Der Untertitel macht neugierig: »Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU« heißt es da. Das Los als Entscheidungsinstrument kennt man eher im Sport. So werden in Fußballwettbewerben Spielpaarungen zugelost, wenn nicht jeder gegen jeden spielen soll. Meist wird es mit einer Mischung zwischen notwendigem Übel und willkommener Ungewissheit betrachtet. Der Zufallscharakter wird insbesondere von den vermeintlich besseren Mannschaften als wettbewerbsverzerrend empfunden, da schwächere Mannschaften durch entsprechendes »Losglück« begünstigt werden können; die Floskel vom »schweren« oder »leichten« Los macht dann oft die Runde. Das Weiterkommen in einem Wettbewerb wird unter Umständen nicht mehr alleine der Leistung (im Sieg über die zugeloste Mannschaft) gutgeschrieben.
Aber wäre es mit unserem Verständnis in Übereinstimmung zu bringen, politische Entscheidungen mindestens teilweise über Losentscheidungen vornehmen zu lassen? Ist nicht der Status des Gewählten für einen Amtsträger erst DIE Legitimationsbasis überhaupt? Wie würde ein »ausgeloster« Abgeordneter, Richter oder Bürgermeister akzeptiert werden? Geht es überhaupt darum, die Wahl durch das Los zu ersetzen? Oder könnten Losentscheidungen nur flankierende Maßnahmen zur rascheren Auswahl von Entscheidungsträgern darstellen? Worin könnten die Vorteile gegenüber den bisherigen Verfahren liegen?
Bereits jetzt dient das Los in der Bundesrepublik in extremen Situationen, in denen eine Entscheidung nach ausgiebigem Wahl-Prozedere nicht zustande kommt, eine Wiederholung der Verfahren nicht erfolgversprechend scheint und als zu aufwendig empfunden wird, als »Tie-Breaker«. Sind doch in mehreren Gemeinden…derzeit Bürgermeister und Landräte im Amt, die nach einem Stimmenpatt im Losverfahren ermittelt wurden. Auch in der Bundesversammlung spielt das Los dann eine Rolle, wenn Parteien wegen gleicher Stärke in einem Landesparlament Anspruch auf denselben Sitz in der Versammlung erheben könnten, was bei knappen Mehrheitsverhältnissen durchaus Relevanz besitzen könnte. Tatsächlich würde bei der Wahl zum Bundestagspräsidenten das Los eingesetzt, wenn nach drei Wahlgängen kein Kandidat die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen sollte und sogar der Bayerische Landtag sieht für den Fall eines Patts bei einer Stichwahl zum bayerischen Ministerpräsidenten den Losentscheid vor.
Hubertus Buchstein führt viele Beispiele (auch aus anderen Ländern) an, die das Los als Indifferenzregulationsinstrument vorsehen, also als Entscheidungshilfe zwischen zwei Möglichkeiten, die jede für sich gleich gute Gründe oder gleich viele Stimmen auf sich vereinigen kann. Sieht man einmal von den Entscheidungen auf kommunaler Ebene ab, bleibt der Losentscheid jedoch fast immer nur als Ultima Ratio (viele der aufgeführten Konstellationen sind noch nie eingetreten). Es kann nicht davon gesprochen werden, dass das Los bisher ein wesentliches Element des demokratischen Auswahlprozesses ist.
Das Los in Athen
Das war, wie Buchstein umfassend ausführt, durchaus schon einmal anders. Er geht dabei zurück bis zur griechischen Antike. Ausführlich werden die demokratischen Strukturen und Institutionen nebst Bedeutung des Loses im »demokratischen« Athen insbesondere von 462 v. u. Z. – 322 v. u. Z. untersucht (das Los fand allerdings auch in oligarchischen Systemen vorher und nachher durchaus Anwendung). So wurde es bei der Bestellung der Jury für die Agone, den Wettbewerb um die besten Theaterstücke oder bei der Priesterinnen-Wahl (unter Abschaffung der bis dahin praktizierten Erbfolge) eingesetzt. Mit der Ausweitung der Bürgerrechte wurden Losverfahren in mehreren Etappen auf die Bestellung von Amtsträgern ausgedehnt: Sowohl die Mitglieder der »Boule« (dem Rat der Fünfhundert), der »maßgebliche[n] Behörde« (Aristoteles) des politischen Athen als auch die Mitglieder des im 4. Jahrhundert geschaffenen Gesetzgebungsorgan, die »Nomotheten« wurden mit Hilfe eines ausgeklügelten Losapparates, dem »Kleroterion« bestimmt. Buchstein erläutert nicht nur genauestens, wie dieser Apparat, der praktisch als fälschungssicher bezeichnet werden muss, funktionierte sondern erläutert auch die prozeduralen Verfahren.
Allerdings: Keine Regel ohne Ausnahme. Selbst in der Phase der »radikalen Demokratie« wurde am Wahlverfahren für solche Ämter festgehalten, von denen man überzeugt war, dass sie ganz spezielle Kenntnisse, Fertigkeiten, Erfahrungen oder besonderes Vertrauen erforderten. Zudem wurden die Ausgelosten einer »Dokimasie« unterzogen (bspw. bei der Besetzung der »Boule«). Dies war ein öffentliches Verfahren, in dem durch Befragungen die Eignung des Kandidaten festgestellt werden sollte. Die Anhörung machte auch vor persönlichen Fragen nicht halt und erstrecke sich außerdem auf religiöse, soziale und politische Überzeugungen. In Zweifelsfällen wurden auch Zeugen hinzugezogen. Das Verfahren wurde durch eine offene Abstimmung (Mehrheitsbeschluss der alten Ratsmitglieder) abgeschlossen.
Kenntnisreich geht Buchstein auf das athenische Gerichtswesen ein, welches nur Laienrichter kannte, die mittels Los ermittelt wurden. »Richter« waren seinerzeit eher das, was man heute Geschworene nennen würde (obwohl der Autor diesen Vergleich eher ablehnt): bei weniger wichtigen Prozessen saßen 501 Richter im Kollegium, bei bedeutenderen Fällen konnten auch 1.001, 1.501, 2.001, 2.501 oder sogar noch mehr Richter über einen Fall entscheiden.
