Immer häufiger höre ich von ihr: der »Netzgemeinde«. Es wird an sie appelliert, über sie philosophiert, gegen sie polemisiert oder mit ihr argumentiert. Im Allgemeinen versteht man unter dem Begriff wohl Leute, die sich in Blogs, auf Twitter und/oder Facebook melden, austauschen und koordinieren. Oberflächlich betrachtet gehöre ich also auch dazu. So wird man vereinnahmt. Zu den guten Vorsätzen einiger selbsternannter Sprecher dieser sogenannten Netzgemeinde gehörte es offensichtlich, das inzwischen träge gewordene Volk aufzurütteln. Da ist dann auch schnell von der »Krise der Blogger« die Rede. Und das dann ausgerechnet aus der Krawallfabrik »Freitag«, die vom »Neobiedermeier« der Internet-Couch-Potatoes schwafelt, die sich lieber in den Mauern des »Club Robinson« à la Google+ und Facebook tummeln. Als Referenzgrößen dafür dienen jene, die mit Verträgen bei den »Altmedien« ausgestattet sind. Dabei habe ich längst aufgegeben diese Sektenführer zu lesen, da sie mir schon vor Jahren außer selbstreferenziellem Wortgeklingel nichts zu sagen hatten. »Spiegel Online« reicht das heute immer noch. Was einiges über dieses Medium verrät.
Es ist schon fast zur Normalität geworden, dass allüberall für mich irgendjemand glaubt sprechen zu müssen. Obwohl mich noch nie einer gefragt hat. Es gibt Verbraucherschützer, die für mich etwas »fordern«. (Dabei möchte ich zum Beispiel keine »Ampel« auf Lebensmittelverpackungen, weil sie verdummend ist.) Die Partei, die ich (zähneknirschend als kleineres Übel) gewählt habe, spricht von mir als »Wähler«, dessen Wille zu erfüllen sei. Dabei weiß der Sprecher gar nicht, ob ich die Partei für das, was da gerade besprochen wird, gewählt habe. (Er will es auch gar nicht wissen.) Medienfunktionäre reden für den »Zuschauer« oder »Zuhörer«, der vor etwas geschützt werden soll oder um den es geht. Andere bemühen den »Leser«, der nicht mehr überfordert werden möchte. Was, wenn ich überfordert werden will bzw. diese Überforderung selber erfahren möchte?
Und es gibt also inzwischen eine Handvoll Lobbyisten, die glauben, für »die Netzgemeinde« sprechen zu müssen. Man erkennt sie daran, dass sie für Mainstreammedien zitierfähig und damit satisfaktionsfähig geworden sind. Sie dürfen nun neben den üblichen Politikern auch anderthalb Sätze sagen, wenn es um »ihre« Themen geht. Dabei sind sie gezwungen, ihre Anliegen allzu oft auf das Absondern von Parolen zu verkürzen und reagieren wie diejenigen, die sie vermeintlich bekämpfen: Die Halb- oder Viertelleser, die Phrasendrescher des Boulevards oder einfach nur die gnadenlosen Vereinfacher oder mutwilligen Komplizierer des Feuilletons. Sie erkaufen sich ihre Bedeutung durch das Mitschwimmen im Panikstrom der Sensationalisten, Hyperventilierer und Verbalhysteriker.
Vor einigen Monaten schrieb ein Journalist über Twitter einen Herausgeber der FAZ direkt an. Der abgedruckte Artikel (eine winzig kleine Polemik von wenigen Zeilen) sei eine »Schande« für die FAZ. Es ging um ACTA und der Kommentator im Artikel entrüstete sich, dass die Politik der »Meute« nachgegeben habe. Da wagte einer, dem Chor der Affirmation in dürren Zeilen zu widersprechen. Der Kritiker empfand diese kleine Polemik als derart majestätsbeleidigend, dass er öffentlich beim Herausgeber petzte. Das ist nicht nur intolerant und humorlos, sondern erinnert auch fatal an den Untertanengeist verkniffener Leserbriefschreiber der 80er Jahre, die ob eines ihnen unpassenden Artikels in ihrem Leib- und Magenblatt drohten, ihr Abonnement zu kündigen. So zeigt sich das deutsche Kontinuum im Nicht-Ertragen von Pluralismus.
Die selbsternannten Sprecher des »Netzes« haben die Spielregeln der medialen Kakophonie souverän verinnerlicht und spielen nun mit. Dabei scheuen sie nicht davor zurück, sich auch vor jeglicher Kenntnis zu erregen. So richtig »old school« also. Das können und sollen sie meinetwegen auch – ich bin nicht verpflichtet, mir dies anzutun. Ich entziehe ihnen hiermit die Erlaubnis, für mich zu sprechen. (Dabei ist es möglich, dass sie das niemals wollten, aber man kann ja nicht wissen.) In aller Deutlichkeit: Ich weder ein Bewohner des Internet noch Mitglied einer oder gar »der« Netzgemeinde.
Denn auch im Netz gibt es kein unverhandeltes »Wir«, zumindest gibt es keines, das sich aus dem bloßen Nebeneinander verallgemeinernde Urteile erlaubt und für andere spricht. Genauso wenig, wie ein Christ Anhänger des Papstes sein muss, um seinen Glauben auszuüben, ist ein Netzschreiber automatisch Teil einer »Netzgemeinde« – sei es nun, man rubriziere sich selber so ein oder wird als Kampfgruppe von wem auch immer als solche bestimmt.
Für mich kann auch ein CDU-Mann ein richtiges Argument liefern. Und eine Grüne Unsinn reden. Ein Verleger kann Gründe für seine Haltung zum Urheberrecht haben, die ihn nicht automatisch zum Ausbeuter machen. Ich möchte sie hören und nicht per se als »gesteuert« denunzieren. Zeitungen sind für mich keine »Holzmedien« (sofern dieser Ausdruck pejorativ gebraucht wird), das öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen kein »Staatsrundfunk« und »soziale Netzwerke« keine Löwengruben. Über Facebook habe ich Leute kennengelernt, denen ich ansonsten nie begegnet wäre. Und bei Facebook sind Leute, denen ich nie begegnen möchte. Ich kann selber entscheiden, ob ich dabei sein möchte oder nicht und dort über etwas einen Eintrag verfassen will oder nicht. Ich bin nicht gebunden an Institutionen, die ich auch nicht per se zu Gegnern oder gar Feinden erkläre. Ich brauche weder Datenschützer, die mich vorauseilend vor etwas bewahren noch selbsternannte Aktivisten, die mich paternalistisch und ungefragt betreuen wollen und jeden zweiten Tag nötigen, mich irgendeiner Petition anzuschließen. Wenn ich irgendwann Hilfe brauchen sollte, melde ich mich selbständig.
Ein Tweet von 140 Zeichen ist vielleicht ein gelungener Aphorismus oder ein Hinweis auf etwas. Aber nicht der Ersatz von Politik, denn Politik ist keine virtuelle Massendrucksache. Nur weil etwas »politisch« ist, ist es noch keine Politik. Wer an einen Shitstorm teilnimmt, sollte sich an den Ursprung des Wortes erinnern (»Shit« geht ohne Arschlöcher nicht). Ein »Retweet« oder »copy&paste« ersetzen keine Auseinandersetzung mit einer Thematik. Ich mag keine verbalen Lynchmobs, die an den sogenannten Wilden Westen erinnern (und nicht nur an diesen). Nicht jede zufällige Mehrheit besitzt per se schon eine demokratische Legitimation. Jede Eindeutigkeit erregt meine Skepsis; die Eindeutigkeit der 140 oder 400 Zeichen, die sich blind und teilweise blindwütig verteilt, erst recht. Ich halte es nicht für einen Fortschritt, wenn auf Amazon ein Depp mit drei Zeilen ein Buch »rezensiert«. Genau so wenig halte ich Trillerpfeifen bei Demonstrationen für einen Ausweis von Intelligenz. Und ich möchte nicht immer nur wissen, wogegen man ist, sondern auch einmal wofür. Vielleicht sogar mit einigen Vorschlägen, wie man das erreichen kann.
