenlagen. In dem alle möglichen Quellen vorgestellt und auch in ihrer manchmal frappierenden Widersprüchlichkeit nebeneinander gestellt werden und – das ist notwendig hervorzuheben – fiktives neben historischem steht und entsprechend getrennt aufbereitet wird, entsteht ein facettenreiches Bild über eine sicherlich auch nicht einfach zu beurteilende Persönlichkeit – und deren Familie.
Quellenreichtum und Spekulationslust
Kurt von Hammerstein reichte im Dezember 1933 seinen Rücktritt ein und wurde zum 1. Februar 1934 abgelöst. Er erkannte sehr früh, vermutlich sogar schon vor dem oben beschriebenen Treffen mit Hitler, dass die Nationalsozialisten einen Aggressionskrieg wollten. Enzensberger zitiert viele Quellen, die belegen sollen, wie auch Hammerstein (zusammen u. a. mit seinem Freund Schleicher) bei Hindenburg interveniert, damit dieser nicht Hitler zum Reichskanzler macht. Der Meinungsumschwung bei Hindenburg, der Hitler anfangs abgeneigt gegenüber stand, ist heute noch Anlass zu vielerlei Spekulation. Hammerstein negierte ausdrücklich eine Art Militärputsch, um Hitlers Kanzlerschaft zu verhindern. Dies geschah kaum aufgrund von Skrupeln gegenüber der Demokratie der Weimarer Republik, sondern der Befürchtung, Deutschland würde in einen Bürgerkrieg gestürzt werden, wenn das Militär die Macht übernähme.
Hammersteins Charakter wird aus verschiedenen Quellen bezeichnet. Einerseits wird er als unpolitischer Soldat charakterisiert – später heisst es dann, er sei eigentlich Pazifist und Weltbürger gewesen. Er galt seit jeher als ein Gegner des Nationalsozialismus und soll früh die Katastrophen eines neuen, drohenden Krieges vorhergesagt haben; dies teilweise frech und offen – dann wieder verborgen und »im Vertrauen«.
Übereinstimmend heisst es, dass Hammerstein in seiner aktiven Dienstzeit an kniffligen Detailfragen nicht besonders interessiert war. Es wird sogar kolportiert, er sei im fast wörtlichen Sinne faul gewesen – wenigstens wenn es sich um Alltagsdinge gehandelt habe. Ein Aktenmensch war er definitiv wohl nicht. Und vielen galt er im Umgang als herablassend und arrogant. Als er einmal gefragt wurde, unter welchen Gesichtspunkten er seine Offiziere beurteile, sagte er: »Ich unterscheide vier Arten. Es gibt kluge, fleissige, dumme und faule Offiziere. Meist treffen zwei Eigenschaften zusammen. Die einen sind klug und fleissig, die müssen in den Generalstab. Die nächsten sind dumm und faul; sie machen in jeder Armee 90% aus und sind für Routineaufgaben geeignet. Wer klug ist und gleichzeitig faul, qualifiziert sich für die höchsten Führungsaufgaben, denn er bringt die geistige Klarheit und die Nervenstärke für schwere Entscheidungen mit. Hüten muss man sich vor dem, der dumm und fleissig ist; dem darf man keine Verantwortung übertragen, denn er wird immer nur Unheil anrichten.«
Hammerstein war in den 20er Jahren in führender Position im Kontakt mit der sowjetischen Roten Armee. Diese Zusammenarbeit musste alleine schon aufgrund der Konditionen des Versailler Vertrags geheim bleiben. Für beide Seiten, Reichswehr und Rote Armee, barg die Kooperation grosse Vorteile: Deutschlands Armee wurde nach dem destraströsen Weltkrieg wieder aufgebaut und man bekam militärtechnisch Anschluss (Kriegsmaterial für die deutsche Armee wurde in Russland produziert) und auf der anderen Seite bildeten die deutschen Offiziere den russischen Generalstab aus. Es gab gemeinsame Manöver. Hammerstein hatte bis zum Ende seines Lebens sehr gute Kontakte zur Roten Armee und diese auch stets gepflegt. Dieses Engagement war bei rechtsnationalen Kräften sowohl im Militär als auch der Politik nicht gerne gesehen. Seine Einschätzung über die sowjetische Armee von 1932 (gute Truppe, diszipliniert und gut ausgebildet, sie sich in der Defensive gut schlagen wird und dabei auf die Unterstützung der russischen Bevölkerung zählen kann) erwies sich als prophetisch.
