TAGEBUCHAUFZEICHNUNG JANUAR 1989
3. Januar, Dienstag: (...) Ich erledige Einkäufe, lese Limonov1, hole ihn dann um ½ 12h von zuhause ab. Wie grausig er wohnt, in der Rue de Turenne! Diese winzigen zwei Zimmerchen! Die Uralt-Schreibmaschine. Die revolutionären Plakate an den Wänden. Eine Zeichnung, comix-artig, von einer Asiatin, Sekunden bevor sie womöglich erschossen werden wird. Sie bettelt um Gnade. AHHH, OHHH!
Wir sprechen ein wenig ad seinen Büchern, seinem Leben. Sein Gesicht halb Baby-Face, halb alter Mann. Er schreibt auch auf Englisch, aber normalerweise Russisch. Sein Nicht-Zusammenseinwollen mit anderen Exilrussen. Der Vater offenbar KGB-Polizist. Seine Liebe zu einer Roten-Armee-Jacke, so tauchte er ja damals auch in Wien auf2...Sein Plan, vor 5 Jahren, ein Buch über Gaddafi zu schreiben – sein Interesse für den libyschen Revolutionsführer. (...) Der Weihnachtsbaum in seiner Horror-Wohnung überrascht mich. Sein Wesen viel lockerer, freundlicher, offener als zuletzt. Ein sypathischer, interessanter Zeitgenosse. Seine Kurzmonologe eigentlich immer meaningful. Kein langweiliger Mensch. Und seine bizarre Biographie. Führe ihn in die Wohnung, die L.3 und ihr Assistent in ein Studio verwandelt haben – und von 12h – 17h wird Eduard abgelichtet. Zwischen den Aufnahmen unsere Gespräche – sehr gutes Material bereits, z.B. ad 21. August 19684, sein Streit mit dem (verhaßten?) Vater. Eduard Limonov strotzt von Leben und Kraft, mit seinem nackten, muskulösen Oberkörper. (...) Ich fühle mich vergleichsweise muskellos, müde, verkühlt, die Schultern lasse ich hängen...
4. Januar, Mittwoch: Fortsetzung der Limonov-Arbeit. Vormittags die verbleibenden Fragen zusammengestellt. (...) Um 2h zu ihm nach Hause, interviewe ihn in seiner Wohnung. Seine Freundin der letzten sechs Jahre in der Wohnung, Natalia5, ein schlankes, großgewachsenes Weib, sieht etwas irre bzw. droguée aus, hat Alkohol-Phasen schlimmer Art hinter sich. Starke Persönlichkeit. Mit den beiden um ½ 16h zur L. gefahren, Taxi, der Chauffeur redet auf uns ein, während wir uns über den gemeinsamen Freund A. M. unterhalten. Wie unendlich heftig er lügt. Wall Street Broker? Wohl kaum – er lernte an einer Schule für W.-Str.Broker, das allerdings – kam durch merkwürdige Umstände – durch das Borgen von Geld – an eine größere Summe, beteiligte sich dadurch an einem Hauskauf in New York, aber äußerst unkoschere Geschichte; Limonov erzählt keine Details, sagt nur: unkoscher. (...) L. photographiert Limonov + Natalia zusammen, gute Idee, denn Natalia war in L.A. 7 Jahre lang Photomodell, wurde 1000-fach photographiert – und plötzlich nicht mehr, plötzlich ist es Eduard, den alle photographieren wollen. Ein gewisser Neid bei ihr nicht zu übersehen.
Nach dem Doppelporträt noch in der Passage photographiert, Limonov allein, in seinen Armeemantel gehüllt – eigenartige Stimmung durch die sehr guten, thematisch völlig passenden Graffiti, die’s hier gibt...Abends wollten wir mit Limonov noch zum Pigalle, zur Girly-Show, aber er lehnt ab, möchte das nicht – die Idee behagt ihm nicht, und L. gibt schweren Herzens nach.