Im gleichen Maße wie Ideologien gefährlich sind, halte ich (politische) Ahnungslosigkeit nicht für eine Tugend. Transparenz ist nicht nur Selbstzweck; es muss auch etwas da sein, was transparent gemacht werden soll. Wenn Transparenz als Überwachung einer Gesinnung eingesetzt werden soll, ist das Gegenteil angebracht. Die Aussage, dass etwas »veraltert« ist, ist kein Argument, sondern eine Behauptung. Das Medium ist nicht schon die Nachricht. Die Nachricht ist die Nachricht selber. Alles andere ist unter Umständen ein Ablenkungsmanöver. Und zwar auf beiden Seiten.
Es gibt Aktivisten, die Webseiten von ihnen unliebsamen Menschen oder Organisationen zerstören oder besetzen. Sie, die an jeder Stelle die Meinungsfreiheit hochleben lassen, implementieren dort, wo sie ihnen missfällt, das Faustrecht. Das Handeln dieser sogenannten Aktivisten ist anmaßend und tyrannisch. Wer es unterstützt, weil es ja »die Bösen« trifft, zeigt damit seine totalitäre Einstellung, weil er seine Anschauung für absolut setzt und anderes nicht duldet.
So, und damit genug in den Spiegel geschaut.
Danke für den Text wider den allgegenwärtigen, fürsorglichen Paternalismus!
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Dass Individuen (willkürlich) in einer Gruppe zusammengefasst werden, um dann über eine Gruppe mit besonderen Eigenschaften zu sprechen (die Netzgemeinde, die Politiker, die Wirtschaftsbosse, die Kirche, die Migranten) ist doch kein neues Phänomen. Es ist schlicht und ergreifend notwendig, um überhaupt in einem übergeordneten Zusammenhang über irgendwas sprechen zu können. Oder sollen wir in Zukunft beispielsweise nicht mehr über statistische Arbeitsmarktzahlen sprechen, sondern über die Beschäftigungssituation jedes einzelnen Arbeitnehmers? Wäre wohl etwas zu kompliziert, oder? Je weiter man eine Gruppe fasst, die bestimmte gemeinsame Eigenschaften (angeblich) besitzt, desto unschärfer wird eben das individuelle Bild, das über jeden Einzelnen vermeintlichen Angehörigen dieser Gruppe gezeichnet wird. Das kann eben soweit gehen, dass – wie jetzt hier zu lesen – jemand im Brustton der Überzeugung sagt: Nein, ich gehöre nicht dazu! Wobei ich beim Begriff »Netzgemeinde« schon auch die Frage sehe, ob es diese Gruppe mit bestimmten gemeinsamen Eigenschaften überhaupt gibt.
@Moki
Natürlich müssen im Diskurs fallweise »Gruppen« gebildet werden, um vielleicht allgemeingültige Aussagen treffen zu können. Die Frage ist nur, inwieweit diese Gruppenbildung eine Homogenität erzeugt, die so gar nicht existiert. Meist werden diese Gruppen benötigt, um komplexe Zusammenhänge derart radikal zu vereinfachen, dass eigentlich rein gar nichts damit ausgesagt ist. Die Empörung ist ja übrigens immer dann gross, wenn dieser künstlichen Gruppe in Bezug auf negative Eigenschaften oder Verhaltensweisen rubriziert werden. Das gängigste Beispiel ist das der »Ausländer« – das ist längst ein Schimpfwort geworden und wird als entsprechend komplexitätsreduzierend betrachtet.
Ganz schlimm wird diese Vereinnahmung dann, wenn sie zu paternalistischen Effekten bzw. Affekten führt, die über die blosse Vereinnahmung hinausführen: Wenn man versucht, für mich zu reden, um Forderungen politischen und/oder gesellschaftlichen nachdruck zu verleihen.
Der letzte Satz Ihres Kommentars ist dann ja ganz auf meiner Linie.
»Die Netzgemeinde möchte mehr Konzentration auf Sachthemen«, faßte Hiro die Stimmung der deutschen Internetnutzer zusammen.
Sehr sehr richtig, das alles! Da spricht mir vieles aus dem Herzen...
Bei dieser Headline auf DRadio-Wissen musste ich gleich an Deinen Text denken:
AARON SWARTZ – Das Netz trauert
)
Also bitte jetzt alle mal so richtig trauern, BITTE!
Zum Beispiel so: http://is.gd/3u7Yua
PS: Ich schätze DRadio sehr, halte RSS und CC für klasse Sachen und weiß, was Suizid für die Hinterbliebenen bedeuten kann.
@Thomas Weiss
Mit DR-Wissen habe ich durchaus Probleme. Viele Beiträge finde ich ziemlich oberflächlich; hat nicht viel gemein mit DLF oder DLR Kultur.
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Danke für diesen Artikel,
»Nicht jede zufällige Mehrheit besitzt per se schon eine demokratische Legitimation. «
Die Verallgemeinerung ist anscheinend die angesagte Argumentationsmethode und das Überstülpen von »Gemeinem« Usus... (auch hier ein schönes Spiel: gemein!)
Zu den selbsternannten »Netz-Gurus« fällt mir immer die auffällige Friseur dieser Herrschaften ein: der eine mit dem Irokesenhaarschnitt und dann war da mal einer, der nannte sich »Ossi Urchs« und und keiner wußte warum der nun ein Netz-Spezi sein sollte, hatte aber ungewaschene Rasta-Haare.
Ich meine, die Wahl einer auffälligen Frisur kann auf eine innere Leere hindeuten, ein leerer Kopf trägt besser ;=)
So, jetzt hab ich ein wenig verallgemeinert...
Gruss, CMG
Der Irokesenhaarschnitt ist natürlich ein geniales Wiedererkennungsmerkmal. Umso scheinheiliger dann die Zurückweisung, sobald man darauf rekurriert.
Sag mal, Keuschnig war doch mal eine Figur von Peter Handke: Verwandtschaft?
Nein, Pseudonym.
Hallo,
danke für diese deutlichen Worte. Ich habe mich schon lange über diese und andere Verallgemeinerungen gesträubt, nun hat es einer in richtige Worte gefasst. Tatsächlich bekommt man schnell »Identitätsprobleme«, wenn man als Mitglied dieser ominösen und offenbar immer aus einer Antihaltung heraus agierenden Gemeinde auch schonmal sagt: Naja, soooo unrecht hat der gar nicht...
Nee, ich will mich nicht mit einer Gruppe identifizieren, deren Zugehörigkeit mir angedichtet wird und die nur deswegen existiert, weil man keine andere Schublade dafür finden konnte. Das Netz verlöre seine wunderbare Freiheit (die es schließlich ja noch zur Genüge gibt), gehörten wir alle dieser einen komischen Gemeinde an.
Nein, ich will eigentlich auch nirgends zugehören – tue es aber zunehmend auch nurmehr, wenn ich selber die Zuschreibungen erkenne und sie für mich anerkenne. Zum Beispiel: „Sinus-Milieus“ – ich hätte vermutet, dort gar nicht vorzukommen, finde mich da aber als Postmaterialist (na ja, so ungefähr). Es gelingt mir heute, mich gegen Vereinnahmungen zu wappnen, indem ich mich eh zunehmend als radikale Minderheit definiere. Aber das hat dann auch eine Kehrseite.
Und andererseits bin ich manchmal schon froh, wenn einige in meinem Namen sprechen, um die Welt irgendwie mit Wissen oder Widerstand oder dem schlagenderen Argument zu verbessern zu versuchen: Weil ich als Post-Alles zu faul, zu indifferent oder schon von zu vielen Vergeblichkeitsgefühlen geschlagen bin, selber den Hintern hochzukriegen. (Oder meine Haltung viel zu komplizieret oder entlegen wäre, sie jemanden zum Solidarischsein anzudienen, wären wir dann auch immerhin schon zwei. Da bin dann manchmal auch ganz gerne ziemlich alleine.)
Obwohl ich also meine, den Affekt des Artikels zu verstehen (und auch weitgehend zu teilen), suche ich darin auch nach einer versteckten Kränkung: Man selber ist ja kaum je persönlich gemeint; die meisten Vorbringenden wollen sich einer breiteren Basis für das von ihnen Behauptete vergewissern. (Und eigentlich ist ja jegliche Zivilität immer auch schon Vereinnahmung.)
Steht nicht hinter jedem Bestreiten der Ambition eines anderen immer auch eine eigene, eine über das Eigene hinaus? Man weiß es (etwas) besser. (Oder leidet an den Trägheitskräften, mit denen Informationen und Argumente in dem ach so pluralen, dabei oft ach so faden Süppchen namens „Öffentlichkeit“ angerührt werden – das dann doch oft so eine trübe Sache ist.)
