Irgendwann in den 70er Jahren hieß es, es gäbe einen neuen »Tierfilmer«. Tierfilme waren damals im Fernsehen sehr beliebt – auch bei uns zu Hause. Es gab Heinz Sielmann und Professor Grzimek. Und dann kam ein gewisser Horst Stern mit seiner Sendung »Sterns Stunde«. Die Stunde war, wie in der Schule, nur 45 Minuten. Ich weiss nicht mehr genau, welches die erste Sendung war, die ich gesehen habe, vermutlich seine »Bemerkungen über das Pferd«.
Aber Horst Stern war kein »Tierfilmer«. Er zeigt keine exotischen Tiere oder keine neuen Bilder von bekannten Tieren. Er reiste nicht nach Afrika oder Asien, um dort eine exotische Tierwelt abzufilmen. Er zeigte Bilder über den Rothirsch und die Jagd und meinte, es werde zu wenig gejagt; das Rotwild ruiniere den Wald. Und das am 24. Dezember um 20.15 Uhr. Er zeigte Krabbenzuchtstätten in Asien und zeigte, mit welchen Dosen von Medikamenten diese Tiere gefüttert und wie sie gehalten wurden. Er belegte, wie Pferde »gebrochen« werden, damit sie über Hindernisse springen. Er zeigte, wie Schweine in den Ställen verblöden. Er zeigte, wie der »zivilisierte Mensch« seine Tiere missbraucht, in dem er sie vermenschlicht und verhätschelt und einem Kindchenschema folgt oder einfach nur als Ware ansieht, die zu seiner Verfügung zu stehen hat. Er zeigte, wie Menschen irren, wenn sie Natur für moralisch halten und glauben, ihr die eigenen Moralvorstellungen aufzuzwingen.
Nein, damals (ich war so 13, 14) konnte ich mit Horst Stern nicht viel anfangen. Aber ein Stachel blieb und Jahre später (die Sendungen wurden alle paar Jahre wiederholt), da erschlossen sie sich mir erst und mir wurde Horst Stern zu einem Naturlehrer; nein, das war vermutlich zu wenig: er wurde mir ein Lehrer.
1975 drehte eine zweiteilige Dokumentation über Spinnen – er wollte diesen »Ekeltieren« den Rang zukommen lassen, der ihnen in der Natur gebührte. Eine kleine Episode, die er dort erzählt, ist typisch: Auf einem US-amerikanischen Raumflug nahm man für Experimente auch Spinnen mit. Da, so Stern ironisch, bei Raumfahrtprojekten inzwischen aufgrund von öffentlichem Druck auch gespart werden müsse, nahm man als Nahrung für die Spinnen nur zwei Fliegen mit. Als man feststellte, die Spinnen verhungerten, wollte man sie mit Rinderfilet füttern. Man hatte nicht berücksichtigt, dass Spinnen nur lebende Nahrung annehmen. Die Tiere verhungerten. »Sie, meine Damen und Herren, wissen es nun besser,« so Sterns abschließender, ungemein wirkungsvoller Kommentar.
Mit rauchiger Stimme, gelegentlichem Sarkasmus, aber – und das war das Entscheidende – mit einer großen Sachkenntnis und ausgezeichneten Recherchen kreierte Stern einen Stil, den es weder vorher noch nachher jemals wieder im deutschen Fernsehen gab. Stern wollte nicht skandalisieren, sondern aufklären und nahm hierfür keinerlei Rücksichten. Allen Widerständen zum Trotz hielt man ihm von seiten des Süddeutschen Rundfunks, des zuständigen Fernsehsenders, den Rücken frei. Stern hat das immer gewürdigt und seinen Rückzug Jahre später unter anderem auch mit der Singularität dieser Situation begründet.
Wenn man sich heute die teilweise mehr als 40 Jahre alten Filme anschaut, so muss man – abgesehen von den statistischen Werten – oft genug konstatieren: Es hat sich nicht soviel geändert im Verhältnis zwischen Mensch und Tier oder Mensch und Natur. Horst Sterns Anliegen mit dem Erstarken der »Grünen« Ende der 70er Jahre in Verbindung zu bringen, wäre naheliegend, aber falsch. Stern war ein unabhängiger Kopf. Die ideologische Verquastheit vieler Grüner war ihm ein Dorn im Auge. Der heute im Journalismus verbreitete Erziehungsduktus war ihm fremd. Er zeigte die Tierfabriken nicht mit der Intention, die Leute vom Fleischkonsum abzuhalten. Er wollte eine Ideologie nicht durch eine andere ersetzen. Stern wollte das gestörte Verhältnis des Menschen zu seinen Haus- und Nutztieren zeigen; das Urteil überließ er dem Zuschauer. Zum meistbekämpften Satz von Horst Stern gilt das Diktum von der »Versöhnung von Ökonomie und Ökologie«. Dass dies ein auf ewige Zeiten immanenter Widerspruch bleiben wird – hierin wurde Stern nie müde hinzuweisen. Die Ökonomie der Moderne, auf Wachstum ausgerichtet, wird immer Spuren in der Ökologie hinterlassen.
