Was „Schreckens Männer“ am Anfang interessant macht, ist, dass Enzensberger versucht, eine Typologie des frustrierten, gescheiterten und dann „ausrastenden“ Messerstechers, Mörders oder Amokläufers zu entwerfen, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger in altlinker Manier ausschliesslich „die Gesellschaft“ verantwortlich zu machen. Sein Versuch geht dahin, die persönlichen Umstände desjenigen zu hinterfragen, ohne in psychologische, vor allem jedoch soziologische Deutungsmuster zu verfallen (letzteres dezidiert – ersteres scheitert zwangsläufig [soviel muss vorweggenommen werden]).
Im Typus des „radikalen Verlierers“ erkennt Enzensberger den des Primats des Haushaltungsvorstandes verlustig gegangenen „Schläfers“, dessen Fass zum Überlaufen gebracht, irgendwann die Sekunden einer unbegrenzten Macht über andere auskostend, ausrastend wahllos(?) andere und endlich (meist) sich selbst richtet. In dem Augenblick, wenn es keinen gesellschaftlichen, sozialen Abstieg mehr gibt, sondern die Identifikation mit dem Unerreichbaren am stärksten ist, wenn er sich das Votum der anderen, die er für Gewinner hält, zu eigen gemacht hat, erfolgt die für uns so unbegreifliche Tat: Jeden Moment kann er explodieren. Darin besteht die einzige Lösung seines Problems, die er sich vorstellen kann: die Steigerung des Übels, unter dem er leidet...Um ihn zu kränken, genügt ein Blick oder ein Witz...Die abfällige Bemerkung eines Vorgesetzten genügt, und der Mann steigt auf einen Turm und zielt auf alles, was sich vor dem Supermarkt bewegt, nicht obwohl, sondern weil das Massaker sein eigenes Ende beschleunigen wird.
Ein beträchtliches Bedrohungsszenario entwirft Enzensberger da; wer das liest, geht am gleichen Tag wohl erst einmal nicht mehr einkaufen. Aber es kommt noch dicker. Auf Seite 21 dieses dünnen Bändchens (53 Seiten hat es insgesamt) gibt dann den Hitler-Vergleich. Hitler als Führer einer Nation, die sich als “radikale Verlierer“ fühlte. Er, Hitler, sei selber einer gewesen und gleichzeitig der Vollstrecker; radikaler Verlierer auf der Metaebene. Von Anfang an sei Hitlers Projekt die Niederlage gewesen, das Zerstören Deutschlands und das Mitreissen möglichst vieler Menschen in den Tod. Der radikale Verlierer will gar nicht mehr gewinnen, er will verlieren und vernichten; er hat sich derart mit seiner Rolle identifiziert, dass es kein Entrinnen mehr gibt.
Hitler als Metapher eines unsteuerbaren, unentrinnbaren Fatums? Quasi ein Amokläufer über 12 Jahre, der als Sündenböcke seines Selbsthasses Juden, Bolschewisten, Engländer, Amerikaner, Kommunisten, usw. brauchte? Jeder wild um sich schiessende ein (verkappter) Hitler?
Nicht das erste Mal, dass Enzensbergers Rekurs auf Hitler mindestens merkwürdig, wenn nicht überzogen wirkt (das ist nicht im „politisch-korrekten“ Sinne gemeint). Dass Hitler der sehnsüchtig herbeigewünschte Vollstrecker des Untergangs Deutschlands gewesen sein soll – das ist die reichlich verkürzende und die tatsächlichen politischen Verstrickungen und Entwicklungen verkennende These.