* * *
Anderer Ansatz. Trotz dieses Postdingsbums überkommen mich bei bestimmten Beitragenden manchmal terroristische Phantasien. Da aber heute alle reden dürfen, egal wo, worüber, zu jedermann… und noch um Kopf und Kragen … wird man das nicht mehr abstellen können (oder nur mit nachzurüstenden Ausschaltknöpfen). Oder man muss eben selber lauter, genauer reden, schlagender… Verbessern also nicht doch letztendlich alle gemeinsam in je unterschiedlichen Anstrengungen die Welt?
Zwei Gegenpunkte:
– Von denen, die eh immer reden, weiß man irgendwann, was kommt – das vermehrt dann zusehends die dunkle Materie der angeblichen Informationsgesellschaft: Die sekündlich schier gegen das Unerträgliche (das Unerhebliche) anwachsende Redundanz.
- Der andere Punkt wäre wohl dieses Selbsternanntsein der immer selben Bedächtigen, oder die Tatsache, dass man die Ausleseprozesse meist nicht durchschaut, die dazu geführt haben, dass jemandem seine Sprecher-Rolle zugefallen ist. (Aber sind offiziellen Sprecher nicht oft die schlimmsten?)
Vielleicht doch in dem Zusammenhang mal ein Bekenntnis (ein Coming-out). Weil mich diese ganze Netzgemeinde und Facebook-Chose (z.B.) schon länger eigentlich nicht mehr interessiert, mich gelegentlich aber doch noch mal so ein Informationsüberblicks-Bedürfnis in diese Richtung ankommen kann, lese ich ab und zu den Irokesen. Tatsächlich fühle ich mich dann manchmal besser informiert – obwohl es mehr oder minder irrelevant für mich ist. Die Denk- oder Sortier- oder Formulierungsleistungen, die die sich an ihren Gegenständen Abmühenden von Fall zu Fall auch für mich erarbeiten, entlasten mich. Der Informationsprozess liefert mit seinen Verdünnungen sozusagen auch noch die homöopathische Effekte. Ich danke dafür – allen.
Du willst also kein Teil der bloggenden Netzgemeinde sein? Ok, dann lösch ich dieses Blog eben aus meinem Feedreader.
Am »jeder für sich« und niemand für alle geht eh derzeit die Welt den Bach runter.
Ganz schön bockig, Herr Keuschnig.
@herr.jedermann
Der Einwand mit dem Residuum einer persönlichen Kränkung aus welchen Gründen auch immer ist sicherlich durchaus naheliegend. Ich möchte ihn jedoch für mich nicht gelten lassen. Zuviel spricht dagegen: Die Sperrigkeit, Mainstream-Abgewandtheit der allermeister meiner Themen und Texte beispielsweise. Ich bin schlicht nicht attraktiv für die gängigen Multiplikatoren. Das habe ich früh erkannt. Hinzu kommt die bräsige Arroganz ausgerechnet derer, die anderes predigen. Was sie nicht davon abhält in paternalistischem Stil zu vereinnahmen.
Eine Leserin (?) »droht« mir weiter oben mit der Löschung meines Blogs aus ihrem Feedreader. Sie zeigt damit, dass sie nichts verstanden hat, womöglich den Text gar nicht vollständig gelesen hat: Von allen Einwürfen gegen einen Text ist der der zukünftigen Nichtbeachtung, der Bestrafung des Schreibers oder Mediums, zumeist der schwächste (wenn es auch verständlich erscheint).
Ich habe ja früher durchaus den Iromann gelesen, aber worüber schreibt er eigentlich heute noch? Das Selbstreferenzialitätskarussell ist offensichtlich ungebrochen. Neulich wurde wieder erklärt, wie Blogger Hunderttausende verdienen können (freilich ohne Prüfung der Sachverhalte und ohne Differenzierung der kulturellen Differenzen zwischen den USA und D). Ich frage mich dann immer: Warum machen das denn so wenige?
Ich war noch nie im Leben auf einer Demonstration. Nicht, dass es nicht Gelegenheiten dafür gegeben hat. Aber ich kann mich nicht hinter einem Ein-Satz-Transparent versammeln. Es gibt keine Parole, die nicht auch einer gut durchdachten Ausnahme bedarf oder eben derart platt ist, dass man sie gar nicht erst deklamieren muss. Demonstrationen dienen meist nicht dem Zweck, einer Sache auf die Sprünge zu helfen, sondern um die eigene Tatenlosigkeit zu verwandeln. Das ist legitim, aber nicht mehr und nicht weniger »Aktion« als das Schreiben eines Textes.
Dabei bin ich nicht gegen Gemeinschaften; im Gegenteil. Sie können von mir aus sogar Hierarchien aufweisen. Aber sie dürfen keine Einbahn- oder Einwegstrecken sein. Und niemand darf ungefragt für mich bzw. in meinem Namen agieren. In Wirklichkeit sind diese Kommunikationsexperten zumeist eher das Gegenteil desssen, wofür sie so eintreten (Meckel!).
Die »Sprecherrollen« werden ja nicht nach einem Prinzip vergeben. Das darf man auch nicht erwarten. In Wirklichkeit sind es – wie im »real life« – gut geölte Seilschaften, die sich gegenseitig auf den Schild heben. Auch dagegen habe ich nichts, solange nicht der Effekt eintritt, dass ich mit diesen Leuten gleichgesetzt werde. Nicht jeder der Mitglied im ADAC ist, vertritt dessen Positionen uneingeschränkt. Merkwürdig nur, dass dies bei den ADAC-Mitgliedern auch niemand erwartet. Blogger dagegen »sind« immer irgendwas.
Die Entlastung, die Sie verspüren, kann ich nicht mehr bemerken, da ich Lobo et. al. nur noch in homöopathischen Dosen lese, höre, zur Kenntnis nehme. Was mich aber auf die Palme bringt, ist die Apostrophierung als »Neobiedermeier« – und das dann von denen, die alle publizistischen Möglichkeiten haben. Tatsächlich ist es ja so, dass man nur mit Hyperventilationen noch wahrgenommen wird (die wenigen Ausnahmen bestätigen ja die Regel). Die Verlotterung der Szene Richtung »Bild«-Wagner (nur eben auf der anderen Seite; wenigstens manchmal) ist doch längst voll im Gang. (Die andere Alternative sind die Katzenblogs, die mit ihren 10 Lesern ihre Ruhe haben wollen; ich will sie ihnen nicht nehmen). Viele Blogger sind nur noch wohlfeile Gesinnungsschreiber. Ihr Fehler ist, dass sie sich für Avantgarde halten und für das Zentrum der Welt. Sie lancieren Online-Petitionen (der Ablasshandel 2.0) gegen fast alles und glauben eine Relevanz erreicht zu haben, wenn 22.000 Leute mit ein paar Klicks eine Ministerin absetzen wollen.
Die Illusion ihrer zumeist erschreckenden Bedeutungslosigkeit kompensieren nun einige in der Huldigung den Netz-Apologeten gegenüber. Man kennt das. Ich hätte längst 1000 Leser am Tag, wenn ich bestimmten Leuten nach dem Mund geschrieben hätte. Also auch hier: Keine Unterschied zum sogenannten Journalismus.
Das ist im übrigen kein Plädoyer für die Vergötterung der »Nische«. Das ist ja auch so eine Selbstlüge: Man fühlt sich als Avantgarde der Avantgarde. Natürlich möchte ich Leser und gute Kommentare auf meinem Blog. Aber nicht um den Preis der persönlichen Verbiegung.
(Ich glaube, ich bin irgendwie abgekommen...?!)
@Sabine
Wieviele Kommentare haben Sie auf meinem Blog schon hinterlassen? Wieviele Verlinkungen haben Sie schon durchgeführt? Wo kann man ihre Eindrücke lesen?
Sie haben noch nicht einmal Gebrauch von der Möglichkeit gemacht, Ihr Pseudonym mit Ihrem Blog / Webseite zu unterlegen. Und Sie maßen sich an, eine Art virtueller Gemeinschaft das Wort zu reden?
Wer bloggt und mehr als einen Kommentar pro Tag schreibt, ist in der Gemeinde drin, fertig! Sie werden auch als Mann, als Deutscher, als Gebührenzahler vereinnahmt, ob sie wollen oder nicht. Mitgefangen, mitgehangen.