»Libanesische Verhältnisse«? – Enzensbergers zu einfaches Geschichtsbild
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten dieses Buches, dass Enzensberger Hammersteins These, eine Intervention des Militärs hätte zu einem Bürgerkrieg geführt, stützt. In einem von sieben Kommentaren, von denen mindestens drei als pointiert in der historischen Beurteilung der damaligen Zeit bezeichnet werden können und die Enzensberger ein bisschen augenzwinkernd »Glossen« nennt, zeichnet er ein reichlich chaotisches Bild der 20er und 30er Jahre, welches in dem Schluss mündet, die Spaltung der Gesellschaft, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich hätte in den Jahren 1932/33 geradezu libanesische Verhältnisse angenommen und konstatiert, das Land habe sich in einem latenten Bürgerkrieg befunden. Eine Verwicklung der Armee in diesem »Bürgerkrieg« hätte dann wohl den vollständigen Garaus der Zivilgesellschaft zur Folge gehabt.
Dieser Darstellung kann man in dieser Absolutheit widersprechen. Auch wenn Enzensberger richtig konstatiert, dass die »Goldenen Zwanziger« ein später verklärender Mythos waren, so ist die Tatsache, dass die Demokratie von den Militanten auf beiden Seiten immer wieder in die Zange genommen wurde, noch kein Beweis für den von ihm an anderer Stelle vor einigen Jahren so luzide beschriebenen »molekularen Bürgerkrieg«. Ausserdem transformiert er die durchaus fragilen Verhältnisse »der Strasse« von den Metropolen wie Berlin oder München auf das gesamte Deutsche Reich, was sicherlich unzutreffend ist. Enzensberger macht hier den Fehler, die unmittelbaren Vorgänge im Jahr 1933 als entscheidend darzustellen – was sie nicht waren. Die Weimarer Republik war schon Monate vorher klinisch tot, weil niemand mehr – einschliesslich der Demokraten – der Demokratie eine Chance gegeben hatten und sich das Grossbürgertum (inklusive vieler Intellektueller) im furchtbaren Irrtum wähnte, Hitler und seine marodierenden Grossmäuler zu gegebener Zeit schon zu zähmen.
Indem Enzensberger aber die politischen Verwerfungen in der Weimarer Republik monokausal beschreibt, gibt er dem Zögern der Hitlerskeptiker nachträglich recht. Tatsächlich dürften sich die Zweifler innerhalb des deutschen Militärs dem Nationalsozialismus gegenüber in einer ziemlich deutlichen Minderheitenposition befunden haben (man denke in diesem Zusammenhang an Golo Manns Diktum, das deutsche Heer habe »zu gar nichts Mut« gehabt). Leute wie Hammerstein befürchteten vielleicht weniger einen Bürgerkrieg als eine Art Putsch gegen den Putsch, den sie vermutlich sogar physisch nicht zu überleben glaubten. Und in einer Reflexion Hardenbergs von 1945 schreibt dieser über Hammersteins Einschätzung des politischen Deutschen, er (der Deutsche), sei politisch derart wenig begabt, dass er die Notwendigkeit eines Attentats auf Hitler nie einsehen werde, wenn er nicht den bitteren Kelch bis zur Neige tränke. Eine Überlegung, die wohl tatsächlich in der militärischen Elite des Reiches Konsens gewesen sein dürfte, allerdings auch bereits den Keim der Rechtfertigung in sich trug und – nebenbei – auch einen demokratiefeindlichen Affekt befriedigte. Die Versager waren aber beileibe nicht nur in den Reihen der Wähler von 1933 zu suchen.
Hammerstein liess sich nicht blenden
Hammerstein hatte demissioniert, als er sah, dass Hitlers Pläne auf einen Angriffskrieg zuliefen. Er war als Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen und vermutlich von Kriegsabenteuern gründlich geheilt. Seine exponierte Stellung, seine Freunde in der Generalität, den Respekt, den er auch bei Gegnern genoss und sein Alter erlaubten ihm diese Demission, ohne Repressalien fürchten zu müssen. Von einer kleinen Reaktivierung 1939 abgesehen (er war für einigen Monate »Oberbefehlshaber in Schlesien« [wobei es in dieser kurzen Zeit angeblich Mordpläne gegen Hitler gab]), blieb Hammerstein im Ruhestand; er starb 1943 an Krebs. Enzensberger bringt Belege, die beweisen sollen, dass er bis unmittelbar vor seinem Tod als einer der Impulsgeber des Aufstands vom 20. Juli 1944 gewesen sein soll – was sich dann jedoch mit der o. e. Bemerkung nicht verträgt.