Lose wurden nur bei Personalentscheidungen herangezogen. Sachentscheidungen wurden in den Institutionen verhandelt, deren Mitglieder vorher über Los- und/oder Wahlverfahren ermittelt wurden. Wichtig war die Freiwilligkeit, d. h. man musste sich vor der Auslosung für das ausgeschriebene Amt zur Verfügung stellen (dies funktionierte mit Kärtchen, die in den Losapparat eingebracht wurden). Die Ämtervergabe wurde mit strikten Vorgaben wie Rotation oder Monomagistratur (Verbot der Ämterakkumulation) gekoppelt. Eine zeitliche Begrenzung und Sperrzeiten waren eingerichtet.
Rekrutierungsinstrument und Korruptionsprävention
Wurde anfangs die Losentscheidung noch als »göttliches Urteil« betrachtet (und aufgewertet) – Sakraltherorie nennt Buchstein das -, so entwickelte sich im Laufe der Zeit ein pragmatischeres Verhältnis. Daneben diente das Los einerseits noch als Rekrutierungsinstrument (Entdeckungsverfahren kreativen demokratischen Personals spitzt Buchstein diesen Gedanken zu, wobei dieses Verfahren durch Dokimasie und Rotation flankiert blieb) und andererseits als Prävention für Bestechungen.
Mitte des 4. Jahrhunderts gab es ein Reservoir von ca. 20.000 Bürgern in Athen. Hieraus mussten rd. 7.000 Ämter in Gerichten, dem Rat und den Beamtenkollegien ermittelt werden. Zieht man von dieser Zahl die 6.000 ab die für die Gerichte als Geschworene (sic!) zur Verfügung standen, dann bleiben immer noch knapp 1.100 Positionen (sic!) übrig. Wollte man eine Art Berufsbeamten- bzw. Berufspolitikertum vermeiden, so musste die Gefahr von Mauscheleien, Absprachen oder Fälschungen, wie sie bei Wahlen durchaus hätten auftreten (oder behauptet werden) können, begegnen. Hier erfüllte das Los durchaus seinen Zweck. Interessant ist auch am Rande (Buchstein entgeht dies natürlich nicht), dass es eines gewissen Selbstbewusstseins des Bürgers bedurfte, sich für die Auslosung zu einem Amt zur Verfügung zu stellen, während ein Wahlverfahren das Urteil der Anderen über den Kandidaten wiederspiegelt.
In aller Ausführlichkeit gibt Buchstein einen Überblick in die Argumentation der Demokratiegegner (wie Herodot und Platon), die (unter anderem) die Bestellung von Ämtern per Losverfahren zum Anlass nahmen, die Demokratie an sich anzugreifen und abzulehnen. Interessant dabei die Einblicke in ihre Argumentation (Klassenherrschaft der unteren Schichten nennt sie der unbekannte Autor, der als »der alte Oligarch« geführt wird). Es zeigt sich, dass die Thesen des antidemokratischen Diskurses praktisch über die letzten 2.500 Jahre kaum Veränderungen erfahren haben. Die Einblicke insbesondere von Platon sind in dieser komprimierten Form ausgesprochen interessant aufbereitet. So wird kursorisch sowohl Platons »Alternative« zur Demokratie, die in der Kooptation (einer monarchistisch-oligarchischen Ämterbestimmung) gipfelt als auch die etwas sanftere Staatsphilosophie aus seinem kurz vor dem Tod verfassten Werk »Nomoi« angedeutet, in dem anhand der fiktiven Kolonie »Magnesia« eine Art neuer politischer Idealstaat entwickelt wird (und auch das Los wieder zur Anwendung kommen soll).
Aristoteles gilt zwar mindestens als Demokratieskeptiker, aber anders als Platon und Herodot unterscheidet er die Staatsformen nicht nach der Bestellungstechnik, sondern nach dem Umfang der Wählerschaft. Eine Demokratie, so Buchsteins Lesart des griechischen Philosophen lässt sich nicht daran erkennen, ob in einer Polis gelost oder gewählt wird, sondern dass die Ämter für alle offen sind und dass sich alle gleichermaßen an der Ämterbestellung beteiligen. Aristoteles zufolge sind diejenigen Staatsformen eine ‘Demokratie’, in denen »alle aus allen entweder durch Wahl oder durch Los bestimmt werden, oder kombiniert, die einen durch Wahl und die anderen durchs Los« (Aristoteles 1300b 30–33). Damit ist allerdings keinerlei Bewertung demokratischer und oligarchischer Regierungsformen vorgenommen (was für die weiteren Überlegungen im Rahmen des Themas auch keine Rolle spielt).
Wichtig bei diesen Betrachtungen ist, dass die politische Gleichheit…die Bedingung [war], unter der sich das Los, welches sakrale und oligarchische Wurzeln hatte, zu einem Instrument der Ämterbesetzung der Demokratie entpuppen konnte und nicht etwa umgekehrt das Los erst zum »Gleichmacher« wurde. Diese These ist essentiell, weil Buchstein später das Los in aktuell bestehende demokratische Institutionen neu verankern und dabei nicht den (falschen) Einsprüchen von vor zweieinhalbtausend Jahren begegnen möchte.
Venedig und Florenz
Nach der Hochzeit der athenischen Demokratie verflüchtigt sich die Bedeutung des Loses. Für den Leser wird es recht mühselig, wie Buchstein einige Anwendungen bei den Griechen, Römern, Juden und auch bis zum 12. Jahrhundert in Europa hervorholt. So ist das Fundstück, dass die Soldaten nach der Kreuzigung von Jesus von Nazareth dessen Kleider verlosten im Rahmen einer solchen Studie eher zweitrangig. Da geht mit dem Autor gelegentlich die Datensammelwut durch.
Das Los erfährt eine Renaissance in den italienischen Stadtrepubliken ab ungefähr dem 12. Jahrhundert. Insbesondere in Florenz und Venedig entstehen ausgefeilte Auswahlverfahren. Ausgiebig beschreibt Buchstein das venezianische Verfahren zur Ermittlung des Dogen. Auch bei der Bestellung von Ratsmitgliedern und Magistraten fand das Los seine Anwendung. Wichtig ist hierbei jedoch, dass das Los in Venedig niemals direkt für die Bestellung von Amtsträgern angewandt wurde, sondern nur bei der Auswahl der Beteiligten in Nominierungs- oder Auswahlgremien. Die vakante Position wurde durch die in komplexen Losverfahren ermittelten Teilnehmer in freier und geheimer Wahl besetzt.
