He­le­na Ad­ler: Mi­se­re­re

Helena Adler: Miserere

He­le­na Ad­ler: Mi­se­re­re

Oh­ne das klei­ne Nach­wort von Tho­mas Stad­ler sind es noch nicht ein­mal sieb­zig Sei­ten, die­se drei Er­zäh­lun­gen, die den (vor­läu­fi­gen?) Nach­lass der im Ja­nu­ar ver­stor­be­nen öster­rei­chi­schen Schrift­stel­le­rin He­le­na Ad­ler aus­ma­chen und die jetzt bei Jung und Jung, ih­rem Ver­lag, er­schei­nen. Sie wa­ren als Tei­le ei­nes Er­zähl­ban­des vor­ge­se­hen und ei­ne da­von, Mi­se­re­re Me­lan­cho­lia, woll­te He­le­na Ad­ler beim Bach­mann­preis 2023 le­sen, aber da­zu kam es nicht mehr, denn bei der Schrift­stel­le­rin wur­de ein Ge­hirn­tu­mor dia­gno­sti­ziert, der so­for­ti­ge Be­hand­lung ver­lang­te.

Lan­ge soll Ad­ler ge­schwankt ha­ben, Mi­se­re­re Me­lan­cho­lia als Bei­trag aus­zu­wäh­len oder die Er­zäh­lung, die zu Be­ginn ab­ge­druckt wird, Ein gu­ter Lapp in Un­ter­joch, die­ses herr­lich kom­po­nier­tes Schel­men­stück aus der öster­rei­chi­schen Pro­vinz, über ei­nen Jo­sef, von Be­ruf Mau­rer, der auch Hoch­zeits­la­der ist, ei­ne Art Ze­re­mo­nien­mei­ster. Jo­sef hat seit ge­rau­mer Zeit Kopf­schmer­zen, bis­wei­len Gleich­ge­wichts­pro­ble­me und vor ei­ni­gen Wo­chen sei­ne er­sten Be­strah­lun­gen im »Kalk­stein­sar­ko­pharg« er­hal­ten. Er ist »ei­ner, der nicht wi­der­spricht«, sei­ne Auf­ga­ben ge­wis­sen­haft er­füllt, und so wird es auch sein, als die Hoch­zeit des Bür­ger­mei­ster­soh­nes mit ei­ner Ma­ria an­steht, die schwan­ger ist. Jo­sefs Ver­pflich­tun­gen sind klar und doch hat er ne­ben sei­nem Tu­mor »ei­nen Plan« im Kopf. Zu­nächst gibt es aber noch ein paar def­ti­ge Schil­de­run­gen des »Brueghel’schen Hoch­zeit­s­pan­ora­mas«; es ist ei­ne Freu­de, dies zu le­sen, vor al­lem beim zwei­ten oder drit­ten Mal. Und das, ob­wohl man dann die wun­der­schö­ne Poin­te schon kennt, die hier na­tür­lich nicht ver­ra­ten wird.

Zwi­schen den bei­den grö­ße­ren Er­zäh­lun­gen fin­det sich mit Über die Er­de ei­ne noch nicht ein­mal drei­sei­ti­ge, stark ex­pres­sio­ni­sti­sche Skiz­ze von ho­her Kön­ner­schaft, in der ein »Nacht­schat­ten­ge­wächs im Ute­rus der Mut­ter« von ih­rer Tot­ge­burt (oder ist es ei­ne Ab­trei­bung?) er­zählt, die so­fort »un­ter die Er­de« führt und sie »verfault…und doch in al­ler Mun­de« führt.