L. + ich führen die beiden aus, ins »Mandarin«, ein großes, gutes, recht langes Essen – Limonov sehr lieb im Grunde, wenn ich auch mit seinen Ideen + politischen Grundsätzen nicht im Geringsten korrespondiere. Sprechen über sein Buch »His Butler’s Story«, L. fragt ihn, wer sein Herr in Wirklichkeit gewesen sei. (Im Buch nennt er ihn Steven Gray, glaube ich.) Limonov will zunächst nicht antworten, erzählt, dass sein Herr Besitzer der Firma Aston Martin gewesen sei, läßt später im Gespräch plötzlich den Namen Peter fallen. Ich sage quasi im Scherz: »But not Peter Sprague?!»6 Doch, genau der. Erzähle Limonov also von der Steppenwolf-Zeit, und meine Erinnerungen an P.S., etc. Natalia scheint böse auf Limonov zu sein, daß er’s uns verraten hat. Natalia schreibt übrigens auch, ihr erstes Buch erscheint demnächst hier in Paris. Und ein Roman über L.A. ist unveröffentlicht.7
Bringen die beiden dann noch nach Hause, nach einem intensiven Tag, kehren in unsere Eisgrube zurück, schlafen den Schlaf der Erschöpften.
6. Januar, Freitag: Vielleicht die Finanzsorgen, die ich nachts hatte, als Auslösemoment: morgens besorgniserregend heftiges Schwindelgefühl. Ich rufe Hallein und Dr. Fränzen an, aber in Österreich heute Feiertag...Vielleicht übertauchte Grippe? Vielleicht Kreislaufdurcheinander wegen der Wärme des Wetters? Alkohol kann es nicht sein, war gestern nahezu total »trocken«. (...) Abends zum Lao-Siam, treffen dort Maxim Biller + seine Freundin Shirly. Biller zwar nicht sehr sympathisch, dürstet nach Information, sägt an den Nerven, dennoch bin ich gerne mit ihm zusammen, diskutiere, streite gerne mit ihm. Shirly ca. 18 Jahre alt, war die Freundin von Maxims bestem Freund (...) Maxims Kritik an meinem Armenien-Artikel8: er sei ihm als viel zu brav erschienen, unglaublich konservativ, ordentlich...Zwi9 kommt nach, zusammen mit Gabi Tana10 und einem jungen Regisseur, der mit Gabi und Zwi einen Videoclip drehen soll. Gehen dann noch in’s »Tango«, trotz meines Schwindelmorgens, bin aber absolut wiederhergestellt – Gott sei Dank. Beobachte im »Tango« die sexuellen Stimmungen, Strahlungen, die ausgesprochen groben Annäherungsversuche der schwarzen Männer gegenüber den weißen Frauen. Faszinierend, verbringe fast 2 Stunden damit, dies zu beobachten. Wie die Männer sich an den Becken der Frauen reiben, beim Tanz! Wie sie sie führen, geschickt und peinlich zugleich. Die weißen Frauen, die hierher kommen, wollen offenbar von den schwarzen Männern zum Tanz aufgefordert werden, sagt Zwi. Die Frauen sind von den Umarmungsgriffen und Tanzschritten + durch das Beckenreiben zu einem Teil wie in Trance, liegen den Männern in den Armen, irgendwie zwischen den Oberarmen eingeklemmt, seltsam, seltsam, beobachte das wie ein Zoologe seltene Tierarten beobachtet. (...) Maxim schmust mit Shirly, während ich ununterbrochen den Tanzenden zusehe.
Sage Maxim zum Abschied, in einer um ½ 2h noch geöffneten Boulangerie, daß er zwar ein Unsympath sei, ich dennoch gerne mit ihm beisammen sei. Wie er sich beklagt hat, beim Essen, wie bürgerlich + brav wir alle seien! Weil wir tagsüber immer arbeiten, immer zuhause hocken, mit unseren Manuskripten, nicht ausgehen, tagsüber...!
(In den zwölf Tagen dazwischen: Resie nach Salzburg und Übersiedlung in eine neue Mietwohnung, in Paris...)
