Das einst hymnisch beschworene »Haus Europa« hat seit gestern eine neue, große Beschädigung erfahren. Russlands Präsident Putin hat die »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk, die er selber mit Hilfe willfähriger Separatisten als Pfahl im Territorium der Ukraine 2014 etabliert hatte, jetzt sozusagen diplomatisch anerkannt. Das widerspricht dem seit Jahren brachliegenden sogenannten »Minsker-Abkommen« zwar, aber egal. So schafft man Fakten, wie schon mit der Besetzung der Krim oder dem Operettenstaat Süd-Ossetien in Georgien; letzterer ist nur noch den wirklich Interessierten ein Begriff.
Das Geschrei ist groß, wie üblich. Der Ruf nach harten Sanktionen wird laut, wobei nicht ganz klar ist, welcher Art diese sein sollen. NordStream2 kann man natürlich vergessen. Aber dann? Nimmt man Russland generell das Gas nicht mehr ab? Möglich, aber wie wird es substituiert? Wir befinden uns doch, wie es so schön heißt, in einer »Transformation«. Also keine Kernkraft mehr in Zukunft, keine Kohle, kein Öl, kein Gas. Und das alles auf einmal. Der Strom, so die Botschaft, kommt ja aus der Steckdose. Und die Heizung?
Was sonst? Da ist die Rede von Hochtechnologie, die nicht mehr nach Russland exportiert werden darf. Gute Idee, aber es wird immer Nischen geben. Und dann gibt es ja noch die Chinesen. Die tauchen bei den Überlegungen der Medien-Atlantiker kaum auf. Dabei ist klar, dass Putins Manöver zur Destabilisierung der Ukraine ohne Duldung der Chinesen (oder ist es mehr?) gar nicht möglich wäre. Ihm ist klar, dass der sich aufplusternde Westen seine Monopole verloren hat. Russlands Kurs spielt dem ebenfalls expansionistischen China in die Hände. Das nimmt Putin in kauf.
Die USA mit einem tattrigen Präsidenten fällt derzeit aus. Was soll sie auch tun? Selbst einer Sandalen-Armee wie den Taliban war man nicht gewachsen, weil man nicht die Konsequenzen tragen wollte – zahllose Opfer und Billionen Dollar Einsatz für Jahrzehnte. Aber wofür? Die Niederlage in Vietnam konnte man noch militärisch erklären. Der wilde Abzug aus Afghanistan war ein Zeichen der Ohnmacht.
So wird jetzt nicht mehr die Freiheit am Hindukusch verteidigt. Und, so viel kann man ahnen, auch am Dnepr eher nicht. Bismarcks pommerscher Grenadier kommt einem in den Sinn. Es bleibt ein Rätsel, was Putin mit den ökonomisch maroden ostukrainischen Gebieten anstellen will. Sie dienen wohl nur dazu, in den Geschichtsbüchern nicht als der Verweser eines untergegangenen Reiches dazustehen. Die bisherigen »Geländegewinne« von Putinia waren ja eher übersichtlich. Womöglich will er sie auf die Provinzgrenzen der Ukraine noch ausdehnen. Das würde Krieg bedeuten. Aber wie will man als »Westen« darauf reagieren?
Die Scharfmacher werden aus ihren gut gepolsterten Sitzen heraus Maximalforderungen stellen. Andere werden Verhandlungen bevorzugen. Beide sind für je ihre Position naiv. Es bleibt am Ende bei Papiergeraschel. Putin weiß das und das macht die Situation nicht besser. Plötzlich wirkt wieder die Logik des Kalten Krieges. Das ist nicht gut.
Der wichtigste Spieler wurde bereits angesprochen: China. Man wird sich sehr genau ansehen, wie die USA reagieren. Denn man lugt auf Taiwan. Und das hätte eine andere Dimension. Russland mag der Westen mit geschickten Sanktionen noch einige Schmerzen zufügen können – China nicht. Man besitzt Währungs- und Goldreserven und dominiert die Weltwirtschaft. Und dass Globalisierung vor Kriegen schützt, ist auch nur ein Märchen.