Und dann das Hu­sa­ren­stück, das Zen­trum die­ses Ban­des, Mi­se­re­re Me­lan­cho­lia, ei­ne Er­zäh­lung, die in Kla­gen­furt für ei­nen hi­sto­ri­schen Mo­ment ge­sorgt hät­te (wie zu­letzt viel­leicht Ma­ja Ha­der­lap, oder, sehr lan­ge zu­rück­lie­gend, Her­mann Bur­ger), ein Text »wie ein Un­glück, das…schmerzt, wie der Tod ei­nes, den wir lie­ber hat­ten als uns«, ei­ne Pro­sa, die man mit En­thu­si­as­mus und De­mut und im Wis­sen um das Schick­sal der Au­torin mit Trau­er und Weh­mut le­sen wird und gleich­zei­tig im­mer wie­der neu an­fängt, gar nicht auf­hö­ren möch­te, im­mer neue Nu­an­cen ent­deckt.

Wes­sen ist nun der Schmerz bei der Lek­tü­re? Ei­ne Ich-Er­zäh­le­rin, sich selbst cha­rak­te­ri­sie­rend als »ab­ar­ti­ge Sün­de­rin«, ist be­ses­sen oder, bes­ser: wird be­herrscht von ei­nem Dä­mon, ei­ner Mi­schung aus Wol­per­tin­ger, Gnom und Me­phi­sto (er zi­tiert im­mer­hin Ho­mer und Dan­te). Er do­mi­niert sie »schlim­mer als der Va­ter und die Mut­ter zu­sam­men«, zwingt sie, ihr Le­ben zu re­ka­pi­tu­lie­ren, auch ih­re Lauf­bahn als Schrift­stel­le­rin, und da­bei stellt sie fest, dass der El­fen­bein­turm ein »Faul­turm« ge­we­sen war, »dort gär­te al­les vor sich hin« und sie wur­de »trä­ge und schwach«. Aus ih­rem Mund er­gießt sich ein­mal »Brack­was­ser«, sie wacht auf »mit dem Meer in mir, das mich ver­wäs­sert«. Kaf­kas Axt fin­det da­nach kein Eis mehr vor, aber zu­gleich be­kennt sie, in den »gro­ßen Tex­ten« da­heim zu sein.

Der Gnom for­dert, er­in­nert an ih­re ver­meint­li­chen Selbst­täu­schun­gen. Ihr Wi­der­stand ist enorm, sie ver­sucht, ihn zu ver­trei­ben, ihr Le­ben zu ver­lang­sa­men oder zu be­schleu­ni­gen, sie de­kla­miert und schimpft und schließ­lich tritt sie in ei­nen spöt­tisch-sar­ka­sti­schen Dia­log mit die­sem Ge­schöpf. Man ver­si­chert, sich ge­gen­sei­tig zu brau­chen oder auch das Ge­gen­teil da­von. Der ein­zi­ge Weg, ihn los­zu­wer­den heißt »mit Raum und Zeit zu bre­chen. Auf­hän­gen statt ab­hän­gen«. Der Tod nicht als Lö­sung, son­dern als Dro­hung, »weil al­les Leid ein­mal ein En­de hat. Weil das En­de ei­ner exi­sten­zi­el­len Er­schöp­fung Er­lö­sung be­deu­tet. Min­de­stens ist der Tod ei­ne schmerz­freie Schnei­se.« Die Le­bens­bi­lanz? »Nicht ge­lun­gen. Durch­ge­fal­len. Wir sind al­le Ge­schei­ter­te. […] Wenn wir ster­ben, schei­tern wir am Le­ben. Wä­ren wir un­sterb­lich, schei­ter­ten wir am Tod.« Sie schleu­dert dem in ihr wü­ten­den We­sen die Träg­heit ih­res Her­zens ent­ge­gen, ei­ne der sie­ben Tod­sün­den, Ace­dia ge­nannt.