(ICH bin übrigens NICHT Mitglied der Netzgemeinde und fühle mich dadurch auch nicht angesprochen.)
@Astrid
Was ist den »bloggen« überhaupt?
über eine gemeinde lässt sich ganz ohne selbstkritik entspannt lachen. hat damals eigentlich nie jemand community mit gemeinschaft übersetzt?
mir kam die religiös konnotierte variante immer schon zyisch vor. ich mag sie bis heute nicht akzeptieren.
.~-
@dot tilde dot
Honi soit qui mal y pense? Wer liest denn eine per se religiöse Konnotation? Gemeinde ist synonym zu Kommune (im französischen: commune).
Mag sein, dass die religiöse Komponente pejorativ hinzugedichtet wird. Das hat mich aber nicht interessiert, da es für mich nicht negativ besetzt ist. »Gemeinschaft« wäre allerdings in Bezug auf die »Community« (ein hässliches Wort, zumal es tatsächlich nicht eindeutig ist) treffender; da haben Sie recht. Es wird womöglich nicht verwendet, weil »Gemeinschaft« ein noch negativ besetzteres Wort ist (»Volksgemeinschaft« bei den Nazis etwa).
Ich wollte anfangs absichtlich nicht damit anfangen, um es nicht komplizierter zu machen (und auch weil es auf etwas verweist, das mir manchmal als etwas komisch-verdächtige Fixierung angekreidet wird), aber tatsächlich sehe ich diese ideelle Seite bei dem Wort »Community« jedesmal auch. (Im Wortempfinden ungefähr so, wenn man von »Germany« spricht: Das bin ja ich! Und will es doch nicht sein. Und kann dem doch nicht ausweichen. Usw. )
Und ich frage mich gerade spontan, ob von daher, also einer tiefer empfundenen, aber nicht unbedingt so gedachten / reflektierten Enttäuschung, dann die umfassendere Enttäuschung und also das Distanzierungsverlangen ausgeht?
Würde man manchmal nicht gern viel mehr irgendwo zugehören? Kann man es tatsächlich nicht immer weniger ertragen?
(Klingt womöglich ganz offensichtlich , ist es dann aber – eingefasst in all die Argumente und Argumentationsstereotypien – gar nicht. Der bekannte Effekt »Je näher man etwas ansieht, desto ferner sieht es zurück«.)
@herr.jedermann
Aber vielleicht ist die Internet-»Community« ist doch viel heterogener als das, was man gemeinhin als ‘Deutschland’ assoziiert? In vielen Fällen distanziere ich mich längst nicht mehr vom Deutschen, was ja auch absurd wäre (dazu gehört natürlich auch das »Annehmen« der geschichtlichen Realitäten). Dabei bestreite ich gar nicht, dass es typologische Merkmale gibt (nicht für Deutsche). Und ich habe nichts gegen den Begriff der »Mentalitäten«. Ich finde die unterschiedlichen Temperamente, mit denen man homogene Gemeinschaften grob umschreiben kann, für bereichernd.
Aber der Trend geht doch in die Nivellierung: Alles muss gleich gemacht werden. Die Differenz ist doch nicht mehr auszuhalten. Oder? Wir müssen jetzt »Europäer« sein, damit uns nicht mehr der Geruch des Provinzialismus umgibt. Was für ein Blödsinn! »Europäer« gibt es allenfalls als geographische Bezeichnung für alle diejenigen, die in Europa leben. Aber nicht als politische, soziale, gesellschaftliche Einheit. Aber das ist den Gleichmachern nicht mehr auszureden. Sie reden der Differenzierung das Wort, in dem sie alles auf ihre schnöde Computerlogik »0« oder »1« herunterbrechen. Unterschiede werden per se zu »Diskriminierungen« erklärt. Sieht man z. B. an den Unisex-Tarifen für Versicherungen. Wohin das führt, ist klar.
(Nur am Rande, vielleicht sehr abseitig und auch nur, weil es mir spontan einfällt: Ist es nicht so, dass viele Amokläufer dahingehend charakterisiert werden, sie seien »Einzelgänger« gewesen? )
Ihre letzte Frage ist sehr interessant: Es ist ja eines der Themen der Zeit – das Schwanken zwischen Individualität und Gemeinschaftsgefühl. Am interessantesten fand ich dies im amerikanischen Kommunitarismus ausgeführt. Da taucht wenigstens der Begriff des »Gemeinwohls« auf, ohne gleich denunziert zu werden. Aber irgendwie fand ich das auch immer ein bisschen sektenhaft. Durchgesetzt hat es sich nicht, womöglich aus einer gewissen Skepsis heraus. (Vielleicht ist auf dem Land in den USA aber tatsächlich der »Zusammenhalt« noch stärker – auch, wenn einem dies dann politisch nicht passt.)
Wenn ich die allgegenwärtigen Moden sehe (sei es Kleidung oder Accessoires oder auch politische Anschauungen), so ist doch ein Drang festzustellen, sich damit gemein zu machen, um, und das ist das merkwürdige, gleichzeitig auch wieder eine Distanz zu einer anderen Gruppe (Schicht) zu schaffen. Davon lebt eigentlich dieser Kapitalismus: Dauernd geriert er Waren, die inkludieren und zugleich auch exkludieren. Und Diskurse werden immer wieder der Logik »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich« geführt.
Der Versuch, eine »Community« zu schaffen, die mit einer Stimme sozusagen als Lobbygruppe in öffentliche Diskurse eintritt (die berühmte »kritische Masse«), muss scheitern, weil es immanent sein muss, dass eine solche Gemeinschaft zu divergierende Interessen hat. Mein Versuch einer Distanzierung ist ja sozusagen ein Widerspruch in sich, denn tatsächlich hat ja niemand explizit für mich gesprochen – also braucht es auch eigentlich keiner Distanzierung. Und dennoch betrachte ich manches Gerede über »Blogger« (auch und gerade bei denen, die es eigentlich besser wissen müssten) als unzulässige Vereinnahmung.
Das mit Germany war natürlich nicht wörtlich zu verstehen, sondern sollte ein bestimmtes Moment an Verschiebung andeuten: Im Verlust kollektiver Eindeutigkeiten (oder sogar deren offensiver Ablehnung) und der Fraktionierung auch noch der nächsten Nachbarschaften werden solche Denk-Begriffs-Dinger der veränderten Zugehörigkeit nicht nur operabler, sondern werden zu einer Art diffus-konkretem Ersatz. Die Leute verzücken sich sogar an solch ollen Kamellen wie dem Euro-Visions-Song-Contest. (Oder heißt der gar nicht mehr so? Sonst sollte man „Euro“ und „Vision“ unbedingt wieder zusammenbringen.)
Und sicher ist auch die Heterogenität in einer per se unübersichtlichen Gemeinschaft immer viel größer, als die das Charakteristische in den Blick zu nehmen versuchende Perspektive darauf zu sehen erlaubt – zuletzt zerfällt alles immer wieder in sich zu verhalten habende Einzelne – die sich an ihnen ähnlichen verhalten. Darum ist ja social so ein Erfolg: Man bildet eigentlich Gemeinschaften in einem „flexible response“. Die Gleichmacherei ist Surrogat, aber zugleich, in eben der letztlichen Unverbindlichkeit, auch hoch disponibel. Aber so, wie alle Individuen sein wollen – und also im „Mainstream der Individualisten“ (Norbert Bolz) landen -, gibt es auch weiterhin die Sehnsüchte nach den diversen Gemeinschaftlichkeiten (so wie früher für die Singles den diversen Familienersatz).
Und einher mit dem Gleichmachen gehen ja die Differenzierungen. Ich verwundere mich immer noch jedes Mal, wenn ich höre, wie tendenziell obskure Gruppen-Verbindlichkeiten immer verbindlicher werden. (Dass es immer mehr, immer sonderbarere „Tribes“ gibt mit Insider-Riten und ihren Jargons und Erkennungszeichen und Tätowierungen oder neo-atavistischen Verhaltensweisen … Hacker und Ultras und Skater und Surfer und Rocker mit Mafia-ähnlichen Schwüren und so was.) Und hat das nicht mit irgendeinem qualitativen Mangel an sonst real erlebter Gemeinschaftlichkeit zu tun?