AM MITTWOCH BEGINNT DER KRIEG – Auszüge aus dem Journal 2022
15. Februar 2022, Bad Kleinheim (vulgo Baden bei Wien)
Glaubt man den Berichten der amerikanischen Geheimdienste, beginnt morgen der Krieg in der Ukraine. Der senile amerikanische Präsident tut so, als glaubte er es, und viele, die auf ihn hören, verbreiten die Kriegs-Hysterie im „westlichen Lager“. Wie aufgeschreckte Bienen schwirren die Verantwortlichen für den Bienenstock Europäische Union zwischen ihren jeweiligen Fluglöchern und den Landebahnen in Kiew und Moskau hin und her. Putin sitzt an seinem langen eis-weißen Tisch (er erinnert mich an Hitlers Anmarschkorridor in der neuen Reichskanzlei) und verwahrt sein Lächeln für nach dem jeweiligen Treffen. Putin plant keinen Krieg, er will es billiger haben. Was? Die Glorie der Sowjetunion, die blutige Krone der Roten Armee auf dem Haupt des Zarenreiches. Aber ohne Blut. Auf die glatte, blutlose Weise, wie im Handstreich um die Krim. Bei dem Wort Krim kann ich nicht verhindern, in die Folgegedanken hineingezogen zu werden, wie ich sie im Kopf von Putin ihren fixen Platz einzunehmen vermute. Ich denke an den Krim-Kanal, der das dringend benötigte Wasser aus dem Dnepr. Ohne das Wasser ist die nördliche Krim wenig wert. Das Wasser muss man kontrollieren. Zurzeit habe es die Ukrainer abgesperrt. Das muss sich ändern. Am besten erreicht man das, wenn man den Zufluss zum Kanal kontrolliert. Die neue Brücke von der Provinz Krasnodar nach Kertsch ist zwar ein Prestige-Objekt, aber keine Lösung. Es geht um die Landverbindung des Kernlandes Russland mit der Krim. Der Donbas ist der Anfang davon, aber Putins Gedanken kann das nicht befriedigen. Ich bin sicher, in seinem Kopf gibt es so etwas wie die Dnepr-Linie. Alles östlich des Dnepr Gelegene ist Kernrussland, also auch die am linken Ufer des Dnepr gelegenen Stadtviertel von Kiew, bis an die Mündung bei Cherson, wo Kaiser Josef der Zweite die neue, im Bau befindliche Flotte der russischen Zarin Katharina besuchte. „Das Holz ist zu grün!“ Damit flösse wieder das Wasser im Krim-Kanal. Und Odessa ist nicht weit, die breite Treppe für Eisensteins Potomkin-Matrosen-Sturm, und mit Odessa natürlich das abtrünnige Moldawische Trans-Nistrien – womit die südliche Klammer um die Rest-Ukraine mit dem im Kopf Putins schon mit Groß-Russland wiedervereinigten Weißrussland perfekt wäre. Das sehe ich hinter der Stirn des am langen eis-weißen Tisch sitzenden Putin, der geduldig den Reden der aus ihren Fluglöchern in der uneinigen Union am anderen Ende der Gasleitungen aus Sibirien um den Anschein ihrer Rolle besorgten NATO-Abhängigen. Die NATO, dieses anachronistische Vehikel der USA aus der Zeit des Babybooms als Folge des Rüstungsbooms, den der Zweite Weltkrieg dem Land verpasst hatte, als Mao Tse-Tung sich nach dem Langen Marsch und dem Versteck in den Bergen zurück in Peking die Republik ausrief.