Kompliziert waren auch die (ständigen Wandlungen unterworfenen) Losverfahren insbesondere des 14.–16. Jahrhunderts in Florenz. Buchstein schließt sich nach gründlicher Schilderung der einzelnen Prozeduren Machiavellis Urteil von 1525 an, dass durch die Lotterie »der Stadt viel Verdruss erspart und die Ursache des beständigen Tumults behoben« worden sei.
Ein bisschen zäh tastet sich Buchstein an die Möglichkeiten zur heutigen Verwendung des Loses heran. Zunächst ist in einem sehr langatmigen Kapitel vom leise[n] Ende des Losens die Rede. Sodann werden Allokationsrivalen zum Los herausgearbeitet – was weniger schlimm ist, als es sich anhört. Buchstein macht ein Septett von Allokationsalternativen aus. Neben Wahl und Los bleiben als »Rivalen«: Kooptation, Rotation, Warten (Wartelisten!), autoritative Zuteilung und Auktion. Die Ausführungen zu den Alternativen überzeugen nicht unbedingt immer. So ist zum Beispiel eine Rotation als »eigenständiges« Verfahren zur Besetzung von Ämtern schwer vorstellbar. Daher referiert Buchstein auch ergänzend über Kombinationen des Loses mit anderen Alternativen.
Es folgen viele theoretische und gelegentlich langatmige Erörterungen, wie beispielsweise über John Rawls und dessen Theorie der Gerechtigkeit, die er in ein fiktives Rawlsanistan münden lässt und dem ein ebenfalls erfundendes Losland gegenübergestellt wird. Hier wird Buchsteins Anspruch, ein umfassendes Standardwerk unter Berücksichtigung möglichst aller bisher gedachten Aspekte zu verfassen, deutlich. Das führt abermals zu teils abwegigen Aufzählungen, wann und wo das Los in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart eine Rolle spielt, so zum Beispiel im Sport. Erstaunlicherweise übersieht Buchstein offenbar dabei, dass die Losentscheidung beispielsweise bei Fußballspielen ab den 70er Jahren zu Gunsten des als sportlicher empfundenen Elfmeterschiessens abgeschafft wurde (wobei ein Aufsuchen der entsprechenden Wikipedia-Seite genügt hätte [man beachte insbesondere die Münzwurfentscheidung beim Viertelfinale des Europapokalspiels 1965 zwischen dem 1.FC Köln und FC Liverpool]).
Vor- und Nachteile des Loses
Lebendig wird das Buch erst wieder, als Vor- und Nachteile des Loses dialektisch aufbereitet werden. Ist es doch – richtig implementiert – ein neutraler und verfahrensautonomer Mechanismus, unbedingt treffsicher (das Resultat ist zweifelsfrei erkennbar; Pattsituationen gibt es nicht) und kostengünstig (Stichwahlen sind nicht zu erwarten). Das Los entlastet Entscheidungsträger und Entscheidungsunterworfene und »reduziert« emotionale Kosten derjenigen, die schwerwiegende Entscheidungen zu treffen haben. Desweiteren wird dem Gewinner ein gewisser Erwartungsdruck genommen.
Als weiterer Vorteil gilt, dass das Los Kreativität und produktive Unruhe erzeuge, in dem zum Beispiel gesellschaftliche Verkrustungen aufgebrochen werden können. Damit ist wiederum der wichtige Punkt der Korruptionsvorbeugung angesprochen, die durch Losentscheidungen begünstigt wird. Denn Tätigkeiten, die anfällig für Korrumpierungsversuche sind, werden dadurch in ihrer Integrität geschützt, dass mittels des Losverfahrens ein hohes Maß an Unsicherheit und Unplanbarkeit produziert wird.. Dabei entsteht fast von selbst ein weiterer Vorteil, nämlich die Erhöhung der gesellschaftliche[n] Stabilität. Hinzu kommt, dass die Enttäuschung über das Losergebnis…keine Zurücksetzung oder Beleidigung birgt. Das Los bietet…wenig Anknüpfungspunkte für negative Gefühle, die in Gegnerschaften und Aggressionen umschlagen könnten.
Das letzte Argument für eine stärkere Berücksichtigung von Zufallsentscheidungen in demokratischen Prozessen wird mit der »Rationalität zweiter Ordnung« erklärt, die mittels Losentscheid geschaffen werde, um in bestimmten Situationen eine Entscheidung überhaupt erst möglich zu machen. Entscheidungen, die aufgrund von absoluter Unsicherheit, völliger Indifferenz, irrelevanten Unterschieden oder Inkommensurabilität keine für die Beteiligten rational nachvollziehbaren Entscheidungsgründe bieten, soll man der Entscheidung einer Lotterie überantworten. Ein weiteres Beharren auf rational begründbare Entscheidungen, so zitiert Buchstein den norwegisch-amerikanischen Sozialwissenschaftler Jon Elster, käme einer irrationale[n] Entscheidung von »Hyperrartionalität« gleich, weil man sich weigere, die Grenzen von Rationalität rational anzuerkennen.
Mit dem letzten Punkt begibt sich Buchstein in das weite Gebiet der Überbewertung von Rationalität, ohne es vollständig zu behandeln. Fatal ist, dass er nicht an einem Beispiel konkretisiert, welche Art von politischen Entscheidungen mit den oben genannten Punkten der »Beliebigkeit« des Resultates betroffen sein könnten. Beziehungsweise: Wer die im Zweifel bestehende Indifferenz und/oder Unterschiedslosigkeit der entsprechenden Entscheidung feststellt. Wenn das Los aufgrund einer »Hyperrationalität« von Gesellschaften seit langer Zeit eine Randexistenz nur als »Tie-Breaker« fristet und nun argumentativ herausgeführt werden soll, bedürfte es hierzu näherer Erläuterungen.