Tatsächlich hängt damit zusammen aber wohl auch die Fragwürdigkeit des Einzelgängers. Andererseits vermute ich, dass jeder, der von seinem eigenen, etwas an der Welt positiv zu vereinnahmen versuchenden Standpunkt aus spricht, eigentlich einen „kommunitaristischen“ Versuch unternimmt. Die Gemeinschaftlichkeit ist, dem Guten das Wort zu reden, immer schon eingebaut. Sie kann sich aber meist auf dessen Höhe nicht halten. Und dagegen müssen sich dann andere auch wieder verwahren. Und die Netzgemeinde etwa ist genug diffus wie auch konkret, dass sich jeder bei Bedarf dazu rechnen oder distanzieren kann. Sie ist so gesehen nur ein Name fürs begriffliche Marketing, eine Art mentales Tag in der um sich greifenden human markup language um zur Orientierung alles besser auszuzeichnen.
Die Idee kommt mir erneut, dass es da im Hintergrund immer eine Enttäuschung gibt, wenn eine – zuletzt ja (mit Lovink, also kritisch gedachte) heilsbringerische Gemeinschaft konkret eher versagt (oder einem die Mitwirkung versagt – was auf das Gleiche hinausläuft). „Das Netz“ ist ja immer noch für viele eine krypto-utopische Entität, weil sie dahinein und da herum ihre mentalen Hoffnungen auf das Bessere projezieren, ihre alltägliche Praxis danach richten und sogar eine denkbare Politik (Piraten). Aber vielleicht gilt das auch für die anderen Eingemeindeten
Ich frage mich also, ob denen, die eigentlich dazu gehören wollen, die Grenzen dafür immer so klar sind … bzw die Enttäuschungen dann unaufgeklärte sind. Und andersherum: Wenn etwa Markus Beckedahl mal wieder spricht – und er es ja rundum gut meint, auch in dem Wissen, dass es ihn berufen hat und es ihn anscheinend braucht – was dann das vage Unzureichende daran ist. (Und das es nicht ausreicht, und dass doch weiter gebohrt werden muss…)
In einer schon als veraltet geltenden Perspektive gesagt: Das Ganze IST (bleibt) das Falsche. Und doch ist es eben das real existierende, das womöglich einzig zu verbessern mögliche, das andauernd an eben seiner Selbstverbesserung arbeitende Projekt. Nur die Begriffe werden daran dann manchmal zu Gespenstern. Obwohl ich seit zwei Jahren selber gar kein Blogger mehr bin, zähle ich mich immer irgendwie noch dazu. Letztlich höre ich also zu, gehöre, wenn jemand anfängt für mich zu sprechen. Womöglich meint er es gut?
Ja, »Eurovision« gibt es noch (der Liederwettbewerb heisst ja »Eurovision Song Contest«; statt »Grand Prix Eurovision de la Chanson«) – nur merkt man das nicht mehr, weil diese Eurovisionsfanfare nicht mehr gespielt wird. Und tatsächlich: Früher, als die vor großen Veranstaltungen wuchtig ertönte, hatte man vor dem Fernsehen das Gefühl einer Gemeinschaft alleine dadurch anzugehören, dass man das jetzt schaute? Warum wird denn bei jeder Gelegenheit betont, wieviele Menschen jetzt dieses Fußballspiel anschauen? Um einen kurzfristigen (für die Dauer dieser Veranstaltung) Zusammenhalt zu stiften? Aber ist das dann schon eine Fernseh- oder Fußballgemeinde?
Es gab im WDR-Fernsehen, als man sich noch fünf‑, sechs Mal im Jahr mit Philosophie beschäftigte, eine 45 minütige Sendung über den amerikanischen Kommunitarismus. Der Titel ist unglaublich treffend: »Frierende Stacheltiere«. Und in der Tat glaube ich, dass der Individualismus mit seinen Vorzügen und Freiheiten auch eine gewisse Kälte ausstrahlt. In diese Kerbe sind jetzt die sogenannten »sozialen Netzwerke« eingetreten: Sie ermöglichen (scheinbar) beides: Man sitzt einzeln (vielleicht sogar ungewaschen oder in ansonsten »asozialem« Zustand) vor dem PC und ist gleichzeitig mit seinen »Freunden« in Interaktion. Facebook wird zum Emulgator; das Unvereinbare wird zusammengebracht. Die Hatz auf 400, 500 oder noch mehr »Freunde« erkläre ich mir damit, dass dadurch immer genug Leute online sind, mit denen Kommunikation wenigstens theoretisch möglich ist.
Die von Ihnen angesprochenen Jargons, Riten, Erkennungszeichen von Gruppen spiegeln natürlich den Drang wider, sich irgendwo aufgehoben zu fühlen. Die Familien sind längst obsolet geworden, weil sie deutliche Spuren von Verpflichtungen und Verantwortungen aufweisen. Religionen verlangen einen Gehorsam einem abstrakten Wesen gegenüber; das ist für die Moderne, die alles be-greifen will, nicht mehr attraktiv. Auf perfide Art und Weise kehrt dies dann zwar später in gruppendynamischen Prozessen wieder zurück, wird aber als freiwillige Verpflichtung akzeptiert. Wichtig ist dann, dass solche Organisationen Hierarchien ausbilden, die sichtbar Aufstiegsmöglichkeiten bieten (Rockerbanden und auch Sekten funktionieren bspw. so). In gewisser Weise befriedigt diese starre, hierarchisch orientierte und ‑fixierte Organisation dann das Gefühl einer sozialen Aufgehobenheit. Dass sie hermetisch ist und auch nur unter einem gewissen Druck zusammenbleibt, macht gerade ihren Reiz aus. Familien brechen ja inzwischen so leicht auseinander wie Knäckebrot – weil es eben auch ganz leicht geht.
Zurück zum Netz: Da wird also das zunächst so bejubelte, »heilsbringende« zur Enttäuschung (Sie sprechen Lovink an). Aber warum? Wer enttäuscht eigentlich wen? Liegt die Enttäuschung nicht immer auch beim Enttäuschten, bei dessen Erwartungen, die vielleicht illusorisch waren? Waren nicht die Partys immer enttäuschend, von denen man etwas erwartet hatte? Und, umgekehrt: Wurde nicht gerade das Ereignis, zu dem man womöglich nur aus gesellschaftlichen Zwängen heraus teilnahm, zu einem wie auch immer gearteten Erfolg?
Gehört man wirklich immer irgendwo dazu? Ist der Regionalliga-Fußballspieler auch eine »Fußballer« wie all die hochbezahlten Profis? Oder ist diese Einordnung nur eine rein sprachliche Benennung, ein Oberbegriff, der eigentlich sofort einer Differenzierung bedürfte? Wer bestimmt das eigentlich? Und vor allem: Warum?
Klar, das Medien die Vereinfachung benötigen wie ein Junkie seinen Schuss. Zum einen, weil sie damit besser ihre Nachricht glauben transportieren zu können. Zum anderen, weil sie im Grunde gar kein Interesse an Differenzierungen haben, weil sie nämlich Arbeit macht. Ich halte Schöpfungen wie »Netzgemeinde« oder auch, viel wichtiger, »Politiker«, »Banker«, »Islamist« (usw.) für problematisch. Vielleicht sind sie notwendige Übel. Obwohl man bestimmte Vereinfachungen merkwürdigerweise scheut: »Ausländer« gilt als unkorrekt (auch Hinweise auf andere Staatsbürgerschaften). Es gibt also Übereinkünfte, die einerseits solche sprachlichen Grobheiten gutheißen, andererseits sie verdammen. Wo kommen diese her? (Nein, ich will hier nicht das Fass der »political correctness« aufmachen.)
Die Neigung, Ähnlichtuende und Ähnlichdenkende in Schubladen zu sortieren erfüllt natürlich noch andere Zwecke als die der Vereinfachung. Es werden (künstlich) Gegenwelten geschaffen: Netz vs. Print; Politiker vs. Volk; Islamismus vs. Westen. Sie führen nicht nur zu Abgrenzungen, die wiederum zu manichäischen Entscheidungen zwingen (dafür oder dagegen; die eine Seite oder die andere). Nein. Sie schaffen nämlich eines: ein Gemeinschaftsgefühl.
Gemeinden, ja: die werden sicher heute ausdrücklich gestiftet – ist ja auch ein notwendiger Marketingeffekt (Kundenbindung). Und die meisten Menschen lieben es anscheinend, Teil einer großen Sache, einer Menge zu sein. (Und gerade weil mir das persönlich nur schlecht möglich ist, beobachte ich das manchmal umso faszinierter.)