Anfang der 90er Jahre verfasste Ulli Pfau ein Portrait von Stern mit dem zutreffenden Titel: »Die ermüdete Wahrheit«. Stern war müde geworden, desillusioniert. Seiner Zeitschrift »Natur«, die ohne Werbung auskommen wollte, drohte die Insolvenz. Als ein Chemiekonzern mit einem großen Werbeinserat lockte, trat er auf Druck der Anteilseigner 1984 als Herausgeber zurück. Stern sah seine journalistische Unabhängigkeit gefährdet. Nach und nach verabschiedete er sich aus den Medien, zog für einige Jahre nach Irland.
Er begann mit dem Schreiben von Literatur. Diese wurde zwar beachtet, aber viel zu wenig gewürdigt. Sein erstes Buch, »Jagdnovelle«, ist eine luzide erzählte Vorwegnahme der »Bruno«-Geschichte von 2006. Stern wagt die introspektive Sicht eines Bären, der abgeschossen werden soll. Ein bewegendes Stück Literatur. Sterns »König von Apulien« findet mehr Anklang (ein wunderbar erzähltes, am historischen Friedrich II. festgemachtes, in großen Teilen jedoch fiktives Prosastück), während der wütende Roman »Klint« von der Kritik nicht verstanden wird.
Es folgen einige unregelmäßige Artikel in der ZEIT und ein letzter Fernsehauftritt 1997 mit Sandra Maischberger für Spiegel-TV. Maischberger durchschreitet mit Stern den Naturpark Bayerischer Wald – ein Lebensprojekt von Horst Stern. Anschließend gab es einen kleinen Film »Bemerkungen über einen sterbenden Wald«. Die damalige Borkenkäferplage veranlasst Stern noch einmal das Wort zu ergreifen. Vehement redet er gegen den Eingriff chemischer Mittel. Der Wald habe, so Stern, durchaus die Möglichkeiten, mit der Plage alleine fertig zu werden; angegriffen von den Käfern würden nur die schwachen Bäume. Das gelte insbesondere für noch halbwegs gesunde Mischwälder und die Nationalparks.
Aber man lernt bei Horst Stern (selbst heute) nicht nur über das Verhältnis von Mensch und Natur. Man lernt auch (und wie!) Elementares über das Handwerk eines fast manisch unbestechlichen, scharfzüngigen, aber nie unsachlichen, eben argumentierenden Journalisten mit einem großen Talent, mit geschliffenen Formulierungen den wunden Punkt zu benennen, ohne das Publikum mit fertigen Meinungen zu bevormunden oder sich auf eine Seite festlegen zu lassen.
Der großartige Horst Stern ist vergangene Woche gestorben.
Schön, danke. Ich bemerke an mir selbst, dass, mit dem immer Älterwerden, das Zurückwenden in die frühe Vergangenheit häufiger geschieht und ein vertieftes, vollständigeres Verständnis seiner selbst mit sich bringt. Jedenfalls erscheint mir der Text in diesem Zusammenhang.
Ich ahnte schon beim Titel, dass nun ein Nachruf folgen würde. Danke für die Nachricht und für die angemessene Würdigung des Lebens dieses so aussergewöhnlichen Journalisten. Ein Lehrer, auch für mich, – das trifft es.
Vielen Dank!
Die einzigen Natursendungen, die mir wirklich etwas bedeutet und die mich beeinflusst haben. Nach der Spinnensendung hab ich nie wieder eine Spinne totgemacht. (Allerdings auch nie eine zu füttern versucht. ;) )
Ihre Erlaubnis vorausgesetzt hab ich den Nachruf in ein kleines Forum verlinkt, in dem ich regelmäßig chatte.