Wie gefährlich das Regime war, wird am Umgang mit Hammersteins Freund Kurt von Schleicher (das Verhältnis der beiden wird im Buch ausgiebig besprochen) illustriert, der im Rahmen der »Säuberungsmassnahmen« der »Nacht der langen Messer« 1934 hingerichtet wurde. Hammerstein blieb damals unbehelligt; warum, wird – vermutlich aufgrund fehlender Fakten – nicht schlüssig erläutert.
Kurt von Hammerstein ist deswegen von Interesse, weil er sich nicht von Hitlers Aufrüstungsplänen blenden liess; im Gegensatz zu sehr vielen ranghohen Offizieren. Und auch namhafte und führende Widerständler des 20. Juli 1944 hatten die Machtübernahme Hitlers anfangs wenn nicht begrüsst, so doch als Möglichkeit zur Stärkung der Armee im Deutschen Reich betrachtet. Sie empfanden die Bedingungen des Versailler Vertrags als Demütigung. Hitler bot ihnen eine deutliche Aufwertung des Militärs – und somit der eigenen Rolle in der Gesellschaft an. Die Schmach des verlorenen Krieges versprach der ‘böhmische Gefreite’, wie er verächtlich genannt wurde, durch entsprechende politische Gewichtung vergessen zu machen. Grosse Teile der Generalität waren überdies lange der Meinung, Hitler »im Griff« zu haben, und ihn quasi als Aufbauhelfer für ihre Zwecke nach Belieben einspannen und bei Bedarf gegebenenfalls »entsorgen« zu können.
Hammerstein war alles andere als ein Demokrat. Sein politischer Standpunkt kann allerdings als national-liberal subsumiert werden, was für damalige Zeiten fast schon als fortschrittlich galt. Sein Schwiegervater war der nationalistische Walther Freiherr von Lüttwitz, der 1919 bei der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht beteiligt gewesen war und als Mitinitiator des sogenannten »Kapp-Putsches« vom März 1920 gilt (einige Historiker bezeichnen ihn inzwischen auch als »Lüttwitz-Kapp-Putsch«; Enzensberger sieht Kapp nur als Lüttwitz’ Strohmann). Hammerstein war lange auf die Protektion des beinharten Schwiegervaters angewiesen, der die Ehe argwöhnisch beäugte.
»Überstehen, ohne zu kapitulieren«
Warum beschäftigt sich jemand wie Enzensberger mit dieser Familie? In einer seiner zahlreichen postumen Unterhaltungen mit Persönlichkeiten aus der Hammerstein-Familie und seinem Umfeld begründet er diese Arbeit: Die Geschichte Ihrer Familie beschäftigt mich, – Enzensberger ist im »Gespräch« mit Helga von Hammerstein, einer Tochter (1913–2001) – weil sie viel darüber sagt, wie man Hitlers Herrschaft überstehen konnte, ohne vor ihm zu kapitulieren.
Kurt von Hammerstein und seine Frau Maria hatten sieben Kinder, die zwischen 1908 und 1923 geboren wurden; vier Mädchen und drei Jungen (der Stammbaum am Ende des Buches verhindert Verwechslungen und ist nützlich). Die Erziehung im Hause Hammerstein ist ausgesprochen fortschrittlich; selbst für heutige Zeiten. Hammerstein wird zitiert mit der Aussage, seine Kinder würden zu »freien Republikanern« erzogen. Bereits sehr früh hatten sie grosse Freiheiten, was sich u. a. daran zeigt, dass eine seine Töchter vorzeitig die Schule verlassen konnte, weil sie es so wollte.
Im Laufe des Buches verlagert sich naturgemäss der Schwerpunkt auf die biografischen Erlebnisse der Kinder, insbesondere der 1908 geborenen Marie Luise (gestorben 1999) und Helga. Sie (und auch eingeschränkt Maria Therese) schliessen sich sehr früh kommunistischen Parteien und Organisationen an; fungieren teilweise als »Spione«. Die Verstrickungen speziell von Marie Luise und Helga in den kommunistischen Widerstand und den stalinistischen Säuberungen in Moskau werden detailliert behandelt – inklusive der Verwicklungen, Taten und Verfolgungen der Ehemänner und Freunde der Hammerstein-Töchter.