Wenn man statt Individualismus »Liberalismus« sagt, scheint auch alles klar: Der Einzelkämpfer, die Ideologie des „Erfolgs“, die Ausbildung und Behauptung der [kalten] »persona« ... die ökonomische, und damit die letztlich für alles, das Gemeinwesen höchste Vernunft. Als Ersatz dann die Fan‑, Fußball oder Feiergemeinde und »going social«: die tatsächlich ins Sozial-Engineerung abgewandte, als „public viewing“ siechende Gemeinschaftlichkeit? Aber vielleicht verschiebt es sich nur unentwegt. Sogar die Soldaten früher oder sogar die »Kreuzzügler« waren eher bezahlte, ihr Auskommen und damit ihre gute Sache an einen Fremdzweck bindende Schergen. Vielleicht ist Darwinismus als Makroeffekt doch viel grundlegender als die Überregeltheit unserer Leben von Außeninstanzen und gemachten Trends uns sehen lassen? Und in der Einzelbegegnung gibt’s dann wieder Freundlichkeit wie auch blutige Kämpfe.
Vor Jahren, als ich mal wieder, ewig unwillig gegenüber der kalendarisch abzurufenden Weihnachtsseligkeit, eigentlich jede Gemeinschaftlichkeit verweigern wollte, geriet ich in einem bestimmten Forum an eine Frau, die noch richtig darunter litt – und wir gründeten augenblicklich eine Zweisamkeit der Dagegenseienden. Daraus wurde dann eine richtige, langjährige Freundschaft. Von daher habe ich dann auch das Virtuelle immer bejaht, weil es ja leicht ins Leben rüberreicht.
Vielleicht ist »Community« letztlich gar nicht zu verweigern, ist sogar als Bedürfnis oft gar nicht durchschaut? Man will heute eben nur die Freiheit, sich seine Nächsten oder Spießgesellen aussuchen zu dürfen und verweigert lieber den narzisstischen Stress, sich von einem zu sehr Anderen dauernd in Frage stellen zu lassen. Die wenigen richtigen Freunde hat man dann anderswie. (Und in den Familien herrscht heute sehr oft, zumindest nach meiner Beobachtung, statt den ursprünglichen Konflikten und dem Nähe-Terror eine abgeklärte Pragmatik.)
Ja, interessant sind dann die Auferlegungen bzw. deren Mechanismen, die man sich anderswo wieder hereinholt, die Gruppen- und Dazugehörigkeits- und Correctnesszwänge – zuletzt binden sie einen doch zurück (religio).
Die diversen (für mich eher diffusen) Netzfraktionen folgen anscheinend oft dem Ideal eines »richtigen Denkens«, dazu den jeweiligen Angesagtheiten und dem Aufderhöhe-damit-Sein. Dagegen stehen die mit dem ungelegenen, dem nicht genug differenzierten oder veralteten Argument. Oft müsste man eigentlich bereits „drin“ sein, wo andere schon alles ab- oder dichtgemacht haben. Ich lese gern hier und da etwas tiefer, empfinde mich dann aber doch oft nicht wirklich eingeladen. Somit ist die »Gemeinde« für mich entweder eigentlich immer eine andere – oder eine heimlich hermetischere, als sie zu sein vorgibt. Oder ich gebe mir nicht genug Mühe, die ungeschriebenen (aber doch zugänglichen) Verbindlichkeiten herauszufinden.
Somit sind mir solche unscharfen Zugehörigkeiten wie „Netzgemeinde“ vielleicht letztlich ganz angenehm? Ich habe mich damit arrangiert – und bin dann natürlich auch selber schuld an dem Ungenügen, dass ich im Umgang mit diesen Gemeinden und den Äußerungen ihrer Sprecher empfinde. Das, was ich vor Längerem in anderem, nicht ganz unähnlichen Zusammenhang mal mein (eher unzuverlässiges, streunerisches) Dazugehörigkeitsverlangen genannt habe, geht jedenfalls längst wieder weg von den Virtualitäten weg.
Wohin andere mich einordnen, dagegen kann ich kaum etwas tun. Wer man ist, sagen einem die anderen. Nicht zuletzt damit, wie sie einem helfen, sich davon abzugrenzen. So bestätigt sich das Soziale (und ja auch eine essenzialistische Soziologie à la Max Weber): Man konstituiert sich in seinen Abgrenzungen. Und entgeht seinen Eingemeindungen trotzdem nicht.
Natürlich entgeht man Eingemeindungen nicht. Aber ich habe das Gefühl, der Drang zur Vereinnahmung war noch nie so stark (sofern ich dies in meiner Lebenszeit feststellen kann). Es ist klar, dass ich in Spanien oder Österreich als Deutscher wahrgenommen, also »vereinnahmt« werde. Das stört mich aber nicht, weil es dem Gegenüber erst einmal als grobe Einordnung dient. Die nächste Stufe ist, wenn mir innerhalb dieser Einordnung bestimmte Denk- oder Verhaltensmuster unterstellt werden. Aber auch das ist menschlich, zumal meine individuelle (!) Komplexität in einem spanischen Restaurant auch zweitrangig ist.
Etwas anderes ist diese vorauseilende Vereinnahmung in gesellschafts- und sozialpolitischen Kontexten: Es gibt Verbraucherschützer, Datenschützer, Naturschützer, Umweltschützer – und alle glauben paternalistisch für mich sprechen zu können bzw. werden von Medien vorauseilend als dazu legitimiert angesehen. Das Ganze kommt mir inzwischen wie ein Spiel vor: Es gibt beispielsweise Gesetze oder auch nur Gesetzesentwürfe. Die werden sofort von den die betreffenden Lobbygruppen kommentiert. Zum »Ausgleich« werden die positiv konnotierten, »guten« Lobbygruppen (eben jene ‑schützer [die Liste un natürlich unvollständig]) herangezogen. Das Ergebnis soll dann den pluralistischen Meinungsbogen zeigen. Ich bleibe alleine; der Journalist sammelte nur Erklärungen, die allesamt keinen besonderen Wert haben (es sind meist nur ein, zwei oft genug voraussehbare Sätze). Dennoch bin ich oft genug bereits vereinnahmt.
Das kann ich sehr schlecht verhindern. Und gerade deshalb stösst mir dies auch so bei der sogenannten »Netzgemeinde« auf. Nicht, dass Journalisten diesen Begriff verwenden finde ich verwerflich (sie können offensichtlich leider gar nicht anders, als komplexe Zusammenhänge herunterzubrechen), sondern dass sich hier wie selbstverständlich eine gewisse Klientel etabliert hat, die dieses Sprechen für Andere internalisiert hat. Wenn sie »Wir« sagen, dann möchten sie damit »Alle« meinen – je höher die Masse, für die sie das Wort ergreifen, desto wuchtiger die Stimme. So läuft das Sprachspiel Politik ja inzwischen.
Ich sage nicht, dass ich die Lösung kenne. Dass, was die Piraten versucht haben (»Liquid democracy«) ist auch relativ unbefriedigend. Teilweise widerspricht es diametral dem, was man gemeinhin unter Parteien verstand: Einige Personen haben eine politische Programmatik – und suchen nun Anhänger, die dies teilen und mit denen die Ziele verwirklicht werden können. Die Piraten haben es in Programmpunkten, zu denen sie keine originäre Programmatik vertraten, umgekehrt gemacht: Sie waren erst einmal da und wollten per Mehrheitsbescheid wissen, wie sie sich zur Außen- oder Rentenpolitik zu positionieren haben. Schafft man so eine politische »Gemeinschaft«? ich glaube nicht.
Ich habe ja auch ein »Dazugehörigkeitsverlangen«. Aber die Zirkel sind doch relativ klein. Selbst bei Facebook, wo Leute mit 2000 oder 3000 Freunden mittels ausgeklügelter Filter nur Meldungen von den Leuten erhalten, mit denen sie in regelmässigem Kontakt sind. Das sind vielleicht 40, 50. Wenn davon jeder ein, zwei Meldungen pro Tag abschickt, ist das schon an der Grenze zur Wahrnehmbarkeit. Ich habe einmal gelesen, die Griechen betrachteten 5000 Personen als die maximale Grenze ihrer Agora (das ist merkwürdigerweise auch die Grenze der persönlichen Freundschaftsmöglichkeiten auf Facebook; Fanseiten ermöglichen allerdings unbegrenzte Mitgliederzahlen). Darüber hinaus waren demokratische Vorgänge nur äußerst schwer zu bewerkstelligen, so glaube man damals. Mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten dürfte die Zahl sich potenziert haben. Dennoch dürfte es Grenzen heben und vielleicht liegt hierin auch der Vorteil kleinerer Länder, die ein anderes, dichteres Gemeinschaftsgefühl entwickeln als große Populationen.