Seither ist über ein halbes Jahrhundert verstrichen und China zurück auf dem Weg, den es fünftausend Jahre lang als Reich der Mitte (auf dem Erdball) innehatte. Das ist das Problem der USA, die Ukraine nur eine willkommene Ablenkung vom Stillstand im Kongress und den Trucker-blockaden an der kanadischen Grenze. Blamage auf Blamage von Teheran über Bagdad und Damaskus bis Kabul, trotz der gigantischen Militärausgaben zulasten eines Gesundheitssystems für die amerikanische Allgemeinheit. Und die Nato-Zöglinge schwirren immer noch aus ihren Fluglöchern nach Moskau an den langen eis-weißen Tisch im Kreml und sagen dort ihre im Weißen Haus vorgeprägten Sprüche auf, statt Putin die Hand zu reichen und zu sagen: He, Kumpel, wir wissen, die Zeit der NATO ist vorbei, die Welt der Nachkriegszeit mit seiner vereinfachten West-Ost Konfrontation existiert nicht mehr. Die USA haben ein West-Problem und wir in Europa ein Süd-Problem, da ist nichts weniger gefragt als eine NATO. Da brauchen wir, ja wir, Westeuropa und das eurasiatische Russland eine gemeinsame Ausrichtung, um in dem neuen Kräftespiel zu bestehen. Lassen wir endlich Amerika aus dem Spiel. Das soll sich um seine Probleme kümmern, wir kümmern uns um unsere Probleme, verlängern die Gasleitungen aus Sibirien bis in die Bretagne, schalten die Atommailer an der Küste des Atlantiks ab und stellen den Import von Flüssiggas aus Texas und North-Dakota ein. In der Eurasiatischen Union kommt die Ukraine dann in die Mitte zu liegen, die Grenzen werden überflüssig und die alten Familienbande zwischen Moskau und Kiew, der Wiege der „Rus“, können wieder frei fließen wie zu Zeiten der wie auch immer bewerteten, weil gegenwärtig irrelevanten Sowjet-Union. Bei freiem inner-eurasiatischem Verkehr ist es doch egal, ob der Krim-Kanal ukrainisches oder russisches Wasser führt. Hauptsache es fließt, wie der Djeper, die Wolga oder der Rhein, die Rhone und der Jennesei, die Donau und die Lena, die Neretva und der Eisack. Ja, die Krim, dieses Süd-Tirol der Russen, mit dem Palast von Bachtschisarai als Rosengarten, den die Zarin von der alten Hauptstadt hat stehenlassen, und dem Sommersitz des Zaren in Yalta, wo der sterbenskranke Rosevelt über eine Zukunft verhandelte, die er nicht mehr erleben würde, und mit dem Haus weiter unten im Hang hinunter zum Meer, wo Tschechow seine Geschichten schrieb, und, und, und, wo die Tataren nun wieder in Bedrängnis kommen, nach der Zarin und nach Stalin das dritte Mal, die tun mir leid. Auch für sie wäre es das Beste, wenn Russland und Westeuropa endlich eine Union bilden würden, einen wirtschaftlichen und kulturellen Machtblock, der Bestand haben könnte, zumindest für die nächsten zweihundert Jahre. Mehr wage ich beim Lauf der Dinge nicht zu sagen. Wir sind am 15. Februar und die Bevölkerung der Erde hat sich in den sechs Wochen dieses Jahres um 12 Millionen Menschen vermehrt. Geht es nach den amerikanischen Geheimdiensten, herrscht morgen in der Ukraine Krieg. Aber es geht nicht nach den amerikanischen Geheimdiensten, also werde ich ruhig schlafen und die Ukrainer morgen im vertrauten Schlamassel aufwachen.
16. Februar 2022
„Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.“ Der Satz ist mir aus den 68er-Jahren noch gut in Erinnerung. Seit Tagen sagen die US-Geheimdienste, heute, Mittwoch, beginne Russland den Krieg in der Ukraine. Aber es geht keiner hin. In Russland mokiert sich der Verteidignungsmi-nister mit dem Satz, „Kriege finden nicht am Mittwoch statt.“ Aber der amerikanische Präsident hält weiter an der Vorhersage eines Krieges fest. Putin macht Druck und lacht sich eins. Seine Geschütze und Panzer stehen im Halbkreis um die Ukraine. Er hat Zeit, noch viele Mittwoche. Schließlich muss er auch Idlib bombardieren, in Berg Karabach präsent sein, in Libyen, in der Zentralafrikanischen Republik, jetzt auch in Kasachstan und in Weißrussland. Ob er dort wieder weggeht?