Das Exempel der Ausnahme?
Am Ende bilanziert Enzensberger noch einmal seine Recherchen und das Interesse an den Hammersteins. An Hand der Geschichte der Familie haben sich auf kleinstem Raum alle entscheidenden Motive und Widersprüche des deutschen Ernstfalls wiederfinden und darstellen lassen: von Hitlers Griff nach der totalen Macht bis zum deutschen Taumel zwischen Ost und West, vom Untergang der Weimarer Republik bis zum Scheitern des Widerstands, und von der Anziehungskraft der kommunistischen Utopie bis zum Ende des Kalten Krieges. Fast pathetisch wird Enzensberger dann noch: Nicht zuletzt handelt diese exemplarische deutsche Geschichte von den letzten Lebenszeichen der deutsch-jüdischen Symbiose – die Anziehungen insbesondere von den Hammerstein-Kindern in den 20er und 30er Jahren werden ausgiebig geschildert – und davon, dass es lange vor den feministischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte die Stärke der Frauen war, von der das Überleben der Überlebenden abhing.
Ein wenig spiegelt dieses kleine Resumée das Problem des Buches: Für wen soll Geschichte der Famile exemplarisch sein? Alle Hammerstein-Kinder waren zeitweise oder dauernd unter nicht unwesentlichen Risiken für das eigene Leben in widerständlichen Gruppierungen engagiert. Das ist – leider – eben genau nicht exemplarisch für deutsche Familiengeschichten – selbst in diesen Kreisen. Und was soll das Lob auf die Stärke der Frauen in präfeministischen Zeiten? War das nicht in den 50er-Jahren in der »Trümmerfrau« schon Konsens – ohne ideologischer Überbau bzw. Dekonstruktionslust?
Enzensbergers detailreiche Familienbiografie ist mäandernd geschrieben; eine Chronologie gibt es zwar, aber entsprechend der vielen Brechungen und simultanen Überschneidungen ab der späten 30er Jahre gerät der Erzählfluss gelegentlich ins Stocken – nicht zuletzt auch durch die vielen eingeschobenen literarischen Winkelzüge wie jene bereits angesprochenen »postumen Gespräche« oder den »Glossen«. Beklemmend und gelungen sind die Schilderungen des kommunistischen Widerstands und dessen Selbstzerfleischung durch die diversen »Säuberungen«. Insbesondere das Schicksal von Helgas Mann Leo Roth (er wird 1937 in Russland ermordet) wird eindrücklich präsentiert. Man fühlt sich ein bisschen an Heinrich Breloers Film über Herbert Wehner und seine beklemmende, szenische Darstellung des ominösen »Hotel Lux« erinnert (es kommt natürlich in diesem Buch genau so vor wie Wehner). Während aus Nazideutschland die Intelligenz ermordet oder vertrieben wird, füsiliert sich der kommunistische Widerstand untereinander auch noch selber. Es sind diese Szenen der merkwürdigen ideologischen Verbohrtheit einiger Funktionäre, vermischt mit Denunziantentum und messianischem Grössenwahn, der einem nach Studium der zahlreichen Quellen (auch Aktenzitate) gelegentlich Trauer und Wut ob dieser sinnlosen und kontraproduktiven »Verschwendung« der brillantesten Köpfe aufkommen lässt. In dem man sich derart mit sich selber beschäftigte, blieb oft genug die Aufmerksamkeit auf den tatsächlichen Feind aus.
Im Stile Breloers
Nicht immer vermag man der Objektivität des Enzensbergerschen Schlusses glauben – zu pointiert, zu hämisch manchmal seine Seitenhiebe. Dabei soll dieses Buch ausdrücklich nicht als Roman verstanden werden. Am ehesten kommt einem noch die Kategorisierung »Doku-Drama« in den Sinn, sozusagen Breloers Technik vom Fernsehen auf das Buch übertragend. Dies jedoch würde bedeuten, dass die noch lebenden Personen der damaligen Ereignisse, also noch zwei Hammerstein-Kinder (ein drittes, Kunrat, starb 2007) direkt in Gesprächen zu Wort gekommen wären. Das ist aber nicht der Fall und Enzensberger berichtet in der letzten Glosse explizit, dies sei absichtlich und auf ausdrücklichen Wunsch der Beteiligten geschehen – um dann wenige Seiten später genau denen seinen Dank auszusprechen, die ihm nicht nur ihre Photographien, – das Buch hat fast 70 Bilder – sondern auch ihre Erinnerungen anvertraut haben. Hierdurch wird nicht immer deutlich, was Enzensberger nun direkt aus erster Hand erfahren hat, und was anderen Überlieferungen zufolge aufgeschrieben wurde.