Vielleicht hat die Vereinnahmung auch mit der sich nicht ganz falschen Annahme zu tun, dass die Nutzung eines Mediums prägt, verbindet oder bestimmte (ähnliche aber auch variierende) Verhaltensweisen und Interessen hervorbringt (vgl. das Wort »Blogger«).
Mich stört die Vereinnahmung weniger, solange argumentiert wird, also der Daten- oder Umweltschützer relevante Einwände formuliert. Zudem bin ich nicht überall kompetent (ganz im Gegenteil: nur an wenigen Orten), die Vertretungen sind von daher nicht prinzipiell falsch, ja sogar notwendig.
@metepsilonema
Der Daten‑, Natur‑, Verbraucher- oder sonstwer-Schützer argumentiert aber immer mit mir. Er braucht die unausgesprochene Legitimation, um seiner Stimme Gewicht zu verleihen. Würde er das nicht tun, wäre seine Stimme im Diskurs nicht relevant.
Aber ist nicht bei jedem Sprecher die unausgesprochene Legitimation implizit? (Schöne Verklammerung von Entgegensetzungen.)
Man denke an »Stammtisch« oder an Fußball-Kommentatoren: Sozusagen phänomenologisch muss ich mir die meiste Zeit gewissermaßen etwas anmaßen, um etwas auszusprechen, das zuletzt Anspruch auf Allgemeingültigkeit reklamiert.
Natürlich verweist auch das wieder auf eine Überzogenheit des Anspruchs – der, der ja eigentlich bestritten werden soll. Aber ginge es ohne? (Bzw. dann nur jedesmal wieder seine eigene Position in Zweifel zu ziehen?) Oder man müsste jedesmal auf seine radikale Selbstbezogenheit beim Sprechen verweisen. (Die ebenso unwillkürlich eh passiert, ausdrücklicherweise aber diese Position schwächen würde. Man käme dauernd in performativen Selbstwiderspruch.)
Und diese beiläufige Entlastung lt. Metepsilonema verspüre ich oft auch: Jemand soll es einmal sagen, von mir aus laut, worauf ich selber gerade nicht komme[n kann].
Tatsächlich helfen mir dann die Eingemeindungen auch wieder, meine Gegenposition zu stärken (obwohl ich sie mir auch öfter verbitten möchte).
@Gregor
Natürlich sprechen manche Organisationen ungefragt für mich, aber kann man dem überhaupt entkommen? Was soll ein Verbraucher- oder Umweltschützer tun? Er möchte doch klarstellen wofür er eintritt, also etwa für die Erhaltung der Umwelt oder für Produkte, die bestimmten Standards genügen. Das sind doch per se Belange, die einen verallgemeinerten Anspruch stellen müssen und daher darf er auch formuliert werden. Selbstverständlich hängt die Stimmstärke von der Zahl derer ab, die man vertritt, allerdings, so hoffe ich, ist das nicht das alleinige Kriterium.
@herr.jedermann
Der Sportberichterstatter heisst aber -kommentator, d. h. die Subjektivität ist sozusagen eingebaut – womöglich sogar erwünscht. Eine Objektivität wäre da hinderlich; die Entscheidung, ob es einen Elfmeter geben soll oder nicht, trifft der Fußballkommentator am Ende für sich (im Glücksfall mit Argumenten, Zeitlupe, Regelzitat, etc).
In der Politik gibt es diesen unausgesprochenen »Fraktionszwang«. Der Gedanke geht dahin, dass nicht alle Abgeordneten einer Partei über alle Gesetzesvorhaben den gleichen Wissensstand haben können. Daher gibt es Gremien, Ausschüsse, Ministerien, wo die fachlichen Gegebenheiten diskutiert werden. Als »einfacher« Abgeordneter kenne ich mich vielleicht nur einigermaßen mit der Außenpolitik aus. Was mache ich bei Finanzentscheidungen? Oder wenn es um Datenschutzbelange geht? Die Dompteure in den Fraktionen sagen: Man hat sich der Parteilinie anzuschließen und damit zu vertrauen, dass die schon im Sinne der Partei die »richtigen« Schlüsse gezogen haben. Hier wird also laufend für andere gesprochen.
Schließlich hat der Abgeordnete auch so zu entscheiden. So die Linie in den Parteien. Tatsächlich steht im Grundgesetz etwas anderes: Jeder ist seinem Gewissen verantwortlich. Wer das ausschöpft und »auffällt« bekommt einfach keinen guten Listenplatz mehr bei der nächsten Wahl.
Nach diesem Schema sind auch die informellen Meinungsbildner längst organisiert. Sie haben noch nicht einmal Sanktionsmechanismen, außer die Exklusion, die aber in der Regel sowieso besteht. Der Gedanke von Verbrauerschutzorganisationen beispielsweise liegt dahingehend., die heterogene Masse der »Verbraucher« sozusagen stellvertretend als Sprachrohr zu bedienen. Würden sie das nicht tun, müssten sie formallogisch argumentieren. Mit der geliehenen Macht, für alle Verbraucher sprechen zu dürfen, verschaffen sie sich Relevanz. Widerspricht ein solches Gehabe aber nicht der Rede vom »herrschaftsfreien Diskurs« (an das ich nicht glaube; insofern ist diese Frage rhetorisch)?
Mit der geliehenen Macht, für alle Verbraucher sprechen zu dürfen, verschaffen sie sich Relevanz.
Das bestreitet, glaube ich, niemand, aber zur Relevanz gehören auch Argumente und wenn die nicht stichhaltig sind, dann nützt das Schreien nichts, bzw. werden sich die Stimmen mehren, die den Vertretungsanspruch bestreiten (hoffentlich).
Mit dem höchst problematischen Fraktionszwang ist es ähnlich: Wenn sich ein Abgeordneter in einer Thematik nicht auskennt, kann man ihm die ensprechenden Informationen und Argumente vorlegen, entscheiden muss er (Gewissen). Dass das oft nicht gewollt ist, steht auf einem anderen Blatt.
Um dem Druckmittel Listenplatz entgegen zu wirken, könnte man das Wahlrecht entsprechend personalisieren und der Wähler unbequeme Abgeordnete belohnen.
@metepsilonema
Der Austausch von Argumenten bleibt doch meist in der medialen Aufgeregtheit auf der Strecke – selbst dort, wo man dies simuliert (Talk-Shows). Oft werden nur noch Affekte bedient und Ressentiments gefüttert.
Das Wahlrecht wird natürlich nicht entsprechend geändert werden, weil Parteigremien nichts mehr verabscheuen als »unzuverlässige« Fraktionsmitglieder. Nach außen gilt eine politische Partei ja als besonders erfolgreich und zuverlässig, wenn sie »geschlossen« auftritt – als sei dies eine Tugend an sich. Die Medien verstärken dieses Bild noch – wobei sich dann ganz schnell der Kreis schließt: Ringt eine Partei um eine politische Richtung, gilt sie als zerstritten. Passiert dies nicht, gilt sie irgendwann als monolithisch. In beiden Fällen spielen sich Journalisten als Sprachrohre für den Bürger auf.
Vielleicht ist das nur momentaner Übersättigung und widerwilligem Überdruss geschuldet, aber als ich die Überschrift dieses Artikels las, dachte ich auch nur: Ah, das eignet sich wieder um in der Bildblogrubrik »6 vor 9« gelistet zu werden und von dort ein paar wütende Erwiderungen herbeizutreiben, die dem Artikelverfasser möglichst zur Bestätigung dienen mögen. Und ich bin ja auch so ein Bewohner meines Blogelfenbeinturms oder Kellerlochs und bitterer Gegner des Zeitgeistes. War es noch faszinierte Abstoßung auch über die Macht kollektiver Gefühlslagen, die ausreichen, um einem Bundespräsidenten den Garaus zu machen oder Minister aus dem Amt zu treiben, so gesellt sich langsam aber auch Bewunderung hinzu: darüber wie so ein aufkeimendes Gefühl, eine allgemeine Gestimmtheit ein Stadt ein Land ergreift oder eine sich formierende Bewegung oder Idee plötzlich tonangebend wird und die Menschen zu neuen Hochverfeinungen der Kultur oder Barbareien anspornt.