21. Februar 2022
Über die Unverletzbarkeit von Grenzen in bürokratisch eingeengten Köpfen.
Seit Wochen wird über den drohenden Krieg in der Ukraine gesprochen und was „der Westen“ dagegen unternehmen könne. So erneut geschehen gestern Abend im österreichischen Fernsehen. Unter den Teilnehmern der Diskussionsrunde auch ein Vizepräsident der Europäischen Union steirischer Herkunft, der mehrfach betonte, der Union gehe es in erster Linie um die Einhaltung internationaler Verpflichtungen, wonach sich alle europäischen Staaten, einschließlich Russlands oder der damaligen Sowjetunion, an die Unverletzbarkeit der Grenzen souveräner Staaten zu halten haben. Dieser Aufgabe käme die Europäische Union nach, und nichts werde sie daran hindern, alle diplomatischen Mittel zur Aufrechterhaltung dieses Status einzusetzen und, wenn nötig, schwere und schwerste wirtschaftliche Sanktionen (militärisch ist man trotz NATO zu schwach) gegen jeden zu ergreifen, der sich nicht an die unterzeichnete Verpflichtung hält.
Mir ist es unbegreiflich, wie gegen alle Realität versperrt das Gehirn eines Bürokraten sein kann, wenn er fordert, dass Grenzen von Staaten sich nicht ändern dürfen, weil irgendwo irgendwann unterzeichnete Papiere das nicht erlaubten. Als ob Hitler und Stalin nicht den Nicht-Angriffspakt unterzeichnet hätten, um nur ein eklatantes Beispiel wirkungsloser Verträge ohne Zahl zu nennen. Hat denn der EU-Bürokrat noch nie in einen historischen Schulatlas geschaut, wo sich die bunt verteilten Territorien von Weltreichen bis Zwergstaaten von Seite zu Seite ändern? Wie kann er ernsthaft glauben, solche, die gesamte Menschheitsgeschichte andauernde Veränderung von Grenzen ließe sich durch die Europäische Union vermeiden, wenn doch jeder sehen kann, wie Grenzen geändert werden, auch gerade jetzt. Glaubt er wirklich, der Donbas könne zurück an die Ukraine gehen, der er rechtlich zwar noch angehört, praktisch aber, noch nicht ganz aber fast schon wie die Krim zu Russland gehört? An der Krim haben sich die Grenzen verschoben, und danach in Berg Karabach, zuvor in Osetien und Georgien, in Transnistrien. In Jugoslawien bildeten sich in jüngerer Zeit eine Unzahl neuer Grenzen, und an der Abspaltung des serbischen Teils von Bosnien wird gerade noch gebastelt.
Offenbar ist im Kopf eines Bürokraten kein Platz für ein Grundgesetz der Evolution, wonach jede verfügbare Energie darauf verwendet wird, den Lebensbereich einer Spezies zu vergrößern. Und da es auf der Erde keinen unbelebten Bereich gibt, muss die Ausweitung einer Spezies unweiger-lich zu Lasten anderer Spezies erfolgen. Das Gesetz gilt auch innerhalb einer Spezies, wie bei Corona-Viren, wo sich Omikron zu Lasten von Delta an die (vorübergehende) Spitze der Ausbreitung setzt, so auch für die Spezies Homo sapiens, wie der Geschichtsatlas der letzten zweitausend Jahre so farbenfroh zeigt. Es wäre daher ganz gegen die Natur, würden Grenzen von sogenannten Nationalstaaten sich nicht andauernd verändern, als könne das preußische Königsberg nicht zum russischen Kaliningrad werden, das römische Flavia Solva nicht zu Leibniz in der Steiermark. Und so versetze ich mich aus der Enge des