Ein scho­nungs­lo­ser, auf­wüh­lend-ex­pres­si­ver Text, chan­gie­rend zwi­schen Pre­digt, Kla­ge, Dra­ma, aber auch Hu­mor, vor al­lem je­doch Me­lan­cho­lie, zu­wei­len Schwer­mut und Aus­weg­lo­sig­keit, aber zu­gleich auch un­bän­di­ger Le­bens­lust. Die Auf­ga­be des Le­sers ist, die­se Er­zäh­lung so lan­ge wie mög­lich für sich ste­hen zu las­sen, jeg­li­che Ab­len­kung nicht zu­zu­las­sen, ein­zu­tau­chen in die­se Mi­schung aus Spiel und Kampf vom Le­ben und Ster­ben. Der li­te­ra­ri­sche Re­fe­renz­rah­men, er sich auf­fä­chert, ist enorm. Aber auch kunst­ge­schicht­li­che Be­zü­ge bie­ten sich an. Dü­rers En­gel, Agnus Dei, tref­fend das Co­ver mit Grü­ne­walds Ver­su­chung des Hei­li­gen An­to­ni­us, auch Bosch kommt ei­nem in den Sinn; He­le­na Ad­ler kann­te sich sehr gut aus. Tho­mas Stad­ler reißt den ka­tho­lisch-christ­li­chen Im­puls an; man hät­te in die­ser Hin­sicht viel­leicht et­was mehr ge­wünscht. Und na­tür­lich be­kommt die­se Er­zäh­lung durch den Tod der Au­torin ir­gend­wann noch ei­ne wei­te­re, tie­fe Di­men­si­on, man ist über­wäl­tigt, er­grif­fen, zor­nig. Aber, so der Trost, die­se Li­te­ra­tur wird blei­ben. Und strah­len. Auf Dau­er.

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Wie scha­de. Aber die Re­zen­si­on ist ei­ne sehr er­grei­fen­de Wür­di­gung, auf be­ste in­di­rek­te Wei­se. Ich hat­te wie­der ein­mal den recht sel­te­nen Ge­dan­ken, dass der Ka­tho­li­zis­mus ein Rie­sen­schwach­sinn ist, bis zu dem Zeit­punkt, wo man be­greift, dass es die ein­zi­ge Re­li­gi­on oder Tran­szen­den­tal­phi­lo­so­phie ist, die in der La­ge »war«, dem Lei­den ei­nen Sinn und ei­ne äs­the­ti­sche Di­stanz zu ver­lei­hen. Wie schreck­lich er­grif­fen man oft ist... Viel­leicht ist es ei­ne Re­li­gi­on des »Nach­gangs«, die am stärk­sten wirkt, wenn man sie in der Ir­re (Heid­eg­ger) re­ka­pi­tu­liert. Und da­ge­gen stinkt der ver­we­ge­ne aber doch recht simp­le Ge­dan­ke vom Tod Got­tes ge­wal­tig ab, fin­den Sie nicht?!

  2. Die Er­folgs­ge­schich­te der jü­di­schen Sek­te, aus dem das Chri­sten­tum sich her­aus­schäl­te, ist wirk­lich be­mer­kens­wert. Ver­mut­lich liegt es an zwei Din­gen: Es gab kein Bil­der­ver­bot – im Ge­gen­teil. Die Kunst­ge­schich­te er­zähl­te früh man­nig­fa­che Ver­sio­nen, die die Men­schen fas­zi­nier­ten. Und dann na­tür­lich das Be­har­rungs­ver­mö­gen, die Dog­men. Aus­ge­rech­net die wir­ken heut­zu­ta­ge aus der Zeit ge­fal­len. Man er­schafft sich lie­ber re­li­giö­se Sur­ro­ga­te. Der Ka­tho­li­zis­mus, der noch die Kraft hät­te, sich da­ge­gen zu stem­men, ver­sagt. Der Pro­te­stan­tis­mus hat schon län­ger mit der Ver­wäs­se­rung der Bot­schaft ka­pi­tu­liert.

    Die gro­ße Fra­ge nach dem Jen­seits will nie­mand mehr be­ant­wor­tet ha­ben. Da­her rührt un­se­re Er­grif­fen­heit heu­te.

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