Vielleicht kann ich das nicht so gut ausdrücken, wie Rabowski das in seinen Betrachtungen in »Unsere Sache« tut. Leider habe ich mir schon zuviele Zettel hineingelegt, so dass ich die Stelle gerade nicht finde, in welcher er den Zeitgeist als etwas Vorantreibendes, Dynamisches beschreibt – nicht schon bewirbt oder anpreist,.. aber das brachte mich dazu meine reflexhafte Abwehrhaltung zu überdenken. Manchmal dauert es etwas länger: vielleicht braucht es eben jahrzehntelange Kampagnen und Eintrichterungen von »Digital- und Medienzeitalter«, bis die Umbrüche auf einmal in kurzer Zeit erfolgen. (Ich meine mich zum Beispiel zu erinnern, dass als die UMTS-Lizenzen zu unvorstellbaren Summen versteigert wurden, mir das geraune, dass es dafür keinen Markt gäbe für sehr plausibel hielt – jetzt wird es wohl für die Mobilfunkunternehmen eng, die auf dem Smartphonemarkt nicht mithalten können. So it goes.)
Ich hoffe ich verfehle das Thema damit nicht zu sehr, in der Diskussion wurde dieser Aspekt, glaube ich, auch schon hervorgehoben: dass solch vergröbernde Einteilungen wie die »Blogger« oder »Netzgemeinde« oft schon fast notwendige Orientierungs- und Einteilungsversuche sind, um in den umherschwappenden Zeitgeistwellen ein paar Ankerpunkte zu haben. Jetzt mag das so grob verzerrend erscheinen wie es ja ist, alle über einen Kamm zu scheren, aber in ein paar Jahrzehnten, wird vielleicht so darüber berichtet werden, wie die »Holzmedien« niedergingen (so läufts doch auch im Ästhetischen und ihren Epocheneinteilungen oder unserer Geschichtsschreibung allgemein).
Aber es sind ja gerade diese »kollektiven Gefühlslagen«, die auch irgendwann einmal Bauchschmerzen verursachen können. Man nennt das »Rudelbildung« beim Fußball oder, noch zutreffender, kennt es aus Westernfilmen, wenn der Lynchmob sein Recht will. Wie ist das denn mit der Bewunderung für eine aufkeimende Idee? Was, wenn diese »Idee«, dieses Gefühl, zu etwas führt, was einem dann nicht passt? Waren nicht alle »Bewegungen« auch durch ihre Dynamik (zunächst) legitimiert? Man nannte das auch einmal »Revolution«. Aber wie ging das eigentlich immer aus? Und: sind die aktuell propagierten »Revolutionen« nicht eher Kindergeburtstage? Und tragen bei doch einen Keim Gefahr in sich; ein Atom, dass man vielleicht nicht entfesselt sehen möchte.
Etliche dieser Kampagnen, die so geführt werden, widern mich inzwischen an. Sei es, dass es um Sprachkontrolle geht oder einfach nur billige Affekte genährt werden. Was, wenn die Kontrolle durch die Massen versagt? Ich habe – ehrlich gesagt – kein Vertrauen in einen kollaborativen Ausgleich, der immer wieder auf den richtigen Weg (des Rechtsstaats) führen muss.
Natürlich muss es grobe Verallgemeinerungen geben. Aber was wenn diese Verallgemeinerungen ungeprüft als Legitimation bzw. Repräsentation dienen? Für ein Handeln, dass man so gar nicht will.
Sagen Sie doch einmal einem Verlag, Sie arbeiten für ein Onlinemedium und schreiben dort über Literatur. In gefühlten 80% der Fälle hat sich das Gespräch erledigt. Sie dienen allenfalls als Multiplikatoren. Ihr Text kann so ausgefeilt sein wie kein anderer – der von der FAZ und der SZ wird zitiert. Sie, als Onlineschreiber, gehören der »Netzgemeinde« an. Oder, schlimmer, sie sind ein Nerd. »Blog« bedeutet in Deutschland: Schreiben ins Unreine mit dem Unreinen. Wenn Journalisten »bloggen«, schreiben sie sozusagen vor. Das gilt nicht als Journalismus – es ist Gekrakel. (Merkwürdig ist dann, wie »Blogs« plötzlich bei der Berichterstattung über diktatorische oder anders missliebige politische Regime eine Legitimation in den Mainstreammedien erhalten; plötzlich gilt all das, was sie im Inland als Einwände bringen, nicht mehr.)
Diese Konnotationen hatte ich mit dem »dynamisch« nicht ausgeschlossen und das Unbehagen vor solchen Massenaffekten kenne ich nur zu gut. Aber können sie dämonisch und Kindergeburtstag zugleich sein? Und ist Kultur oder Kunst auch nicht ohne eine Masse von Menschen denkbar, die etwas Besonderes darin zu erblicken vermeint und sie über die Zeiten tradiert. Wäre Kafka so groß, wenn die Sekundärliteratur über ihn nicht ganze Regalwände füllte? D.h. ist diese Kultur dann auch das Falsche – wie unser Leben? Ist dieses Falsche nicht schon so ubiquitär geworden, dass wir wenn wir »Mainstream«, »Zeitgeist« sagen nicht auch schon nur noch Reflexe bedienen?
Natürlich wird »die Masse« benötigt. Demokratie funktioniert ja als Kumulierung von Massenmeinungen. Je größer (und heterogener) diese Masse ist, desto unwahrscheinlicher soll ein Mißbrauch des durch die Masse zustande gekommenen Urteils sein. Hierin liegt der Widerspruch zum Diskurs: Er mag eigentlich keine tiefgehende Heterogenität, die Komplexität spiegelt. Daher müssen Institutionen geschaffen werden, die in der Öffentlichkeit eindeutig zuzuordnen sind und die sozusagen stellvertretend agieren. Diese Institutionen (beispielsweise »Greenpeace« oder »Transparency International«), die nicht demokratisch legitimiert sind, begeben sich in diskursive Sprachspiele, in der sie als Repräsentanten gleichberechtigt mit Politik, Wissenschaft und Wirtschaft interagieren. Wie das funktioniert, erkennt man an allen Ecken und Enden und insbesondere in der EU: gar nicht. Daher erwägt man in der EU auch eine Begrenzung der Macht des »Elektorats«, was natürlich das Kind mit dem Bade ausschüttet.
Wichtig ist für mich in diesem Zusammenhang, dass Institutionalisierung am Ende Masseninteressen bündeln soll. Diese Bündelung ist jedoch fast immer paternalistisch und instrumentell, d. h. es wird für mich gesprochen – und – das ist wichtig – niemals mit mir.
Es geht mir nicht um »richtig« oder falsch« – insofern führt das Kafka-Beispiel in die Irre: Erst war die Literatur Kafkas da – dann die Leute, die diese Literatur entdeckt haben – danach wurde sie publiziert, bekannt gemacht. Die »Masse« spielt da gar keine Rolle; eher im Gegenteil: Wäre es nach dem Massengeschmack gegangen (der, man erinnere sich, demokratische Verfahren bestimmt), wäre Kafka eine Randerscheinung geblieben. Erst die Heraushebung an Schulen und Universitäten machte ihn in bestimmten Kreisen »populär«. Der Ruhm Kafkas – von dem er nichts mehr hatte – ist ein hermetischer Ruhm; die Sekundärliteratur wird nur von einem engen Kreis überhaupt zur Kenntnis genommen, geschweige denn gelesen. Dieser »Kreis« hat sich wiederum institutionalisiert und entsprechend agiert er dann auch (der Paternalismus wirkt dann nach innen: niemand würde sich trauen, Kafka als schlechte Literatur zu bezeichnen).
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Und manchmal möchte man ja vielleicht ein Teil der Masse sein. Hierin liegt ja die Ambivalenz. Die Hyper-Individualisierung macht die Leute ja nicht zwingend glücklicher. So schwankt man zwischen Verdammung (die durchaus reflexhafte Züge annimmt) und Faszination. Auflösbar ist das nicht.