Und im gleichen Masse wie Enzensberger von amoklaufenden Schuljungen, gedemütigten Angestellten oder gehörnten Ehemännern seine These des radikalen Verlierers auf die nationalsozialistische Schreckensherrschaft transformiert – im gleichen Masse abstrahiert er von der ängstlich gewordenen globalisierten Wohlstandsgesellschaft des Westens auf die islamische Welt (die er oft ungenau als „arabische Staaten“ bezeichnet). Auch der islamistische Selbstmordattentäter sei ein radikaler Verlierer, auch seine Intention sei ein auf anderer Schuld aufgebauter Selbsthass (natürlich hier insbesondere die Israelis und die Amerikaner): Sein Triumph besteht darin, dass man ihn weder bekämpfen noch bestrafen kann, denn das besorgt er selbst. Dass er nicht nur andere auslöscht, sondern sich selber, ist seine letzte Befriedigung...
Aber wie auch schon vorher in seinem Text bleibt er nicht bei den individuellen Gegebenheiten stehen, sondern verallgemeinert (was er zwar durchaus anspricht und auch zugibt, dies jedoch als legitim für den Rahmen dieses kleinen Essays hält): Die Araber, die, wie es einmal heisst, in den letzten vierhundert Jahren [...] keine nennenswerte Erfindung hervorgebracht hätten, seien durch ihre politischen und gesellschaftlichen Eliten selbst Schuld an ihrer empfundenen Bedeutungslosigkeit. An Einzelbeispielen versucht Enzensberger eine soziale und kulturelle Stagnation oder gar Regression des Islam zu diagnostizieren – beispielsweise in dem er auf die stark unterentwickelte Buchkultur hinweist (nur 0.8% der Weltbuchproduktion werden in der arabischen Welt gedruckt) oder die mangelhaft entwickelten Frauenrechte thematisiert (wobei er sehr wohl auf die Studentinnenquote im Iran hinweist – gleichzeitig aber diese in Saudi-Arabien unterschlägt).
Kronzeuge ist der zwischen 2002 und 2004 im Auftrag der Vereinten Nationen erstellte „Arab Human Development Report”.
Enzensberger bemerkt, dass – trotz der enormen Einnahmen durch die Ölförderung – die 22 Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga (280 Millionen Menschen) kaum bessere Indikatoren als schwarzafrikanische Staaten hinsichtlich Pro-Kopf-Einkommen, Lebenserwartung, Schulbildung und Alphabetisierungsgrad aufweisen. Die Frage Wie ist es zum Niedergang jener Zivilisation gekommen? beantwortet er u. a. mit Dan Diners Buch „Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt”, in der er das schwindende Wissenskapital der arabischen Gesellschaften durch Sabotierung der Einführung der Druckpresse durch islamische Rechtsgelehrte rekurriert wird: Erst mit dreihundertjähriger Verspätung konnte die erste Druckerei gegründet werden, die in der Lage war, Bücher in arabischer Sprache zu produzieren. Die Folgen für Wissenschaft und Technik der Region sind bis heute spürbar.
Desweiteren macht Enzensberger den fehlende Ausbau einer umfassenden Infrastruktur für das Hinterherhinken verantwortlich. Auch konstatiert er eine sehr hohe Auswanderungsquote von Intellektuellen, Wissenschaftlern und Ingenieuren aus der Region. Die Ölförderstaaten bezeichnet er als parasitär, da sie nicht einmal in der Lage gewesen wären, die notwendige Technik zur Förderung des Öls selber zu produzieren, sondern auf westliche Unternehmen zurückgreifen müssen. Ein bei näherer Betrachtung in einer arbeitsteilig organisierten Weltwirtschaft merkwürdig anmutender Vorwurf – auch und gerade politisch betrachtet, da Versuche von Staaten, die Wertschöpfung ihrer Rohstoffe selber in die Hand zu nehmen sehr oft zu Interventionen des Westens geführt haben (bspw. Mossadegh im Iran 1953).
Wie in der westlichen Welt sieht der radikale Verlierer in der islamischen Welt die Fehler für die Unterentwicklungen und Demütigungen ausschliesslich bei den anderen; das eigene System wird nie befragt. Enzensberger hält die Mehrheit der Muslime (die er mit 1,3 Mrd. Menschen angibt) für durchaus friedlich – dennoch äussert er (nur mühsam einschränkend) die Vermutung, dass rund 7 Millionen derartiger „radikaler Verlierer“ zum äussersten entschlossen seien (Wolfgang Sofskys Zahl zitierend).