Einen peripheren Überblick bekommt man zusätzlich über einige bisher nicht unbedingt im Rampenlicht stehende Protagonisten des Widerstands (beispielsweise Werner von Alvensleben; Carl-Hans Graf von Hardenberg) mit denen Kurt von Hammerstein zu Lebzeiten in Kontakt stand.
Fast mitleidig blickt Enzensberger auf jene, die nach 1945 quasi von der einen Diktatur in die andere »geflüchtet« sind und dort ideologische Heimat suchten. Hier ist der Ton fast schon despektierlich, als sei die Verirrung, die man heute im Wissen um die stalinistischen Verbrechen durchaus verurteilen kann, nicht aus den Zeitläuften und Ereignissen heraus mindestens erklärbar.
Ein bisschen scheint dieses Buch einerseits beruhigend, andererseits aufrührend gemeint zu sein, und zwar insbesondere an die Generation der »Flakhelfer« (Enzensberger ist 1929 geboren). Beruhigend dahingehend, dass es also durchaus auch im aristokratisch-bürgerlichen Lager einen Widerstand jenseits der gängigen Geschichtsschreibung gab. Und aufrührend dahingehend, dass dies ohne per se dem Tode geweiht gewesen zu sein sehr wohl möglich war. Und so kann das Motto des Buches, Kurt von Hammersteins knappe, ein wenig skurrile, aber dann doch ungemein treffende Sentenz »Angst ist keine Weltanschauung« als Handlungsmaxime verstanden werden, die, wäre sie mehr beherzigt worden (nicht zuletzt auch von ihm selber), nicht zu millionenfachem Leid geführt hätte.
Interview
Hier ein Interview mit Enzensberger im Spiegel über »Hammerstein«
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,525843,00.html
Sehr gute, objektive Analyse! Habe ich gerne gelesen!
Danke für den Link
Interessant Enzensbergers Aussage »Ich wollte ohne Fiktion auskommen. Der Leser muss sich auf meinen Bericht verlassen können«. Und wenig später dann: »Die Glossen und die Gespräche muss ich auf meine Kappe nehmen.«
Löblich, dass er das im Buch sehr deutlich trennt. Die Authentizität der vorgebrachten Dokumente kann der Leser schlecht kontrollieren. Gelegentlich korrigiert HME falsche Zahlen oder Fakten, in dem er die richtigen in Parenthese setzt. Manchmal lässt er es aber auch.
Seine Aussagen zur ‘Weimarer Republik’ sind – auch in dem Interview – reichlich flach.
»Angst ist keine Weltanschauung«
... wird aber offensichtlich sehr als Beteiligte an den diversen Weltbildern unterschätzt.
(Ich weiß, das gehört hier nicht hin, ich wollte Sie aber auf jeden Fall drauf aufmerksam machen, für den Fall, dass es sonst übersehen würde. Und auf noch nicht bestimmbare Weise passte es auch wiederum. Oder? Diese »Alten« definieren ja gerne die Dekadenz der anderen...)
Ich habe deinen Text jetzt nicht zu Ende gelesen, aber er hat mich auf das Buch neugierig gemacht. Werde lesen und dann hierher zurückkehren.Vielen Dank für den Tipp!
Ich bin der Groß-Enkel mütterlicherseits, des in H.M. Enzensbergers HAMMERSTEIN [wie so vieles, besonders der ganze deutsche Widerstand] nicht in die richtigen oder genügendem Verbindungen gebrachten Werner von Alvensleben [Neugattersleben] „Go-Between« von Schleicher zu H., dessen Idee, zur heiklen Zeit 1933. http://en.wikipedia.org/wiki/Werner_von_Alvensleben
Es sollte die Potsdamer Garnison auf Marsch geschickt werden um das Unwohl, die Pervertierung aller Werte zu verhindern, eine Vorstellung die H. in grossen Schrecken versetzte. Der Opa war, wie ich schon im Alter von vier Jahren erfuhr, ein Witzbold, während eines Erlebnisses das eines meiner wichtigsten „screen memories« werden würde – Weihnachten 1941. Wie Freud so treffend bemerkt: es gibt keine guten Witze. Der Opa fand der Witzbolde zu wenige (wie ich zu anderer Zeit). Die Welt leidet an Humorlosigkeit, das heisst an zu wenig Phantasie. Außerdem können Unholde von überall auftauchen. Dieser Großvater stand auch deswegen auf der Liste der zu Ermordenden am Wochenende der „langen Nazi Messer« in 1934. Hammerstein hat zur entscheidenden Stunde nicht funktioniert, wie die ganze angebliche Elite.