EU-Bürokratenkopfes in den vom KGB geprägten Kopf des der Sowjetunion nachtrauernden Wladimir Wladimirowitsch Putin, der es als seine Lebensaufgabe sieht, so viel wie möglich von dem verlorengegangenen Glanz des Groß-reiches und der Weltmacht CCCP wiederherzustellen. Und da sehe ich die Krim und den Donbas nur als kleine Mosaiksteine in einem viel größeren Bild. Da sehe ich ganz konkret ein Etappenbild einer russischen Föderation, die bis an den Dnepr reicht, der Fluss, an dem Kiew, die Keim-zelle des Russentums Rus liegt, an dessen Mündung die russische Schwarzmeerflotte gegründet wurde und von dem so nebenbei auch der Krim-Kanal gespeist wird, der die nördliche Krim-Halbinsel mit Wasser versorgt – versorgt hat, bis zur Annektierung durch Russland, welche die vom Ukrainer Chruschtschow 1954 per Dekret abgeschafften Grenzen zwischen der russischen Krim und der Ukraine wiederherstellte. Daraufhin sperrten die Ukrainer den von Stalin in Zwangsarbeit errichteten Kanal. Den braucht die Krim aber, denn auf der Halbinsel regnet es wenig, und außer am gebirgigen Südrand am Meer, wo all die schönen Ferienorte und Sommer-residenzen des Zaren und reicher Geschäftsleute liegen, ist es auf dem flachen Teil der Krim zu trocken für eine ertragreiche Landwirtschaft. Den Kanal also sehe ich ebenso im Zukunftsbild des Herrn Putin, wie die Dnepr-Linie, womit Kiew in zwei Staaten zu liegen käme, das alte Kiew am rechten Ufer, das mit viel Geld aus Moskau ins Kraut schießende neue Kiew am linken Ufer. Und da ich mich unschwer in die treibende Wunschvorstellung eines Putin hineindenken kann, bleibt natürlich Odessa nicht ganz aus dem Bild, und die von den Rumänen Moldawiens wegwollenden Transnistrier. Und dann bin ich gar nicht mehr so weit weg von dem russischsten aller zurzeit nicht großrussischen Teilstaaten der ehemaligen Sowjetunion, Weißrussland. Dort sind jetzt die Truppen Putins einmarschiert, um zu … das ist nicht schwer zu erraten. Für den Bürokraten aus Brüssel natürlich undenkbar, denn da gibt es ja die Verträge, notfalls die Sanktionen, das Gas aus Sibirien (das die Chinesen ebenso gut brauchen können wie die West-Europäer), und die USA, der Europa in dem Grad unwichtig wird, wie der Druck Chinas im Pazifik wächst. Und somit lande ich wieder bei meiner euro-asiatischen Strategie-Überlegung, einem vereinten Eurasien, West-Europa und Russland als geeintem Wirtschafts- und Kulturraum, stark genug, um den expandierenden Sub-Spezies des südlichen Asiens (China und Indien allein zählen an die drei Milliarden Menschen, ein Drittel der Weltbevölkerung) etwas entgegenzusetzen, vor allem auch in der aufkommenden Machtentfaltung Afrikas, für das West-Europa (einst Hort aller Kolonialherren dieser Welt) nicht mehr als ein weißes Hütchen sein wird, während China alle Fäden entlang der Neuen Seidenstraße zieht. Aber Europa streitet um den Glanz vergangener Tage und baut auf Militärallianzen einer längst überholten Zeit. Und so werden sich die politischen Grenzen kon-kurrierender Menschengruppen weiterhin verschieben, wie sie es zu allen Zeiten getan haben, tun mussten, Verträge, mündlich oder geschrieben, hin oder her, die tun nichts zur Sache.