Interessant ist die Parallele zu Fukuyamas These, was die Protagonisten des Islamismus (genauer müsste man wohl Dschihadismus sagen) angeht. Wie der Amerikaner sieht Enzensberger auch, dass die Emigration die psychischen Risiken der Verlierer nicht mindert, sondern verschärft. Unabhängig von ihrer ökonomischen Lage sind die entwurzelten Migranten aus dem arabischen Raum durch die unmittelbare Konfrontation mit der westlichen Zivilisation einem dauerhaften Kulturschock ausgesetzt...Der scheinbare Überfluss an Waren, Meinungen, ökonomischen und sexuellen Optionen führt zum ‚double bind’ von Attraktion und Ablehnung, und die fortwährende Erinnerung an den Rückstand der eigenen Zivilisation wird unerträglich.
Wo Fukuyama (vorsichtig) die europäische Sozialpolitik in der Pflicht sieht, spielt Enzensberger den Ball an das Individuum zurück. Den Rückstand der eigenen Zivilisation hält Enzensberger für ausgemacht. Er wird nicht hinterfragt; im Gegenteil, der westliche „Dialog“ mit dem Islam, ein irgendwie gearteter Werterelativismus wird von ihm als Schwäche empfunden. Hier ist Enzensberger ganz dicht bei den amerikanischen Neokonservativen à la Krauthammer angekommen.
Zwar ist sein Gedanke, der sich orthodox gebende Islamismus sei in Wahrheit ein Kind der (meist links-)terroristischen „Befreiungsorganisationen“ der 70er und 80er Jahre, sehr gut nachvollziehbar (wobei er – en passant – diese „Organisationen“ als regional marginalisiert ausmacht, während er den Islamismus als einzig verbliebene, global agierende „Verlierer“ sieht). Die These, der orthodox agierende Islam setze den Koran an die Stelle von Marx, Lenin und Mao und als revolutionäres Subjekt dient nicht mehr das Weltproletariat, sondern sie ‚ummah’, als Avantgarde und selbsternannter Stellvertreter der Massen nicht die Partei, sondern das weit verzweigte konspirative Netzwerk der islamischen Krieger stellt jedoch ein krasser Fehlgriff in der historischen (und gesellschaftlichen) Interpretation des Phänomens des Kommunismus auf der einen und des (sogenannten) Islamismus auf der anderen Seite dar.
Und natürlich werden dann noch entsprechende Suren zitiert, wenn es um Frauen und ihre Rechte und Pflichten geht und auch 9,29 darf nicht fehlen – wenn es darum geht, die „Ungläubigen“ zu bekämpfen. Enzensberger gibt sich erst gar nicht die Mühe, „entlastendes“ Material zu zitieren und begibt sich damit exakt in die Falle derer, die er vorgibt zu bekämpfen. Da mag ein Lektor gefehlt haben oder einfach nur die Bereitschaft zur etwas objektiveren Sicht. Jedenfalls springt er dem stammtischähnlichen Pauschal-Bashing des Koran allzu willig bei, freilich hübsch formuliert.
Lösungen bietet Enzensberger (wie auch schon in seinen anderen Essays beispielsweise über den weltweiten Bürgerkrieg oder die Zuwanderung) nicht an. Das muss er auch nicht. Aber seine Diagnose ist derart holzschnittartig, dass man sich genauere, detailliertere Ausführungen schon gewünscht hätte. So kommt das Büchlein (als Sonderdruck in der „edition suhrkamp“ erschienen) allzu forsch daher. Dabei wirkt es gelegentlich wie ein Pfeifen im Wald wenn es um die Beschwörung der Überlegenheit des Westens geht. Das ist – alles in allem – wenig originell.