Hätte der Opa-Freund, der Polizeipräsident von der Mark Brandenburg und Berlin, Graf von Helldorf [er war Freund, nicht nur Jagdkumpane? ich ersuche diese Familie schon seit Jahren um Auskunft], auch Leiter der SA dort, dem Opa nicht empfohlen sich doch mal auf die Jagdhütte zu begeben, wäre der Opa und nicht nur Schleicher und dessen Adjutant diesen Messern erlegen. Der Opa war auch der „gewisse Herr von A« den H. bei seiner Ansprache nach der angeblichen Verhinderung des Putsches, als angeblichen Anstifter des verhinderten Putsches nannte, vielleicht zu Recht wenn man Witze Ernst nimmt – Hitler als Putsch-Verhinderer, die Chuzpe, die Schmach, wer nahm ihm das ab?! Der Organisator dieser „langen Messer«, dieser Inszenierung einer „Verhinderung«, scheint – um den Rest der Macht den sie noch nicht hatten an sich zu reissen und den sozialistischen Teil der NSDAP zu vernichten – aber kein anderer gewesen zu sein als der Retter des Opas, der schillerndste der Schergen, der selbe Graf von Helldorf, der auch den Reichstagsbrand organisierte. Hammerstein stand nicht auf der Liste. Möglicherweise war es auch Graf von Helldorf, Ultra-Nationalist, der es die Vollstreckung des Todesurteils über den Opa verhinderte und auf „lebenslänglich« erniedrigte, und das lebenslänglich auf vier verschiedene lange Visiten in deutschen KZs, sonst hätten sich in meiner Psyche auch nicht gewissen Übertragungen ereignet um Weihnachten 1941 herum.
Graf von Helldorf war schon beim Kapp Putsch dabei; dann, ab 1938, dem Widerstand deutscher Offiziere zugehörig, und kurz nach dem 20. Juli hingerichtet, im nachhinein einer der schillerndsten Figuren; seine Rolle jetzt eher unbeleuchtet. Ich wundere mich auch, dass der Opa dann, im Herbst 1944, nur zu zwei weiteren Jahren von dem »Volks«-Gerichtshof verurteilt wurde [er und Otto Pechel, mit dem er zusammen vor Gericht stand, und mit Glacéhandschuhen angefasst wurde, wenn man dementsprechendes mit Guantánamo-»Verhandlungen« vergleicht – der Bürokratie sei Dank, dass alles schriftlich festgehalten wurde]. Dann wurde er von den Amerikanern im April 1945 entweder in Magdeburg oder Buchenwald befreit – aber in einem Zustand, dass er zeitlebens seinen nackten Rücken weder seiner Frau noch meiner Mutter wagte zu zeigen. 1947 las ich eine Beschreibung dessen, was ihm da angetan wurde. Es erzeugte ein Zucken in mir und war Anlass (neben familiären Gründen), das Märchenmörderland schnellstens zu verlassen.
Mit solchem Familienhintergrund ist es nicht zu erstaunlich, dass ich mich für diese Geschichte dann interessierte und in den späten 60er Jahren viel Zeit in Instituten und Archiven aller Art verbrachte, um eine Biographie von Oberst Kurt Grosskurt zu versuchen. Grosskurt, ein Pastorensohn aus Bremen, Canaris’ Abwehr zugehörig [wie auch meine eigenen Eltern ab 1934], in Stalingrad in Gefangenschaft, und dort verstorben. Er interessierte mich, da seine Motivationen ausser »Ehre« und Mutter- und Vaterlandsliebe oder Kantischer Ethik lag.