@metepsilonema
Ja und nein. Ich habe einige Folgen immer wieder mal angeschaut, auch in einigen von Sterns Aufsätzen gelesen. Obwohl sie z. T. 40 Jahre alt sind, sind viele der angesprochenen Makel noch existent. Man sah die »Natur«, die Tierwelt nach Sterns oft schmerzhaften Filmen mit anderen Augen. Er war für mich der Erste, der das aussprach. Merkwürdig, dass Jagd immer noch als furchtbar gilt, Wildtierfütterung als Hegung, Landwirtschaft als »Natur«, usw. So richtig geändert hat sich trotz Krötenwanderwegen und ähnlichen Sachen wenig.
@Andreas Rautenberg
Verlinken ist natürlich kein Problem.
Die Spinnenfilme habe ich auch gemocht, aber meine Arachnophobie haben sie nicht verändert. Ich bin aber milder geworden – erst wenn die Wohnung betroffen ist, erfolgt...naja, Sie wissen schon.
Warum sich »nichts« ändert: Es gibt die These, dass unserem Umgang mit der Natur eine sinnliche Entfremdung von ihr zu Grunde liegt. Da wir in einer weitgehend künstlichen Umwelt aufwachsen, nehmen wir die Natur immer weniger sinnlich wahr und entwickeln kaum körperliche Bezüge zu ihr. Dadurch, könnte man fortsetzen, wird unser Verhältnis zu ihr ein rationales (ökonomisch-nutzorientiertes) oder eines der Projektion (Verniedlichung). Im besten Fall erfreuen wir uns an ihr und genießen sie (Erholung, Tourismus), aber eine dauerhafte Präsenz in uns, hat sie kaum. Ich war entsetzt, als ich zum ersten Mal auf einem Spaziergang durch den Wald die Spuren der Maschinen sah, die man offenbar in der Forstwirtschaft einsetzt (in einem von Horst Sterns Filmen sieht man sie). Wie kann es sein, dass wir uns so verhalten? Wenn wir heute einen Mitarbeiter bewerten, ob er für eine bestimmte Position geeignet ist, dann füllen wir einen ewig langen Bogen aus, der bis ins Detail alle möglichen Kompetenzaufsplitterungen enthält, anstatt uns auf eine Einschätzung zu verlassen, die sich aus Gefühl und Verstand gleichermaßen speist und den Bogen unnötig macht. Es ist nur scheinbar etwas anderes, aber wir legen unserem Verhalten in Bezug auf die Natur nur dort Grenzen auf, wo Gesetze und Regeln es verlangen, nicht oder kaum auf Grund unserer Wahrnehmung. Wir fühlen nicht mehr, was wir anrichten, selbst dort wo es uns räumlich nahe ist.
Sehr treffende Beobachtung. Stern hat ja später fast resignativ so etwas wie Scheitern dahingehend eingestanden, dass eine Bewusstmachung dessen, was Du als das Spannungsfeld von Rationalität und Verniedlichung formuliert hast. Ein Drittes ist offensichtlich nur schwerlich möglich. Die Ökobewegung hat versucht, den Nutzenfaktor mit Moralität zu einzudämmen. »Verzicht« kam (und kommt) aber nicht gut an – also müssen entweder Verbote her oder wenigstens Mindeststandards implementiert werden. In der Landwirtschaft ist »bio« inzwischen ein inflationär benutzter Begriff – er soll den Konsumenten mit einem besseren Gewissen für den Einkauf der Produkte und den Verbrauch ausstatten.
Stern hat sich immer gegen das Gerede von der Versöhnung zwischen Ökonomie und Ökologie ausgesprochen. Er hielt dies für undurchführbar. Dennoch ist es genau dies, was uns inzwischen als Realpolitik angeboten wird.
Huch – Horst Stern – welche Überraschung Gregor Keuschnig!
Mein erstes absolutes halt, mein zweites! – also mein zweites Lieblingsbuch – mit neun oder zehn Jahren, auf Empfehlung von Lehrer Schlager mir von meinen Eltern geschenkt: »In Tierkunde eine Eins!« – Immer noch eines meiner absoluten Lieblingsbücher – ich habs auch noch – stets in Ehren gehalten, alle Umzüge mitgemacht.
Die »Jagdnovelle« fand ich auch packend! – Müsste ich mal wieder an die Jugend verschenken. Die dicken Bücher fand ich nicht sooo doll, obwohl mir das Staufer-Buch oft noch durch den Kopf ging, im Lauf der Jahre.