Alle kursiv gesetzten Wendungen und Sätze sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Zusätzliche Materialien:
- Eine eher positive Rezension der FAZ
- Eine eher reservierte Besprechung in der ZEIT
- Gespräch Hans Magnus Enzensberger mit Josef Joffe
Kommentare bitte hier oder evtl. auch hier.
Immer wieder einmal wundere ich mich darüber, daß die Äußerungen des »größten Intellektuellen der Gegenwart« mir kaum jemals Interesse wecken.
Auch obige Besprechung habe ich gerne zur Kenntnis genommen, ohne daß der geringste Wunsch entstanden wäre, E.s Versuch selbst zu lesen.
Vielleicht hängt das damit zusammen, daß E. von sich sagt, er habe den Sozialismus rauf und runter kennengelernt und sei mit ihm komplett fertig.
Ich habe Etliches vom Sozialismus kennengelernt und bin erfreulicherweise damit gar nicht fertig.
So ent- und verwirren sich die Wege anders.
Der Vorteil
der Enzensberger Essays: Sie sind kurz. Der Nachteil: Sie zeichnen sich (meiner unmassgeblichen Meinung nach) nicht unbedingt durch stringente Argumentationen aus, sondern reihen Vermutungen und Thesen aneinander. Sympathisch fand ich im Gespräch mit Joffe, dass er Essays als »Versuche« bewertet, also den Begriff sozusagen wörtlich nimmt. Seine letzten »Versuche« sind m. E. merkwürdig schwach.
Vielleicht ist ihm sein früheres, unauslöschbares Engagement für den Sozialismus einfach nur peinlich und wie so oft sind die Konvertiten die schlimmsten...
enzenserger, adolf hitler, etc.
I was just reading your comments on enzensberger’s latest, lothar. i call your attention to two excellent psychoanalytic studies on Hitler, by fritz redlich,
http:// www. yale. edu/ opa/ v32.n15/ story21. html
[LINK INAKTIV – G.K. 15.11.2016]
very thorough, by
someone who had great Viennese medical training too; and ted dorpat’s
WOUNDED MONSTER who has, for me,a convincing theses. aside h.s childhood problems
which he shared with kafka, celan and no end of gentile sons, i.e. a family constellation of a petit bourgeois father, more or less brutal, and an indulgent self-pitying mother, h. spent
five years at the front, without interruption, as a courageous runner; until he was gassed, recovered, then went into shock when a shell exploded nearby.
post traumatic stress which means that forever after you will want to return to the state in which you were traumatized so as to be able to overcome it, impossible, fr. pron.unciation.
and then the bad company he kept. he was a german nationalist when he joined the german army as an austrian national in 1914, he might have also joined the austrian army.
the self-pity was there at the very end too, when he said that the german people had failed him; and the displaced guilt in thinking that he would be remembered as the »mass murderer of the swiss«....[see goebbles diary] no extreme ressentiment on the part of the german people, no hitler. howeve,r he never won, nationally, more than 33 % of the vote. only exceeded that percentile in certain regions ie Thuringia,
the re-instituted father /fuehrer/kaiser dictatorship points to the weakness of general population in needing to have a displaced super-ego that leads it, freud on mass psychology, mitcherlich then as someone who demonstrated the consequences.
i still have to read the enzensberger, have only read summaries of it. it’s a question of how to direct aggression. i would say, there was a big analytic discussion on line on this too at
the ijpa.org/ [LINK INAKTIV – G. K. 20.05.2015]
as you know i know enzensberger’s work. basically he is talking t:urning against the self,« masochism. masochists as was pointed out a long time ago are the most grandiose of victors. its a win win win situation for the terrorist, inrapsychically speaking, that i think gets to the hear of the issue.
e. already wrote quite brillliantly about the russian 19th century terorists back in the 70s. in politics and crime/ politik und verbrechen. meanwhile, like hitchens here, he has sold out.