In den nachfolgenden Entgegnungen relativiert der Autor die Vorteile des Loses, wobei einige Einwände zuweilen etwas konstruiert erscheinen. Natürlich sind fälschungssichere Techniken für die Ermittlung von Losresultaten schwierig. Aber was schon vor zweieinhalbtausend Jahren in Athen gelang, müsste doch auch heute machbar sein. Schwerer wiegt schon der Gedanke, dass das Wettbewerbsprinzip durch Lotterieentscheidungen ausgehoben würde, was dann später Auswirkungen auf den durch den Zufall ermittelten Amtsträger haben könnte. Und auch zum anfangs logisch klingenden Argument der Korruptionsbekämpfung lässt sich bei Ämtern eine Gegenrechnung aufmachen, wonach durch Losverfahren ermittelte Amtsinhaber im Unterschied zu solchen, die auf eine Wiederwahl spekulieren, keinen Anreiz haben, in besonderem Maße Verantwortung gegenüber ihrer politischen Gemeinschaft zu übernehmen und auch keinen Ansporn, eine solche Verantwortung zu entwickeln. Wenn es ihnen lediglich um die Maximierung ihrer persönlichen materiellen Interessen geht, können sie ihr Amt wie einen »Glückstreffer« behandeln, das ihnen die seltene Chance bietet, soviel wie möglich für sich herauszuschlagen.
Was Buchstein als advocatus diaboli in diesem Fall nicht anspricht, ist die Implementierung von entsprechenden Kontrollinstitutionen, die Amtsträger (gewählte oder »ausgeloste«) entsprechend zu beobachten und – wenn notwendig – zu sanktionieren hätten. Sicherlich wäre die Hürde, einen »Ausgelosten« aufgrund von Unfähigkeit oder Vorteilsnahme zu entlassen wesentlich geringer als einen gewählten Amtsträger entfernen zu wollen. Freilich muss dann wieder die entsprechende Kontrollinstitution legitimiert sein (und abermals fragt man sich: durch wen?), was eine zusätzliche Bürokratisierung zur Folge hätte (die ursprünglich ja durch das Los gezähmt werden sollte).
Synthese zwischen Zufallsentscheidung und deliberativer Demokratie
Bei der kritischen Beleuchtung des Arguments der »Rationalität zweiter Ordnung« stößt er auf den entscheidenden Punkt, der über Einsatz oder Nichteinsatz des Loses entscheidet: Die Lotterie ist als rational höherstufige Fluchtoption auf einen Konsens unter allen Beteiligten im Hinblick auf ihre Situationsdeutung angewiesen. Diese Erkenntnis wird Buchstein in seinen Betrachtungen über die Einbettung des »Zufalls« im Rahmen eines deliberativen Demokratieverständnisses aufnehmen. Er zeigt dabei in milder Kritik an Habermas’ Diskurstheorie, wie das Los durchaus belebendes Element partizipativer Demokratie werden kann und versucht den Gedanken, dass der Zufall sozusagen der »natürliche Feind« des herrschaftsfreien Diskurses ist, zu beseitigen.
Die Ausführungen hierzu sind arg wissenschaftlich und setzen Grundkenntnisse des deliberativen Demokratiemodells voraus. Buchstein versucht den Spagat, die Losentscheidung in aktuelle demokratische Prozesse einzubinden und dauerhaft zu implementieren und andererseits den »Diskurs« der Öffentlichkeit nicht durch Zufallsentscheidungen auszuhebeln. Auch hier kommt er erst nach einiger Zeit auf den Punkt, unter anderem weil zunächst ausführlich die Modelle untersucht werden, die für die eigenen Prämissen letztlich gar nicht infrage kommen.
Die Synthese zwischen Los und Partizipation entdeckt er an verschiedenen, teilweise auch in der Praxis bereits eingeführten Modellen, die dem im Buch detailliert beschriebenen Prinzip der klassischen Geschworenengerichte angelehnt sind. So wurden beispielsweise 1987 in Dänemark sogenannte Konsensus-Konferenzen eingeführt (Citizen Jury[s], wie sie in anderen Ländern genannt werden, funktionieren nach ähnlichen Prinzipien), in denen verschiedene Themen, insbesondere der modernen Wissenschaft und Technik diskutiert und behandelt wurden (beispielsweise über die Anwendung von Gentechnologie in der Landwirtschaft, Luftverschmutzung,…elektronische Überwachung des öffentlichen Raums oder auch einfach nur Straßenfinanzierung). Die Absicht dieser Konsensus-Konferenzen liegt darin, eine für Wissenschaftler und Bevölkerung zustimmungspflichtige Grundlage für Policy-Entscheidungen im Bereich der Technologiepolitik zu gewinnen (Buchsteins gelegentliche Anglizismen sind etwas nervig).
An den Konsensus-Konferenzen nehmen zehn bis höchsten 25 Personen teil, die per Los unter den volljährigen registrierten Einwohnern ermittelt werden. Auch in Großbritannien, den Niederlanden, Spanien und Deutschland hat es auf kommunaler und lokaler Ebene ähnliche Projekt gegeben. Buchstein zieht eine positive Bilanz. Es sei damit gelungen, die wenig Ertrag bringende Konfrontation von sachkundigen Experten auf der einen und uninformierten Laien auf der anderen Seite, bei dem von vornherein eine asymmetrische Defizitannahme zu Ungunsten der ausgelosten Bürger angenommen wird, zu überwinden. Die zur Debatte stehenden Fragen werden nicht technokratisch verengt behandelt, sondern in den Empfehlungen wird auch auf ethische und moralische Bewertungsmaßstäbe abgehoben. Am Ende…steht keine von wissenschaftlichen Laien gefällte wissenschaftliche Aussage, sondern ein von Bürgern getroffenes Urteil über die Wünschbarkeit oder Nicht-Wünschbarkeit der Anwendung bestimmter Technologien oder anderer Streitpunkte.