Während dieser sehr enttäuschenden Recherchen tauchte der Name Hammmerstein aber nur am Rand auf – wie es sich ja auch gehört. „Die Deutschen sollten ihre Suppe dann mal selbst auslöffeln,« wenn er das wirklich sagte, ist doch eine der ungehörigsten grässlichsten Sätze die ich seit langer Zeit zu lesen bekam. Wie konnte man denn eine Bande, die schon seit zehn Jahren intern mordete, an die Macht kommen lassen ohne zu wissen, dass so macht- und blutrünstige nie davon wieder ablassen würden? Was ist die Schuld „der Deutschen« am Reichstagsbrand und and der „Nacht der Langen Messer«? –
Ausser dem Offizierskorps und der angeblichen Elite ist vielleicht die deutsche Justiz Schuld, die es nicht wagte, sich aufzulehnen. Aber ein Volk kann doch nicht dafür schuldig gesprochen werden dass es überrumpelt wird-. Die treffendste Formulierung über Nazi- Deutschland in den 30er Jahren für mich stammt von jemandem der trotz all seinem Frankreich-Hass Franzose blieb, dem Dieb and Prostituierten, dann später grossen Schriftsteller Jean Genet der, als er sich von Polen durch das Deutschland der 30er Jahre zurück nach Frankreich mogelte, notierte, dass Deutschland das allerschlimmste sei, denn da gab es keinen Unterschied mehr zwischen Kriminalität und Polizei [Journal de Voleur].
Es sollte dann auch so kommen, dass ich Herrn Enzensberger zu einer Zeit gut kennen lernte, als ersten der wichtigen deutschen Nachkriegsschriftsteller, in 1961 bei Ruth Landshof-York, einer Verwandten des Fischer Verlegers, Bermann. Und dann zwei Essay- Sammlungen („The Consciousness Industry« und „Politics und Crime«) übersetzte und in New York verlegte. Die Einführung in das Werk von Nelly Sachs und von Barthalomew de las Casas überzeugte mich am meisten vom diesem so hoch intelligenten Wesen der frühen Zeit, auch noch „Das Mausoleum,« Wissenschaftsballaden. Außerdem sollte es dazu kommen, dass ich kurz bei Siegfried Unseld in der Klettenbergstrasse wohnte als E. und U., ein Hypokrit alter Schule, in furchtbarem Streit geritten über die Kursbuch Nummer von der Kommune 2 wo E., wenn man so liest was er vorgibt gewesen zu sein, wohl als Voyeur eine Zeit lang hauste. Kursbuch wurde dann ein eigener Verlag eine Zeit lang. E. zerfliesst einem zwischen den Fingern wie er sich von Jahr zu Jahrzehnt verwandelt. „Ach so! Ich dachte...“ In den frühen 70zigern hatte E. der Literatur abgeschworden , lebten in einem linken Wolkenland das Literatur überflüssig machte! Dauerte dann aber nicht lange bis man sich den „Siegern“ anschloss! Ungewoehnliches Chameleon.
Was mich – den die Familiengeschichte[n] dann ab Sommer 1945 aus seinem Traumen erweckte und permanent politisierte – bei der ersten Heimkehr, Adenauerland 1957, erstaunte war, dass das Land ein wieder eingeschläfertes war. Das trifft natürlich nicht nur auf Deutschland zu – wir leben in dem permanenten Zustand, „ja was kann man schon tun.« Ob die komplette Perversion aller Werte, die den Nazis gelang, ausgetilgt ist, scheint auch nicht der Fall.
Ich bin im Begriff die deutschen Kindheitserinnerungen [Die Idyllischen Jahre 1944–1947: Keine Ironie] in einem von einem imaginären alten Psychoanalytiker erzählten Roman einzubauen, wo ich mich als eigenen Fall behandle, zwar auf Englisch, dass ich dann mit einem Freund auch ins Deutsche übersetzen werde. Erlebnisperspektive anderer Art.
»Der Held Tatenlos« nennt Götz Aly seine profunde und starke Kritik in der Süddeutschen. Sehr lesenswert.
Das Literaturfeuilleton solte sich m. E. solcher Kritiken nicht annehmen, wenn sie nicht genug von den historischen Zusammenhängen verstehen (wie z. B. Ina Hartwig, die das Buch als »Coup« verklärt).
Seit der Schulzeit hatte ich Enzensberger gehasst. Wahrscheinlich lag es am Tonfall der linksintelektuellen Lehrer, die dabei dieses für Jugendliche so widerwärtige Pädagogische ausstrahlten. Später habe ich die Lücke dann zögernd und mit spitzen Fingern geschlossen. Nach dem Ausbruch des Irakkrieges habe ich mich mit einem »Siehste« dann wieder in meinen Vorurteilen bestätigt gesehen.