18. Januar, Mittwoch: Vormittags ein Mann, nett aussehend, mit Besen in der Hand, fragt mich, ob er das gelbe Puder vor der Tür wegfegen dürfe? Bin erstaunt, weiß nicht, wozu das gut sein soll. Sage: ja, ruhig. Eine halbe Stunde später kommt Madame Murat auf Kurzbesuch, um mir einen Brief zu bringen, den sie versehentlich mitnahm und öffnete. Die Wohnungsbesitzerin erzählt uns von einem Mann, Franziskaner, der hier vor uns gewohnt habe. Und alle Leute im Hause, sowie Madames Freunde, mit seiner magnetischen Ausstrahlung in seinen Bann gezogen habe. Dieser Mann habe Teufelsbeschwörungen durchgeführt, empfand sich als Nachfolger des Groß-Inquisitors. Wirre Geschichte von einer Lampe, die in meinem Arbeitszimmer stand, solange sie da war, hatte Madame nur Pech + Negatives, seit die Lampe fort ist, geht es ihr besser. Sie stellte dem Teufelsanbeter (»er war homosexuell«) eine Falle, »une piège«, als er merkte, daß sie ihn durchschaut hatte, verschwand er über Nacht + ward seither nicht mehr gesehen. Sind doch erschrocken ad dieser Story, allerdings kann uns der Teufel, da wir ja Juden sind, nichts anhaben; abgesehen davon, daß ich an solchen Mumpitz nicht glaube. Madame erzählt, sie habe danach die Wohnung exorzieren lassen (!), daher auch das gelbe Puder vor der Tür: Sulphur, um den Teufel fernzuhalten. Nein, nein, sagt sie, Sie brauchen sich keine Sorgen machen. Einige ihrer Freunde haben den Kontakt zu ihr abgebrochen – Madame Renucci, die Nachbarin, sprach angeblich einen ganzen Monat lang nicht mit ihr, vor lauter Angst. Seltsame Geschichte, L. und mir wird es etwas mulmig um’s Herz. Erzählen Milan, Ari, Sylvia davon, sie alle lachen uns eigentlich aus. Zwi auch kaum beeindruckt, er und Sylvia sagen ganz richtig: in New York hast du dauernd und in jeder Wohnung solche meschuggenen Stories. Werde morgen eine Mezuzah11 kaufen.
© Peter Stephan Jungk – © des Bildes: Lillian Birnbaum
Eduard Limonov, russischer Schriftsteller, geboren 1944. Heute ultrarechter Politiker in Moskau, Gründer der Nationalbolschewistischen Partei Russlands. Siehe auch den 2012 erschienenen Roman "Limonov", von Emmanuel Carrère. ↩
Gemeint ist eine Konferenz der Exilschriftsteller, 1988, während der ich Limonov kennengelernt hatte. ↩
Lillian Birnbaum fotografierte Limonov für das Magazin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", ich schrieb dazu den Text. Unser Artikel erschien am 24. Februar 1989. ↩
Der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei. ↩
Natalia Medvedeva, 1958 – 2003, Limonovs spätere Ehefrau. Fotomodell, Sängerin, Schriftstellerin. ↩
Amerikanischer Businessman und Multimillionär, der 1975 die Firma Aston Martin aufkaufte. Er hatte im Jahr 1973 den Spielfilm "Steppenwolf" zu großen Teilen finanziert, Regie Fred Haines, basierend auf Hermann Hesses Roman, bei dem ich als Produktionsassistent mitarbeitete. ↩
Der Roman erschien 1992 in Russland unter dem Titel: "Otel 'Kalifornia'" ↩
1988 war meine große (keineswegs brave!) Reportage über Armenien im Magazin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erschienen. ↩
Gemeint ist mein langjähriger Freund Zwi Wasserstein. ↩
Gabriella Tana, amerikanische Filmproduzentin. (Zuletzt produzierte sie den vielbeachteten Film "Philomena", von Stephen Frears. ↩
Die Mezuzah ist eine Schriftkapsel, die zwei Abschnitte aus dem Alten Testament (Torah) beinhaltet. Sie wird an den Türrahmen der Wohnungen angebracht und beschützt der Tradition nach vor Unheil. ↩