Aber Konsensus-Konferenzen, Citizen Jurys oder Planungszellen gelangen kraft ihres Auftrages zu keinem Votum, das einer Entscheidung mit verbindlichen Folgen gleichkäme (was sie deutlich von den Geschworenengerichten unterscheidet). Sie geben lediglich Empfehlungen für gewählte Amts- und Mandatsträger ab und fungieren gleichsam als Methode, mit der politische Eliten den aufgeklärten Bürgerwillen zu erfahren suchen. Die Ausnahme scheint nur in Dänemark zu bestehen; Studien haben ergeben, dass die Empfehlungen der dänischen Konsensus-Konferenzen die dortigen Policy-Entscheidungen ganz wesentlich beeinflussen konnten. Die stärkere Bedeutung erklärt sich mit dem quasi-offiziellen Status der Konsensus-Konferenzen durch ihre Anbindung an das Wissenschafts- und Technologieministerium.
Werden die Resultate dieser Diskursplattformen aber nur als unverbindliche Empfehlung betrachtet, derer man sich je nach politischer Grosswetterlage bedient oder einfach nonchalant ignoriert, wird die Akzeptanz solcher Gremien dauerhaft sabotiert. Notwendig sei vor allem eine klare Festlegung verbindlicher Kompetenzzuschreibungen im Rahmen des politischen Systems moderner Demokratien.
Hat Buchstein jetzt für »seinen« Losentscheid eine Grundlage für eine Institution »gefunden«, die nur noch mit der entsprechenden Kompetenz ausgestattet werden muss, so stellt sich unbedingt die Frage nach der sozialstatistischen Repräsentativität des entsprechenden Gremiums. Dieses Problem zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Ausführlich wird es bei der Bestellung der Geschworenen in den USA erläutert, wo alleine schon aus gesellschaftlichen Gründen ein starkes Augenmerk auf eine paritätische Besetzung der Jury gelegt wird. Buchstein spricht gar von einem Recht von Angeklagten vor einer seine community in ihrer ganzen sozialen Vielfalt repräsentierenden Jury zu stehen. Dabei wirft schon die Frage, was unter community zu verstehen ist, neue Problem auf, d. h. zum Beispiel ob dieser Begriff kommunal, regional oder national definiert wird. Die Schwierigkeiten ergeben sich desweiteren aus der »Zuordnung« der potentiellen Jury-Teilnehmer zur »jeweiligen« gesellschaftlichen »Schicht« bzw. Minderheit. So wird der Zufallscharakter des Loses »gesteuert« bis hin zu einem gewichteten Los, welches Disparitäten durch Quoren verhindern soll. So gibt es bei den dänischen Konsensus-Konferenzen 50%-Quoren für beide Geschlechter oder – wieso »oder«? – eine statistisch durchschnittliche Altersquotierung, die entsprechend festgelegt wird.
Repräsentativität und das »House of Lots« als Zweite Kammer
Die Akzeptanz des Loses zur Bestellung von mehr als nur beratend tätigen politischen Institutionen wird also sehr stark mit ihrer repräsentativen Ausgestaltung verknüpft sein. Denn das Zufallsprinzip ist eher negativ konnotiert (Buchstein paraphrasiert Marx). Die ein bisschen spielerisch eingebrachte eleatorische Demokratietheorie ist zwingend auf egalitäre Strukturen angewiesen, da ansonsten die entsprechende Legitimation nicht gewährleistet ist. Andererseits leidet der ja durchaus von einigen als Belebung empfundene Überraschungs- und Zufallscharakter des Loses, wenn im Vorfeld zu viele, regulierende Eingriffe vorgenommen werden. Denn wenn Zufall als eine von uns wahrgenommen Grundlosigkeit definiert und gleichzeitig als Ziel dieser Studie proklamiert wird, dem Zufallsmechanismus einen sichtbaren Platz in der modernen Demokratie einzuräumen, dann zeigt sich im »gezügelten Zufall« doch eine gewisse Halbherzigkeit, die allerdings als notwendig erachtet wird, um die gesellschaftliche Akzeptanz zu erhöhen.
Im Laufe des Buches versäumt es Buchstein stichhaltige Pro-Argumente für die Bestellung relevanter, bestehender politischer Ämter mittels Lotterieverfahren auszuarbeiten. Zwar ist ihm das Los als bloßes Optimierungsverfahren für Wahlen zu wenig. Aber vor weitergehenden Schritten schreckt er dann zurück. Stattdessen entwickelt er (lange angekündigten) im vorletzten Kapitel den Gedanken einer neue[n] Zweite[n] Kammer des Europäischen Parlaments, die er »House of Lots« nennt (in Anlehnung an Barbara Goodwin) und sich eng an die Konsensus-Konferenzen orientiert.
Diese Zweite Kammer sollte aus 200 Mitgliedern bestehen, welche analog zur (dann) Ersten Kammer nach dem Prinzip der degressiven Proportionalität die Bürger der Europäischen Union repräsentieren sollen…Die Abgeordneten würden jeweils alle zweieinhalb Jahre im Rhythmus der alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen zur Ersten Kammer ausgelost; jeder Bürger dürfte in seinem Leben höchstens einmal ein Mandat in der Loskammer erlangen. Die Teilnahme an der Lotterie sollte zu den obligatorischen Pflichten aller EU-Bürger gehören. Ihre Tätigkeit sollte ausschließlich auf Legislativakte bezogen sein, nicht aber auf die Kontrolle des Exekutivakte des Rates bzw. der Kommission. Entschieden würde immer mit Dreiviertelmehrheit der Mitglieder. Und überraschend: Es geht bei der Idee der Loskammer um bessere Gesetze, nicht um besseres Personal. Damit lässt Buchstein ziemlich schnell die Rekrutierungsfunktion des Loses fallen.
Zunächst soll die Zweite Kammer in allen Gesetzgebungsverfahren jederzeit Empfehlungen für die Erste Kammer, die Kommission und den Rat der EU beschließen können. Hier bleibt Buchstein leider schmallippig: Welche Konsequenzen soll die »Empfehlung« der Loskammer für die anderen Institutionen haben? Oder vertraut er auf eine Art auratische Kraft der Deliberativität, die von der Loskammer ausgeht?