Das Hammerstein-Buch hört sich aber recht verlockend an (s.auch Buch der Woche im DLF Text/MP3). Seit dem Nadolny-Buch über die Ullsteins habe ich wieder Geschmack am historischen Sujet gefunden.
Zunächst: Sehr lesenswerte Rezension!
(Kleiner Schönheitsfehler, m.E.: H i n r i c h t u n g Kurt von Schleichers? Das war doch keine legale Tötung. [Es sei denn, man folgt Carl Schmitt.]
– Sodann, Tippfehler am Ende ...Karl von Hammersteins knappe, ein wenig skurrile...)
Was mich neugierig machte, war die Aussicht, bei HME etwas zur Kontinuität von Eliten im Deutschland des 20. Jahrhunderts zu erfahren. Davon weiß ich zu wenig, was sich bemerkbar macht:
Ob’s die Überraschung ist, in der Wikipedia zu lesen, dass EKD-Chefbischof Wolfgang Huber der Sohn des NS-verstrickten Juristen Ernst Rudolf Huber ist, oder das leise Erstaunen, in der Todesanzeige von Dorothee Sölle die Namen Nipperdey und Tolmein zu finden – mitunter tun sich schlaglichtartig kleine Knoten eines Netzwerks auf, das sich früher Elite nannte.
Ich wünschte mir mehr Lektüren von der Art Ulrich Herberts »Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989« – HME’s Hammerstein leistet leider nichts Gleichrangiges: Einige Verstrickungen werden zwar aufgedeckt, ihre historische Bewertung bleibt aber ein wenig knödelig. Die Hammerstein-Lektüre war eher eines jener Schlaglichter, weniger Aufklärung a la Herberts »Best«.
Nicht der Tippfehler an sich ist peinlich, sondern das er mir (und anderen) in dreieinhalb Monaten nicht aufgefallen ist. Danke für den Hinweis – ich habe es korrigiert.
Enzensbergers Buch ist sicherlich nicht als wissenschaftlich-historisches Werk zu sehen. Er selber lehnt eine solche Rubrizierung ja ab. Hierin liegt – meines Erachtens – ein zusätzlicher Schwachpunkt: Entweder das Buch will Erzählung, oder Roman sein – oder er wälzt Akten in Archiven. Enzensberger will ein bisschen von beidem – und dadurch gerät das alles ein bisschen oberflächlich. Grossen Teilen des Feuilletons recht das aber – was ja auch einiges über das Feuilleton aussagt.
Um knapp viereinhalb Jahre zu spät habe ich dieses Buch in die Hände bekommen und gerne gelesen. Danke für Ihre sehr ausführliche Rezension.
Ich frage mich immer wieder, warum gerade anhand eines solchen Buches die Frage diskutiert wird, ‘was ist wirklich geschehen?’. Weder in den Archiven des NKWD, noch im Bundesarchiv oder in den Erinnerungen der heute noch Lebenden sind doch reine Wahrheiten zu finden. So wie der Urenkel hier schreibt, das deutsche Volk sei von den Nazis (einer Bande) überrumpelt worden?
Richtig finde ich aber die Frage, ob die Weimarer Republik tatsächlich wie von Enzensberger und den Gegnern der Republik als vom Bürgerkrieg aufgefressene Gesellschaft beschrieben werden kann. Wie Detlev Peukert würde ich eher sagen, das Ende der Republik stand eben nicht von Beginn an und auch von von 1929 oder 1932 an fest. Das ‘deutsche Volk’ hat sie sich auflösen lassen und dem Führer den Vorzug gegeben.
Hier etwas ausführlicher zu Enzensbergers Buch, den Hammersteins und einer Politik des Eigensinns.
@Kim Berra
Vielen Dank für Ihren Kommentar und den Link zu Ihrem Text. Die aufgeworfene Frage, warum nach dem Wirklichkeitsbezug gefragt wird, ist m. E. einfach zu beantworten: Weil er in einem solchen Buch behauptet wird. Auch in den Passagen, in denen Enzensberger phantasiert und erzählt bezieht er sich auf die (vermeintlichen) historischen Fakten (die tatsächlich jenseits irgendwelcher Geheim- und/oder Spitzeldienste liegen). Ansonsten sollte er auch sein Buch umbenennen und für Hammerstein und die anderen Protagonisten fiktive Namen erfinden.
Enzensbergers Buch ist das, was man eine »Doku-Fiction« nennen könnte. Die Gefahr in diesem »Format« besteht darin, dass man Legendenbildung durch Legendenbildung befördert, ersetzt oder forciert.