Dass Horst Stern der Verquastheit und der unsinnigen Parteilichkeit völlig abhold gewesen wäre, stimmt wohl nicht. Das Natur-Heft stuk – öhhh – stak – uuhhhuuu (ich höre um diese Zeit manchmal ein Käuzchen – grad nicht, ok, ganz wie es will und kann – - vielleicht beglückt mich’s »speeta« (P. Kurzeck) noch) – - das »natur«-Heft sag’ ich, kannte schon auch unrichtige und unhaltbare alarmistische Texte. Aber natürlich nicht nur!
Dirk Maxeiner hat bei dem »natur«-Heft mitgewirkt, und diesen Sommer ickjloobe auf der Achse des Guten einen Bericht über diese Zeiten der Irrungen und Wirrungen verfasst. Ich hoffe auf einen Nachruf auf Horst Stern von ihm.
Das Feuilleton hat viel Schmalkost geliefert. Der Südkurier beschränkte sich auf einen Einspalter von ca. dreissig Zeilen. Schnöde Welt.
Ach – als Kind liebte ich auch Horst Sterns Radiosendungen – spannend, witzisch und sehr gut gesprochen!
@ metepsilonema – es verändern sich schon Dinge. Ich schwimme jeden Sommer zwischen Karlsruhe und Mannheim im Rhein, da sehe ich das ganz deutlich. Und auch meinen Hauskauz gäbe es wohl nicht, wenn da nicht ein Schutzgebiet hinterm Haus wäre, das über die Nachbarstadt noch hinausreicht...
Lese grade: The End of The End of the Earth von Jonathan Franzen. Das passt.
@Dieter Kief
Natürlich, deswegen auch die Anführungszeichen. Wir trennen Müll, sammeln Kröten, haben Bioprodukte, rote Listen, Nationalparks und halten Umweltschutz für richtig und notwendig. Aber all das bleibt (irgendwie) äußerlich, schlägt sich in Gesetzen, Geschwindigkeitsregeln, Schutzräumen, usw., nieder. Ich bin gerne, aber viel zu selten in der Natur, wenn ich von dem bisschen Grün vor meiner Türe absehe, das ja künstlich ist. Auf der einen Seite wirkt eine natürliche oder naturnahe Landschaft sehr stark auf mich, auf der anderen muss ich zugeben, dass sie in meinem Alltag kaum eine Präsenz hat, die über ein rationales Konstrukt hinausginge, also so etwas wie ein inneres Bild, eine Vorstellung, die von selbst deutlich wird, wenn das Thema Umweltschutz diskutiert wird. Ich war erstaunt, dass bei Stern bereits die Verbauungsfläche bzw. ‑dichte thematisiert wird, das ist gegenwärtig noch immer der Fall. Der Einsatz schwerer Maschinen in der Forstwirtschaft ist etwas ähnliches. Wir werden da einiger Dinge nicht Herr; wir haben ein starkes Bedürfnis nach Natur, aber erschreckend karge Vorstellungen und Bilder in uns, die unser Handeln leiten könnten. Die hohe Verfügbarkeit so vieler Dinge mag manchmal praktisch sein, aber ist sie nicht eigentlich absurd? Wir vermögen es noch immer viel zu wenig uns auf das Notwendige zu begrenzen, auf das zu besinnen, was wir tatsächlich brauchen, dann machte der Besitz auch Freude und würde nicht über unsere Köpfe quellen (wenn ich es richtig im Kopf habe, verfügt ein durchschnittlicher Haushalt über 10 000 Gegenstände, das ist sicherlich weit mehr als zu Sterns Zeiten). So aber wird eine ungeheure Produktion aus falschen oder Ersatzbedürfnissen stimuliert, was sich in unserer Umwelt niederschlägt und niederschlagen muss, weil wir als heterotrophe Lebensform auch gar nicht anders können. Auf das Ausmaß allerdings, hätten wir Einfluss.
Der Text dort ist ein beredtes Beispiel:
»Wir alle werden es wieder tun: Sachen konsumieren, die nicht sein müssten. Weil wir bequem sind. Weil wir glauben, sie zu brauchen. Weil unsere Freunde sie auch haben.«
Das ist nichts anderes als ein Eingeständnis unfähig zu sein, sich über seine eigenen Bedürfnisse klar zu werden und diesen zu folgen; der Ersatz, der Konsum, täuscht über diese hinweg, ersetzt sie durch Surrogate, eine Unredlichkeit uns selbst gegenüber. Und dann wird aus dem rationalen Gefängnis heraus eine ebensolche Lösung gefordert, gleichsam eine Instrumentalisierung seiner selbst durch eine Autorität, dem bloßen Gedanken an etwas wie Einsicht fern (und wohl auch fremd):
»Es sei denn, uns haut endlich jemand auf die Finger. Es sei denn, jemand sagt: Lass das! Liebe Angela Merkel, lieber Staat, liebe EU, liebe Weltregierung, ich fordere euch hiermit auf: Verbietet mir, was ich gerne haben möchte, aber besser nicht haben sollte. Anders ist die Welt nicht mehr zu retten. Protect me from what I want, sang schon die Band Placebo.