Interessant ist, dass der Loskammer ein absolutes Vetorecht für alle Legislativakte (binnen 14 Tagen) zugestanden wird (wobei für den Bereich der Systemgestaltung ausdrücklich kein Vetorecht gelten soll). Und sogar ein Initiativrecht soll dem »House of Lots« zugestanden werden, welches in einem verkürzte[n] Gesetzgebungsverfahren mit niedrigen Mehrheitserfordernissen behandelt werden müsste. Merkwürdig, dass die Zweite Kammer das Initiativrecht explizit nicht für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU und polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen erhalten soll.
Die Ratio aller drei Verfahrenselemente liegt darin, vor allem den Rat gleichsam unter einen ‘deliberativen Entscheidungsdruck’ zu setzen. Buchstein konstatiert bei der gegenwärtigen EU und deren Institutionen kein Demokratiedefizit, sondern sogar Demokratieabstinenz. Umso wichtiger wäre es gewesen, den neu eingehauchten Bürgeratem spürbar zu machen. Aber nur auf drei Seiten beschäftigt sich Buchstein mit Einwänden zu dieser Zweiten Kammer und deren Entkräftung. Ausgerechnet in diesem Kapitel weicht er von seiner anderenorts manchmal so ermüdenden Ausführlichkeit ab und entwickelt keinen nuanciert ausgearbeiteten Plan. Da hätte man lieber auf einige historische Exkursionen in den Kapiteln vorher verzichtet.
Gelingt die »dritte räumliche Transformation der Demokratie in den supranationalen Raum?
Im letzten Kapitel, ebenfalls auf nur wenigen Seiten, wirft Buchstein dann noch die Frage auf, ob und wie eine zweite räumliche Transformation der Demokratie hin zu einer dritten Generation der Demokratie in der postnationalen Konstellation gelingen kann (wobei als erste räumliche Transformation die von Stadtstaat zum Flächenstaat und die zweite vom Flächenstaat zur Nation betrachtet wird). Gelingt der »Demokratie« (also allen!) diese dritte Transformation vom Nationalstaat zum supranationalen Staatenbund nicht, so drohen eventuell hybride oder autoritäre Regimeformen oder mindestens »postdemokratische« Strukturen. Nicht zuletzt diese unschöne Perspektive spielt wohl bei Buchsteins Gedankenexperiment zum Losverfahren in der Demokratie eine Rolle.
Zwar werden noch einige teilweise sehr skurrile (und eigentlich nicht ernstzunehmende) Ideen entwickelt, so beispielsweise eine Art Wählerlotterie mit Preisen, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen oder ein WahlLos, in dem die Wahlberechtigung unter der Bevölkerung ausgelost wird (die Modelle reichen hier von 0,5% bis 50%). Ein bisschen unterhöhlt Buchstein die Ernsthaftigkeit seines Anliegens mit diesen Vorschlägen.
Besser wäre es gewesen, mutiger die Herbeiführung von Personalentscheidungen über das Los zu vertreten. Warum nicht beispielsweise bei der Bundestagswahl die Landeslisten als Losgrundlage verwenden und die starre Setzung durch die Parteien (»sichere Listenplätze«) dadurch aufzubrechen, dass die Mandate aus der Liste ausgelost werden? Wenn eine Partei durch die Anzahl der abgegebenen Zweitstimmen zum Beispiel acht Listenplätze erreicht hat, so könnten diese acht Plätze aus der bestehenden Landesliste, die eine Mindestanzahl von Kandidaten beinhalten muß (mindestens so viele, wie es theoretisch Plätze gibt), ausgelost werden. Eine vorher in Parteisitzungen ausgekungelte Reihenfolge wäre obsolet. Auch nicht so prominente Kandidaten hätten eine Möglichkeit, in das Parlament einzuziehen. Betreffen würde dies allerdings vor allem die kleineren Parteien, die derzeit keine oder nur sehr wenige Direktmandate erringen.
Als Kompendium über den Gebrauch des Loses in Politik und Gesellschaft ist das Buch perfekt und bietet eine Fülle von Details (manchmal zu viele). Als visionäres Thesenpapier hat Buchsteins Studie seinen Zweck nur teilweise erfüllt. Hätte es doch wenigstens ein besser ausgestattetes »House of Lots« gegeben, aber der Leser durfte bedauerlicherweise nur Richtfest feiern. Begeisterung wird so nicht ausgelöst.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch
Auch wenn...
Dein abschließender Satz der Vorschau – Es kann nicht davon gesprochen werden, dass das Los bisher ein wesentliches Element des demokratischen Auswahlprozesses ist bereits nach der Quintessenz des Buchs klingt, bin ich gespannt, was Buchstein über »institutionaliserte Zufälle« zu sagen hat. Vor allem, weil manche Regelungen, wie beispielsweise die Mandatslisten, die ordnen, welche Abgeordnete in welcher Reihenfolge in ein Parlament einziehen, nach Außen, sprich: für Wähler, arg nach Zufall anmuten. Wir hatten das Thema ja schon mal angeschnitten: Ich kann Partei x aus grundsätzlicher Übereinstimmung wählen, und trotzdem keinen Einfluss darauf nehmen, dass das aufgestellte Mitglied y trotz Inkompetenz zum Abgeordneten gewählt wird.
Nein, es ist
keine vorweggenommene Quintessenz des Buches.
Und ja, Du legt den Finger in eine Wunde... Mehr dann, wenns zur Veröffentlichung kommen sollte.
Ich kann nicht abstimmen, bin aber trotzdem interessiert.
Falls auch eine Stimme von Nicht-Twodaylern von relevanz ist.
Da ich Zufall im demokratischen WIllensbildungsprozess in anderem Zusammenhang für ein kennzeichnendes Merkmal unseres aktuellen politischen Systems halte (windows of opportunity) finde ich die Erhöhung des Zufallsprinzips auf die Ebene der Entscheidungsfindung sehr spannend. Vor allem, wenn es über theoretische Analysen hinausgehen sollte und konkrete Implementierungen und deren Vor- und Nachteile gegenüber anderen Modellen der Entscheidungsfindung besprochen werden.
Extrem spannendes Thema
Bin gespannt, ob das Buch genau so spannend ist.
Offensichtlich ist es leider nicht.