Ich weiß, sagte ich heute einem Ukrainer, die Ostgrenze seines Landes verliefe einmal entlang des Dnepr, hielte er mich für verrückt, oder als einen weder mit Geographie noch Geschichte des Landes vertrauten Phantasten. Aber dasselbe hätte jeder erfahren, der einem Tiroler vor 1918 gesagt hätte, die Südgrenze seines Landes verliefe bald nicht mehr über den Ortler, sondern den Brennerpass, oder einem Deutschen vor 1945, die Ostgrenze Deutschlands würde nicht mehr sechshundert, sondern sechzig Kilometer von Berlin Mitte verlaufen, nicht in Tilsit an der Memel, sondern an der Oder, an der Oder-Neiße-Linie. Selbst als es bereits ein Faktum war und Millionen Deutscher aus Preußen, Pommern, Posen und Schlesien vertrieben worden waren, konnte man es nicht glauben, klammerte sich an die Klausel „vorübergehend unter polnischer Verwaltung“ und – das nördliche Ostpreußen mit Königsberg und Tilsit betreffend – „vorübergehend unter sowjetischer Verwaltung“ (so in meinem großen Bertelsmann Atlas International aus dem Jahr 1963 zu lesen). Wem hätte man im Wien von 1900 weismachen wollen, das schöne K&K polnisch-jiddisch-deutsch-ukrainische Lemberg würde einmal einem kommunistischen Sowjet-reich angehören? Heute wissen die meisten Wiener – schon gar nicht die in den letzten Jahrzehnten aus Afrika und Asien Zugewanderten – wo Lemberg liegt, und die Deutschen haben sich sowohl an die Oder-Neiße-Linie als auch daran gewöhnt, die aus der ehemaligen DDR stammenden Bürger „Ossis“ zu nennen, weil sie ja ihrer Erfahrung nach aus dem Osten stammen, eine Bezeichnung, gegen die sich in mir immer noch alles sträubt, denn für mich sind die sogenannten Ost-Deutschen (Sachsen, Thüringer, Brandenburger und Mecklenburger) Mittel- oder Zentral-Deutsche, während die Ostdeutschen als Opfer von Hitlers gescheiterter Invasion aus Europa verschwunden sind. Da fällt es mir wesentlich leichter die zum Teil Russisch sprechenden Ukrainer östlich der Dnepr-Linie als Bürger Russlands zu sehen. Die von Putin unterstützten Separatisten in Lugansk und Donezk haben den Übertritt bereits vollzogen, und ich sehe keine Chance, dass diese Regionen je wieder an die Ukraine angeschlossen werden könnten, ganz im Gegenteil.
Der Brüsseler Bürokrat aus der Steiermark freilich besteht darauf, dass die Europäische Union, streng nach Gesetz und Recht, auf die Unverletzbarkeit der Grenzen in Europa schauen wird (was am Horn von Afrika oder in Mauritanien oder gar in Hongkong und Taiwan geschieht, interessiert die Union ohnedies nicht, denn das wäre global, und global hat die Union nichts zu melden). Die Sanktionen freilich werden Russlands Expansionsziele sehr teuer machen und letztlich vereiteln, sagt der Bürokrat, und ich glaube er glaubt es sogar. Man kann freilich Wetten darauf abschließen, wer als erster in der Union Absprachen über Gaslieferungen aus Russland beginnt, wenn die Reservelager leer sind und das Flüssiggas aus den USA doppelt so teuer wie das Gas aus Sibirien sein wird. Militärmacht oder Wirtschaftsmacht, egal, es geht um den Druck, den eine Spezies auf die andere auszuüben imstande ist. Jedem Zuwachs an Macht (Stärke, Energie, Lebenstüchtigkeit, Aggression) steht ein Zuwachs an Schwäche gegenüber, das gilt für das Corona-Virus wie für den Homo sapiens. Das hat nichts mit sapientia, Weisheit, zu tun, sondern mit dem universellen physikalischen Grundgesetz, dem das Leben in jeder Form unterliegt. Für jemanden wie Putin ist das eine Selbstverständlichkeit, und danach handelt er. Verträge unterliegen keinem physikalischen Gesetz. Jeder Vertrag kann gebrochen werden, oder er wird gegenstandslos und gerät in Vergessenheit. Das denke ich mir, Chrustschows Entscheidung betreffend, die Krim kurzerhand von Russland an die Ukraine zu geben, wenn ich das Gejammer westlicher Politiker über Putins Verletzung internationalen Rechts durch die Annexion der Krim höre.
21. Februar 2022, 21 Uhr MEZ
Das Obige habe ich heute Nachmittag geschrieben, und nun, am Abend kommen die Meldungen aus Moskau, wonach Putin den erwarteten Schritt vor Kurzem tatsächlich getan hat. Die Gebiete Donezk und Lugansk sind von der Russischen Föderation als selbständige Republiken anerkannt worden. Putin hat die Dekrete unterzeichnet, und wer will daran zweifeln, dass der nächste Schritt die Bitte der unabhängigen Republiken um Aufnahme in die Russische Föderation sein werden. Bis an die Dnepr-Linie ist noch ein weiter Weg, aber der (nach der Krim) zweite Schritt ist getan. Putin hat sogar in der einstündigen Ansprache (ich hörte sie in rudimentärer englischer Über-setzung über Aljezeera) der gesamten Ukraine die Berechtigung zum eigenen Staat abgesprochen. Diese Vorgabe hatte ich gar nicht erwartet, obwohl sie natürlich im Kopf eines Putin logisch ist. Da hat er sogar meine Dnepr-Linie übersprungen. Jetzt werden im Westen die ratlosen Schädel rauchen. Und meine Wette, was die Sanktionen und Gaslieferungen betrifft, gilt. Spannende, für viele Ukrainer traurige Tage.
22. Februar 2022
Putins Panzer rollen westwärts. Was sollen die Ukrainer in ihren Schützengräben entlang der Frontlinie machen? Wer soll ihnen was raten? Ihre Lage ist hoffnungslos, Gegenwehr selbstmör-derisch. Ich würde mich aus dem Staub machen, aber das hätte ich schon vor langer Zeit getan. Ich habe mir die Grenzen der beiden Oblaste (Verwaltungsbezirke) Lugansk und Donezk auf der Karte angesehen, danach geht es um grob gerechnet 50.000 Quadratkilometer (zum Vergleich Österreich umfasst 83.000 km²). Davon ist ein Drittel von den Separatisten besetzt. Aber Putin kann nur die gesamten Oblaste beanspruchen. Bis zur Dnepr-Linie liegen dann noch einmal gut 200.000 Quadratkilometer, aber gerade einmal hundert Kilometer bis an das Dnepr-Knie bei Dnepropetrovsk, das von Potomkin zur Inspektionsreise von Katharina der Großen im Jahr 1787 auf die Krim gegründete Jekatarinoslaw. Zunächst aber geht es um die von Russland anerkannten Volksrepubliken. Deren Besetzung wird die nächste Zeit spannend machen. Und der Westen, die selbsternannten Schutzmächte der Ukraine? Was macht mein EU-Bürokrat aus der vorgestrigen Gesprächsrunde? Nach Recht und Gesetz. Sanktionen noch nie gesehenen Ausmaßes hat er angekündigt. Und nun verbietet Mister Biden in Washington amerikanischen Geschäftsleuten in Lugansk und Donezk Geschäfte zu machen. Wau! Wenn man schon machtlos ist, sollte man wenigstens den Mund halten. Aber Biden und „der Westen“ schreckt vor keiner Lächerlichkeit zurück.
In seiner fast einstündigen Ansprache hat Putin gesagt, dass es sich bei der Ukraine um altes russisches Land handle. Ich gebe ihm für den Großteil des Landes recht. Für den Westzipfel gilt es aber nicht. Dabei handelt es sich eher um altes polnisches und litauisches Land, um ein Gebiet im Reibungsraum zwischen feudalen Großreichen, der Habsburger der Zaren. Folge ich der Westgrenze der Oblaste Vinnyzia und Schitomir von der Nordspitze Moldawiens ziemlich gerade nach Norden bis zur weißrussischen Grenze, bleibt eine West-Ukraine etwa doppelt so groß wie Österreich übrig, ein knappes Viertel der jetzigen Ukraine, mit Lemberg als Hauptstadt. Das könnte ich mir auch in der Zukunftsvision eines Putin als akzeptabel vorstellen. Ein „kleiner“ Pufferstaat an der Ostgrenze der Großen Russischen Föderation mit schönen Ausflugsmög-lichkeiten in die Ukrainischen Karpaten.