Verbote zu fordern heißt, die Fehlbarkeit des Menschen verstanden zu haben.
[...]
Ich weiß nicht, wann es mich das letzte Mal mehr als ein paar Augenblicke lang glücklich gemacht hat, etwas gekauft zu haben. Meistens geht es mir dabei wie in der Kantine, wenn ich mich trotz guter Vorsätze am Ende doch für die Currywurst entschieden habe und danach denke: Puh, hätte nicht sein müssen. In einer Welt mit vielen Verboten müssten wir uns keine Gedanken mehr darüber machen, ob das, was wir tun, der Umwelt oder unseren Mitmenschen schadet. Kein schlechtes Gewissen ertragen, wenn ein Fahrradfahrer mit Jutebeutel an uns vorbeiradelt. Wir wären plötzlich viel freier.
In Wirklichkeit sehne ich, sehnen wir uns nach dem Mann, der im Supermarkt neben uns tritt und sagt: Plastiksalat mit Plastikgabel? Das stellen Sie mal schön wieder ins Regal. Und dann schaut er uns sehr böse an. «
Abgesehen davon, dass das vermeintlich Gute hier wieder allerlei zu rechtfertigen scheint und Einkaufen nicht glücklich machen braucht, aber durchaus Zufriedenheit erzeugen kann, wenn es sich am Wesentlichen orientiert, zeigt der Text den tatsächlichen Mangel recht deutlich: Dass ein Tun mit dem man selbst im Einklang steht, eine tiefe Befriedigung zu vermitteln vermag, die vieles andere überflüssig macht und dass es (anscheinend) für viele immer größere Schwierigkeiten bereitet, ein solches zu finden. Naiverweise könnte man meinen, dass Bildung und Erwachsenwerden bzw. ‑sein eine Selbstvergewisserung miteinschließt, die sich solcher Fragen annimmt. Diese Fragen werden wir allerdings nicht alleine rational lösen können, weswegen eine Verbotsgesellschaft weder frei noch glücklich machen wird.
Naja, der Wunsch, dass da jemand sei, der einem »auf die Finger haut« ist schon bedenklich, weil er indirekt die Verantwortung für das eigene Handeln abgeben möchte.
Unlängst gab es ein Foto auf Twitter von der Vorsitzenden der bayerischen Grünen, die in ihrem Urlaub – ich glaube es war in San Francisco – einen Eisbecher mit Plastiklöffel konsumierte und ganz lustig schien (man selber sah sie nicht). Es ist diese Ambivalenz der Verbots- und Verzichtsprediger, die mehr Schaden anrichtet als irgendwelche schwachsinnigen Kommentare von ein paar Volltrotteln. Sie zeigen die Differenzen in der Wahrnehmung: Für sich selber nimmt man die Ausnahmen in Anspruch.
Tatsächlich ist das Leben in der Moderne für viele Menschen freudlos geworden; Konsum ist eine Ersatzbefriedigung, die irgendwann auch nicht mehr heilt. Ständig werden neue »Bedürfnisse« erzeugt. Besonders perfide ist dies im Bereich des Tourismus. Ganze Städte werden inzwischen für Monate von Touristen regelrecht usurpiert; eine Bekannte erzählte mir, sie hätte in Prag die Karlsbrücke nicht flanieren können, so voll wäre es gewesen – ihr war bewusst, dass sie selber Teil des »Problems« war.
Das Elend: Eine Verbotsgesellschaft macht nicht glücklich – aber die Gebotsgesellschaft auch nicht. Daher flüchten so viele in mehr oder weniger sinnvolle »Engagements«. Sie brauchen einen Halt.
Ja. Dieses Verantwortung abgeben hat aber mehrere Seiten, es könnte auch aus Bequemlichkeit erfolgen. Im vorliegenden Fall wird sie abgegeben, weil der Autor seine Bedürfnisse nicht kennt, sich nicht um sie zu kümmern vermag und zahllosen Verlockungen erliegt; dies sieht er als Ursache von Leid und Verwerfungen in anderen Ländern, die aus einem Übermaß an Produktion erwachsen, das eigentlich niemandem dient. Logischerweise muss er nach einer Hand rufen, die ihm auf die Finger haut. Müssen oder möchte? Vielleicht ist es doch nur die Bequemlichkeit. Das Beispiel zeigt, das Verantwortung gegenüber einem selbst beginnt und sich dann erst auf andere ausweitet, bzw. es schon automatisch ein Stück weit tut.
Manchmal würde ich gerne wissen, was in den Köpfen vorgeht. Die Bundessprecherin der österreichischen Grünen, Eva Glawischnig, wechselte nach ihrem Rücktritt zu Novomatic, einem Glücksspielkonzern, der immer wieder von den Grünen kritisiert wurde. In der Wikipedia wird das wie folgt beschrieben:
»Am 2. März 2018 wurde unter regem Medieninteresse bekanntgegeben, dass sie beim Glücksspielkonzern Novomatic angestellt wurde, einem Unternehmen, das in der Vergangenheit immer wieder das Ziel von Kritik seitens der Grünen und auch Glawischnigs selbst war. Dort führt sie die Stabstelle für Nachhaltigkeitsmanagement und verantwortungsvolles Spiel.[10][11] Nach der Bekanntgabe des Jobwechsels kündigte sie an, ihre Parteimitgliedschaft bei den Grünen zurückzulegen.[12] Seit 30. Juni 2018 ist Glawischnig Aufsichtsratsmitglied der deutschen Novomatic-Tochter Löwen Entertainment.[13]«
In der österreichischen Presse erschien vor einiger Zeit ein ausführlicher Artikel, der dieses Beispiel aufgreifend, der 68iger Generation und den nachfolgenden, Spießertum vorwarf und dies auch begründete. Mir scheint das und vergleichbares hierher zu gehören, gleichsam: Was schert mich das Eigene, der Bezug zu mir selbst, mein Bedürfnisse. Darüber wird man flexibel, dem äußeren gegenüber, verliert Ecken, Kanten und Widerständiges, weil man seiner selbst nicht gewahr ist oder wird und es auch nicht verteidigt.
Das Freudlose hängt doch damit zusammen und gewiss werden die Räume, die beruflichen vor allem, enger, sie gewähren immer weniger, dass etwas Eigenes in der Arbeit und ihrem Ergebnis noch zutage tritt. Ich weiß nicht, kann Konsum als Medizin quasi, überhaupt heilen? Dass jeder auch Anteile in seiner Person hat, die man als Konsum beschreiben kann, klar, aber das ist ja nicht gemeint. Konsum ist also eine Selbsttäuschung und zwar über den eigenen Zustand, oft verstanden als Erleichterung des oder Gegengewicht zum Arbeitsalltag(s). Auch das ist nicht grundsätzlich illegitim.
Halt zu suchen und zu finden, ist ja ein redliches Unterfangen, Engagements scheinen jedoch oft äußerlich zu sein und mit den Geboten in Zusammenhang zu stehen.
In Deutschland wechselte neulich der ehemaliger Staatssekretär (und Mitglied der Grünen) Matthias Berninger nach Bayer, weil er, so habe ich es irgendwo gelesen, den Hunger auf der Welt bekämpfen möchte – und das ist, so seine Meinung, nur in einem solchen Konzern verantwortungsbewusst zu erledigen. Ich glaube fast, dass ehemalige Politiker wie Glawischnig und Berninger tatsächlich noch glauben, sie könnten den »Teufel« bändigen.
Jeder, der schon einmal damit zu tun hatte, weiss, dass man süchtige Spieler nicht mit Appellen besänftigen oder gar umkehren kann. Der Glaube daran ist naiv und am Ende lächerlich. Er speist sich womöglich aus dem Marsch durch die Institutionen der 68er, der was das politische Denken angeht, tatsächlich sehr erfolgreich war. Aber die Politik ist nicht alleine. Es müssen Interessen mit der Wirtschaft austariert werden. Dies geschieht entweder mit Verboten (meist da, wo es nicht sonderlich weh tut), oder mit sehr langen Karenzzeiten. Beim Glücksspiel gibt es so was nicht. Aber Bayer wird irgendwann ein neues Unkrautvernichtungsmittel erfunden haben, dass dann »besser« ist (die Nebenwirkungen sieht man dann in 20 oder 30 Jahren).