Buchstein scheint, dass schließe ich aus der erfreulich ausführlichen Rezension, zu jenen nicht seltenen Sachbuchschreibern, die »dank« ihrer fixen Ideen auch aus spannendem Stoff Bücher mit Längen machen. Fixen Ideen, denn auch das Streben nach einer möglichst lückenlosen geschichtlichen Darstellung eines politischen Brauches, der im klassischen Athen wichtig, aber ab dieser Zeit in der politischen Sphäre völlig unbedeutend war, ist m. E. eine fixe Idee. Ein Streben nach Vollzähligkeit, das ich sonst eher von Büchern wie »Geschichte der Mode in Norddeutschland« oder »Heimatgeschichte des Flecken Wentorf« kenne: auch für das Thema eher unwichtige Anekdoten und Marginalien werden aufgenommen, damit ja keine (manchmal jahrhundertelangen) »Lücken« bleiben, und damit kein besserwisserischer Heimatforscher behaupten kann: »Da fehlt was!«
Ja,
genau so ist es (leider) über einige Strecken.
Ich Ziegen und Schaefer Hirt...
Also 20,000 Einwohner hatte Athen , und ein Drittel von den war auf irgendeine Weise in the Polis-tik mit verwickelt,
was wohl nur Kinder sowie die nicht zu Kulten benutzten Weiber auschliesst, ja so geht’s wenn mal eine wirkliche Demos-Politik
betreiben will, die Idee macht mich aber sofort wahnsinnig, und ich fliehe die Stadt and begnuege mich als Hirt ausserhalbs.
Die Sklaven
sind auch noch ausgeschlossen.
Im deutschen Wikipedia-Artikel ist von 40.000 Einwohnern Athens die Rede. Peter Funke bestätigt in etwa Buchsteins Zahl. Alle politischen Kompetenzen hätten selbst zur Blütezeit, so Funke, in Händen von 15% der Bevölkerung gelegen. Das ist im Vergleich mit westlichen Demokratien heute immer noch sehr viel.
Hier etwas ueber die Olympiaden...
In today’s excerpt-the Greek Olympics. For five hectic days and nights every four years from 776 BC until the Christian emperors banned pagan festivals in AD 394‑a mind-boggling twelve hundred years-the sensationally popular Olympic games were held in Greece. Each Olympiad was an expression of Hellenic unity, an all-consuming pageant, as spiritually profound for these ancients as a pilgrimage to Varanasi for Hindus or the Muslim hajj:
»[The athletes] appeared one by one-parading like peacocks, entirely unclothed and unadorned, yet dripping from head to toe in perfumed oils that flowed in rivulets from their curled black hair. Competing nude was a time-honored tradition of ancient Greek athletics, ... only barbarians were ashamed to display their bodies....
»Of the eighteen core events in the Olympics program, some are familiar to us today-running, wrestling, boxing, javelin, discus. Others seem more outlandish. The Games began with the chariot race‑a deliriously violent affair where up to forty vehicles crowded the track and crashes were guaranteed. ... And one of the favorite audience events was the pankration‑a savage all-out brawl, where only eye-gouging was banned. The more brutish participants would snap opponents’ fingers, or tear out their intestines; the judges (one coach noted) ‘approve of strangling.’ The gaps in the program seem just as odd to modern eyes-there were no team sports, no ball sports, no swimming events, no marathon, and nothing resembling an Olympic torch. ... Money permeated every aspect of ancient athletics. All contestants were professionals. ... Corruption charges would regularly disgrace contenders. ... Champions would be treated like demigods around Greece and guaranteed an existence of luxury and ease for the rest of their lives. ...
»Splendid religious rituals were observed; in fact, the ceremonies, including the butchering of one hundred oxen for a grand public feast, took up as much time as the sports. There was sight-seeing to be done: the sanctuary of Olympia was an open-air museum, and visitors rushed between events from temple to temple to view famous masterpieces like the forty-foot-high statue of Zeus, one of the seven wonders of the ancient world. ...
»And then there were earthly pursuits: The squalid tent-city [at the Olympic site] was the scene of a round-the-clock bacchanal where students would squander their inheritances in lavish drinking parties (symposia) and prostitutes could make a year’s wages in five days. There were beauty contests, Homer-reading competitions, eating races. ... Young boys in makeup performed erotic dances. Competing for attention were palm-readers and astrologers.«
Tony Perrottet, The Naked Olympics, Random House, Copyright 2004 by Tony Perrottet, pp. 6–14.
Das Thema Landesliste lässt dich einfach nicht los und findet in dieser Besprechung einen interessanten Aspekt. Ich könnte mir tatsächlich vorstellen, dass ein Losverfahren die Kungelei eindämmen könnte. Ein auf den ersten Blick etwas abwegiges Thema hat durchaus Spaß gemacht, da es neue Einblicke bietet.
Auf Dauer lassen sich diese Paket-Landeslisten nicht mehr durchhalten, es sei denn, man ist mit Wahlbeteiligungen von im Durchschnitt 40% zufrieden. Die Frage ist nur, wann dies die politische Klasse aufnimmt.
MERCI
für die wirklich sagenhaft ausführliche Rezension (und mit ihr verbunden meine Entschuldigung, dass ich mich nicht schon eher um Rückmeldung bemüht habe)!
Die Schwerpunktsetzung ist in der Tat ein wenig merkwürdig: Warum sich einer »Institution« widmen, die für unser heutiges Zusammenleben nicht mehr relevant ist? Das einzige Argument – um sie wiederzubeleben, weil man von ihren Vorteilen überzeugt ist und an ihr bereicherndes Potenzial glaubt – lässt Buchstein mehr oder weniger fallen, weil er seinen Ausblicken keinen Raum zur Entfaltung vorbehält.
Seinen Vorschlag eines House of Lots halte ich für ... ja: für was eigentlich? Gewagt? Absurd? Wieviele EU-Bürger können sich realistisch vorstellen, sich für zweieinhalb Jahre nach Brüssel abordnen zu lassen? Vielleicht liegt’s an der Vagheit des Vorschlags; an einem grundlegenden Unbehagen gegenüber solchen »visonären Initiativen«. Ich hab’ ja erst neulich noch bei mir ein paar Worte darüber verloren: wie resigniert, wie geradezu realistisch und bodenständig sich viele äußern, wenn sie nach ihren Träumen, ihren Sehnsüchten befragt werden. Da kommt nicht viel. Deprimierend. Indes: Wohin ein House of Lots als Planspiel (ähnlich dem Fernseh-Experiment, auf das Du schon an früherer Stelle im Bezug auf politische Legitimation verwiesen hast) führte, würde mich wirklich interessieren.
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Mein eigener Vorschlag (Planspiel) macht mich stutzig: Buchsteins Idee ist plötzlich nicht mehr per se albern; es ist der fehlende »Streckenfahrplan«, der mich skeptisch macht. Wäre, würde der Weg grob vorgezeichnet – vom Planmodell bis hin zur tatsächlichen Institutionalisierung ... Kann es sein, dass es an von A bis Z durchdachten Ideen mangelt?
Ja, genau – daran mangelt es. Er hat am Ende des Buches noch 15 oder 20 Seiten Zeit, sein House of Lots vorzustellen und auch ein bisschen in die Tiefe zu gehen...aber da ist dann das Buch zu Ende. Buchstein hat – da bin ich ziemlich sicher – diese Ideen.
So absurd finde ich den Gedanken nicht. Auch, dass die Bürger eine Pflicht zur Teilnahme haben (ähnlich den Schöffen bzw. Geschworenen) halte ich nicht für einen Fehler. Es hat doch durchaus einen gewissen Charme. Aber wenn, dann muss man diese Kammer nicht nur als beratendes, vorschlagendes, initiierendes Medium implementieren, sondern durchaus auch mit eindeutigen Rechten den anderen Institutionen gegenüber. Implizit (aber auch nicht en détail ausgeführt) wäre ja eine Stärkung des (bestehenden) Europäischen Parlaments notwendig.
Teilnahmepflicht
Je mehr ich drüber nachdenke, desto eher stimme ich Dir zu.
Unabhänig davon, aber der Sache doch nicht ganz entrückt: Was mir schon recht früh, als Deine Rezension noch in der Abstimmungsphase steckte, einfiel, war ein aktuelles Beispiel für die Inpflichtnahme des Bürgers – das einzige Beispiel, das mir in den Kopf kam: Im Rahmen jeder Wahl kann ich als Wahlvorstandsvorsitzender – sollte ein Mitglied des Wahlvorstands: Schriftführer, Beisitzer oder wer auch immer ausfallen – einen Bürger zur Mitwirkung bestimmen, um den reibungslosen Fortlauf der Wahl sicherzustellen. Das ist zwar kein Los im klassischen Sinne, bei dem sich jemand auf freiwilliger Basis für ein Amt zur Verfügung stellt, aber dennoch ... Es ist meines Wissens nach die einzige Situation, in der ich jemanden tatsächlich in seine Bürgerpflicht nehmen kann. Traurig, traurig.
Hybridparlament
Ich hätte ja folgende Idee: Ein fiktives Parlament umfasst 300 Abgeordnete. Davon werden 200 gewählt, wie bisher, und 100 aus der Grundgesamtheit der wahlberechtigten Bürger (Parteilosigkeit vorausgesetzt) durch das Los bestimmt. Unter einigen Konstellationen (Lebenssituation) kann der Losentscheid abgelehnt werden, ansonsten gilt er als Verpflichtung und ist – setzten wir voraus -, mit hohem Ansehen verbunden.
positive Konsequenzen:
Zahlreiche Fragen
Warum ein Verhältnis 2:1? Warum wäre Parteilosigkeit bei den »Ausgelosten« vorgeschrieben? Wie begegnen die »Ausgelosten« den professionellen Fraktionen in diesem Parlament? Wie sollen sie sich organisieren? Wer kontrolliert dieses »Hybridparlament«?
Dennoch und gerade deshalb: EIn an sich sehr interessanter Vorschlag
Antworten (vorläufige)
Das Verhältnis zunächst deshalb, weil man keine Erfahrung hat wie sich der Parlamentarismus entwickeln wird, wenn plötzlich 100 Laien »mitmischen«. Die 200 »Profis« sorgen im Zweifelsfall dafür, dass das System weiter funktioniert. Das Verhältinis kann je nach weiterer Entwicklung adaptiert werden.
Parteilosigkeit ist deshalb vorgeschrieben, weil Parteien vermutlich versuchen werden ihre Mitglieder »an die Leine zu nehmen«, d.h. Einfluss auszuüben. Man braucht sich nicht die Mühe zu machen ein Laienparlament zu etablieren, wenn die Laien dann als »Stimmvieh« missbraucht werden.
Man müsste den Ausgelosten Hilfe in Form eines beratenden und unterstützenden Stabes (der Aufgaben übernimmt, die innerhalb der professionellen Fraktionen erledigt werden) vor allem zu Beginn zur Seite stellen, was – zugegeben – wieder Einflussnahme ermöglicht.
Die Organisation ist freigestellt (Anschluss an bestehende Fraktionen etc.), die Laienparlamentarier könnten aber einen bewussten Gegenpart zu den etablierten Parteien und Parlamentariern bilden (das sie nur für eine Periode bestimmt werden brauchen sie keine Angst um ihre Karriere o.ä. haben). Langfristigere Zusammenschlüsse hätten nur Sinn, wenn die Laien teilweise anzyklisch gelost werden, d.h. die alten Hasen die Neuen einweisen und Erfahrungen weitergeben können.
Die Kontrolle durch den Wähler entfällt insofern, da das Los nur für eine Legislaturperiode Gültigkeit besitzt, aber rechtfertigen müssen sich die Laien vor ihren Wahlkreisen (man könnte immer aus bestimmten, abwechselnden Wahlkreisen losen).
Vier Jahre später, und auch nicht gerade ein »visionäres Thesenpapier«, aber immerhin ein konkreter Vorschlag, der auf einige Praxiserfahrungen zurückgreift: das Bürgerparlament, das nicht nur ausgelost wird, sondern auch nur für ganz kurze Zeit im Amt ist. Buchstein – das sei direkt gesagt – teilt meinen »radikaldemokratischen Impetus« nicht, wie er sagt, aber wer sich mit der Idee ausgeloster Parlamentarier weiter beschäftigen möchte, wird hier schon die ein oder andere Idee finden: