Ijoma Mangold wird im nächsten Jahr 50, ist Feuilletonist (seit einigen Jahren in mehreren Funktionen bei der »Zeit« beschäftigt) und Literaturkritiker und man muss ihm daher einen hohen Sensibilitätsgrad für Sprache unterstellen. So ist der Titel seines neuen Buches wohl bewusst assoziativ: »Der innere Stammtisch« erinnert an die längst dämonisierte Vokabel vom »inneren Reichsparteitag«, die im Jahr 2010 einer deutschen Sportreporterin fast zum Verhängnis geworden wäre.
Dabei schreibt er eigentlich nur Tagebuch, und zwar vom 19. September 2019 bis zum 13. April 2020. Beginn und Ende scheinen jeweils ohne besonderen Anlass zu sein. Am Anfang wird das Tagebuch zu einer Art inneren Monolog erklärt (was es ja per se immer ist). Aber hier geht es fast immer um politische Stellungnahmen und – Achtung: der Autor mag das Wort nicht – Reflexionen über gesellschaftliche und politische Entwicklungen. Privates bleibt weitgehend ausgespart; das intimste Erlebnis ist die Enttäuschung, als er mit einem Ohrenstäbchen nicht den erhofften Schmutz aus seinem Gehörgang herauspuhlen kann.
Es beginnt sofort mit Friday-for-Future. In einer Kita bereitet man sich, wie er hört, auf eine FFF-Demo genauestens vor und kauft vorher noch grüne Klamotten für die Kinder, damit alles stilecht ist. Mangold selber outet sich als »ästhetischer Greta-Fan« (»ihr Gesicht ist schön wie das einer frommen Jungfrau«) und es ist ihm gleich, dass ihm dies als Zynismus ausgelegt werden kann. Irgendwann wird er noch deutlicher und macht sich zum »ökotauben, misogynen, alten, weißen Greta-Hater«. Geschenkt, ich habe verstanden.
Natürlich zweifelt Mangold den Klimawandel und die Notwendigkeit von Maßnahmen, diesem entgegenzuwirken, nicht an. Aber er kultiviert eben auch bei diesem Thema, was er als eine Art Lebensmaxime (oder, wenn man es negativ sieht, als Krankheit) definiert: seinen Trotz. Sobald in einem Raum Einigkeit besteht, ist er es, der spontan mit einer Gegenmeinung eingreift. So auch hier, denn »der selbstgerechte Gewissheitston, zu dem das Thema einlädt, triggert« ihn ähnlich wie die Bigotterie der vermeintlichen Öko-Musterschüler (was zu launigen Ausführungen über die Kirchen-Heucheleien der Vergangenheit führt).
Was die Notate interessant macht: Es weder ein Dagegensein, um dagegen zu sein – aber auch nicht das Gegenteil. Mangold wägt tatsächlich ab – nicht immer unbedingt mit der notwendigen Konsequenz, aber das macht gerade die Mischung aus Leichtigkeit, Hochmut und Klugheit (ich hätte fast geschrieben: Charme – aber man soll nicht übertreiben) vieler Eintragungen aus.
In einem Punkt ist er mit den anderen und sich selber einig: Donald Trump geht gar nicht. Diese Wahl war eine Zäsur. Wo George W. Bush noch (falsche) Beweise für Massenvernichtungswaffen anführte um den Schein zu wahren, lügt Trump einfach. Warum wurde er von so vielen Menschen gewählt? Der Versuch einer Antwort: »Ausgerechnet Trump, der sich die Wirklichkeit erfand, wie es ihm passte, zwang uns zu überdenken, ob nicht auch wir zu lange in einer Wirklichkeit gelebt hatten, die wir uns als die passende Kulisse unseres Lebensgefühls selbst errichtet hatten, in der aber unfairerweise auch jene leben mussten, die mit unserem Lebensgefühl absolut nichts anfangen konnten?«
Mangold trauert der einst so mächtig erschienenen Nato nach und hadert mit der EU (Brexit – obwohl er einst ein Johnson-Fan war). Jetzt wisse man, was man einst an ihnen gehabt habe – jetzt, da sie praktisch verschwunden sind bzw. bedeutungslos geworden sind. Aber sogar bei Trump schleichen sich im Laufe der Eintragungen manchmal Zweifel ein: hat er nicht dessen China-Politik falsch bewertet? Ist er zwar gut in Trump-Verachtung aber schlecht in Trump-Analyse? Und warum, so beklagt er, hat er noch nie vorher gehört, dass Obamacare vermutlich verfassungswidrig implementiert wurde? (Er sollte die Frage auch einmal seinem Chefredakteur und Herausgeber stellen.)
Den Bezeichnung »Fake News« lehnt Mangold als zumeist zu pauschalisierend ab. Es werde weniger direkt gelogen, stellt er fest. Häufiger hingegen würde die Wirklichkeit verfälscht, in dem »man einen Sachverhalt so lange aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, bis keinem mehr auffällt, dass dieser Sachverhalt auch eine Rückseite hat, die eine ganz andere Geschichte erzählt.« Das dürfte sehr genau beobachtet sein.
Ein kleines Zwischenspiel für den Leser. Über wen schreibt Mangold: »Mit XXX kehrt das Unbedingte in unsere Welt unerlöster Relativitäten zurück: Radikalität statt Abwägen, Maximalismus statt Kompromiss.«
Was die Eintragungen in das imaginäre Tagebuch ausmacht: Mangold kennt tatsächlich keine Schmerzgrenzen. Das betrifft sowohl seine Äußerungen über das »Wokeness-« und das »PC-Sprachspiel« der Linken bzw. der Rechten (beides langweilt ihn, es sei denn, Obama spricht über Wokeness) wie auch bereits angedeuteten und immer wieder eingestreuten Sottisen gegen den Gratismut der »Öko-Kassandren«. Mangold präferiert »Ambiguitätstoleranz als politische Tugend.« Wie schon Enzensberger vor zwanzig Jahren erkennt er: »Die Apokalypse ist eine monotheistische Religion, sie duldet keine anderen Gottheiten neben sich.«
Nicht ganz uneitel stellt er sich selber ein (Zwischen-)Zeugnis aus: Er ist und bleibt ein »Kind der Postmoderne«, in der alles ironisch aufgeladen werde. Seine Texte kennen weder Gendersternchen und »Innen«-Gebilde; er spricht stets von »Studenten« und nie von »Studierenden«. Wirtschaftspolitisch ist Mangold eher marktliberal als sozialistisch (die Dichotomie »Kopfpauschale« versus »Bürgerversicherung« hat noch Narben bei ihm hinterlassen) und versteht nicht, warum Schröder in der SPD nicht für seine Agenda-Politik gefeiert wurde, ist aber unbedingt dafür, dass die SPD erhalten bleibt und analysiert recht luzide, warum es so schlecht mit ihr steht.
Er stuft sich nonchalant als privilegiert ein, beklagt fast, so gut wie nie rassistisch belästigt worden zu sein und stimmt dabei ein Hoch auf seine Blase an, »in der die Bigotten und Orthodoxen in der deutlichen Mehrheit gegenüber den Rassisten sind«. Den Antisemitismus in der Gesellschaft nimmt er allerdings als bedrohlich wahr und analysiert, wie die AfD eine Art künstlichen Philosemitismus predigt, um damit pauschal die arabischen Asylanten und Flüchtlinge als Antisemiten zu denunzieren. Er skizziert eine These über Visibilitätsausländer und Invisibilitätsausländer. Beim Anschlag von Halle hofft er, dass es ein Neonazi-Anschlag war und kein islamistischer – und ist sich zugleich der Perversion dieser Hoffnung klar.
Auf Facebook trifft er »hochintelligente Leute, die über Hannah Arendt promovieren könnten« aber stattdessen »ellenlang ihren Abscheu über [Dieter] Nuhr« ausdrücken. Die Empörungswellen in den (sogenannten) sozialen Medien verwundern und faszinieren ihn zugleich. Paradox, wie die Forderung nach Toleranz immer wieder in Intoleranz umschwenkt. »Je stärker das Selbstbild, eine pluralistische Gesellschaft zu sein, sich durchsetzt, desto weniger ertragen wir Abweichungen; dass jemand zu Wort kommt, den man verurteilt, gilt als Skandal, denn es wurde ihm ‘eine Bühne geboten’ «. Und noch ein Paradox: »dass sich gerade so viele von Etikettierungen befreien wollen, indem sie sich ein neues Etikett um den Hals hängen.« Am Ende wachse die Zahl der Etiketten. »Vermutlich ist es das, was man Individualisierung nennt«.
Jahrelang habe man die Alternativlosigkeit in der Politik beklagt, so Mangold. Von Langeweile gesprochen und Parteiendifferenzen mit der Lupe gesucht. Und nun habe sich alles verändert. Aber ist der fortlaufende Krisenmodus, in den uns die Empörten und Besorgten fortlaufend stürzen wollen, darauf die richtige Antwort? Wie könnte man diesen fruchtbar machen?
Mangold ist kein Revoluzzer, er verehrt nahezu die demokratischen Institutionen und deren Langsamkeit. Verblüffend, wie oft er dabei Carl Schmitt als Kronzeugen hervorholt. Tatsächlich bringt Demokratie nie einen endgültigen Befund. Gesetze spiegeln keine Wahrheit, sondern nur das Ende eines Meinungsbildungsprozesses, der mit Mehrheiten entschieden wurde und sich womöglich Jahre später als fehlerhaft herausstellen und dann wieder neu verhandelt werden muss. »Autorität, nicht Wahrheit schafft das Gesetz«, so Carl Schmitt laut Mangold. Wobei dieser Satz von Thomas Hobbes ist und nur von Schmitt zitiert wird (was er wohl weiß).
Aber es gibt auch peinliche Momente (nicht nur die über die Erklärung des Phänomens »Fremdschämen«), etwa wenn er darüber den Kopf schüttelt, »wenn von der Kanzlerin mal wieder nur Phrasen am semantischen Nullpunkt kommen« und sich dann »bei nächster Gelegenheit« glücklich schätzt »von einer Frau regiert zu werden, von deren IQ wir alle nur träumen können.«. Es steht zu befürchten, dass Mangold das nicht ironisch meint. Die Ausführungen über das Wissen und Nicht-Wissen sind hingegen wieder beste feuilletonistische Unterhaltung.
Zwischenzeitlich kann man sich vom einsamen Nachdenken immer dann ein bisschen erholen, wenn Mangold über seine Gespräche mit der deutsch-kasachischen Sängerin Helena Goldt erzählt oder von seinen diversen Abendessen in unterschiedlichen Runden. Im Gegensatz zu Goldt, der am Schluss ganz offiziell gedankt wird, bleiben die anderen Teilnehmer an seinen Diskussionsrunden anonymisiert. Einmal klappt das nicht; in meinem pdf-Dokument kann man nachlesen, mit wem sich Mangold in Berlin so heftig über den Rechtsruck in der CDU gestritten hatte.
Über sein eigentliches Arbeitsgebiet, die Literatur, schreibt er verblüffend wenig und manchmal fragt man sich, wann er eigentlich die Bücher liest, über die er später urteilt. Einmal kommt er auf Peter Handke zu sprechen, repliziert dessen »Ich komme von Homer…« und analysiert die Zumutung, die Handke »für eine Öffentlichkeit, die es als ihr Recht ansieht, jeden zur Rechenschaft zu ziehen« darstellt. Über die weitere sogenannte Debatte zum Nobelpreis findet sich kein Eintrag. Er schildert eine Veranstaltung mit Kenzaburō Ōe, die er vor längerer Zeit moderierte. Man erfährt, dass er Thoreaus »Walden« als einen Text im »Predigerton«, direkt von der »puritanischen Kanzel« empfindet (und damit hat er Recht). Für Hartmut Rosa hat er nur eine kleine Verbalinjurie übrig.
Interessant wird es bei der wiederholten Lektüre zu Martin Walsers »Finks Krieg« von 1996. Es geht im Roman um eine Frankfurter Lokalpolitikintrige, in der sich ein Ministerialrat durch eine Versetzung kaltgestellt sieht und zu einer Art Michael Kohlhaas wird. Finks Gegner ist ein gewisser Tronkenburg. Der Rahmen ist real, die Affäre gab es wirklich. Tronkenburg ist der Romanname von Alexander Gauland, seinerzeit Chef der hessischen Staatskanzlei, der dann pikanterweise in der FAZ eine Rezension zum Walser-Roman verfasste. Mangold fasziniert weniger dieser Umgang als die in Gaulands Text eingearbeiteten politischen Ansichten, die sich diametral von denen unterscheiden, die er heute in der AfD vertritt. So schreibt Gauland 1996: »Hat Walsers Held denn vergessen, dass die Generation der heute Sechzigjährigen sowie die Nachgeborenen Leben und Freiheit, also eine zivilisierte Identität, den Alliierten verdanken?« Zu Recht fragt sich Mangold, was seitdem mit dem Mann passiert sei.
Fast ist man ein bisschen traurig, als es in die Corona-Zeit geht, die Mangold länger indolent wahrnimmt. Und »endlich mal keine Meinung haben müssen wegen erwiesener Unzuständigkeit«, denn, das weiß der Meinungsjunkie Mangold ganz genau: »Es hat ja immer auch etwas Ordinäres, eine Meinung zu haben.« Die Sorglosigkeit weicht dann doch, es gibt Freunde, die rasch an finanzielle Grenzen stoßen, weil sie keine Reserven haben. Immerhin: Helena sprüht vor Kreativität. Das Virus sieht er zunächst eher harmlos an, lässt sich dann jedoch auf Anraten einiger Freunde auf die Drosten-Podcasts ein und ist mindestens von der Stimme des Virologen, dessen »vernuschelte Beiläufigkeit«, begeistert. In den Wochen danach beginnt dann ein emotionales Hin und Her, ein Schwanken zwischen Ernst und Bagatellisierung.
Überhaupt ist Mangold bisweilen recht geschickt im Selbstwiderspruch oder, wie man einst sagte, im Handwerk der Dialektik. Mal beklagt er die unterschiedlichen, nicht mehr zusammenführbaren Gegensätze zwischen den einzelnen politischen Flügeln, dann wiederum fragt er sich, ob »unsere Gesellschaften nicht vielmehr ein historisch einzigartiges Maß an Homogenität erreicht« hätten. Vielleicht stimmt ja beides, je nach thematischer Schwerpunktsetzung. Aber für die genaue Untersuchung dieser Problematik reicht dieses »Format« des inneren Tagebuchs nicht aus. Daher ist dann auch schnell Schluss.
Mangold spielt eine Mischung aus intellektuellem Freigeist und Dandy und suggeriert in seinen Notaten zu Beginn, dass die bisweilen ketzerischen und/oder unorthodoxen Gedankengänge niemals an die Öffentlichkeit kommen. Natürlich glaubt man ihm kein Wort: Zuviel deutet auf das absichtsvolle Spiel der »unreinen Seele« (Selbstbeschreibung) hin. Und das ist auch gar nicht schlimm, denn man liest seine Eintragungen gerne, fühlt sich gut unterhalten und mancher Aphorismus sitzt sogar. Redundanzen bleiben nicht aus; manchmal wird es halt ein bisschen zäh. Störend ist bisweilen diese bemühte Selbstgefälligkeit (bis hin zur Arroganz), die den Widerspruchsreiz ostentativ herausfordern soll. Dazu passt es dann auch, dass man sich zur Buchpräsentation einen gewissen Robert Habeck herangeholt hat. Da ist es eben wieder, das »Kind der Postmoderne«. Und das Kalkül geht auf: »Spiegel-Bestseller«!
Ach ja, die Auflösung des kleinen Zwischenspiels. Mangold meinte mit diesem Satz natürlich Greta Thunberg (und nicht, wie Sie vielleicht überlegt hatten, Herrn Trump).
Normalerweise höre ich auf zu lesen, wenn ein sog. Buchautor das Wort »triggern« verwendet.
Ich bin da robuster.
Tja, ich hatte tatsächlich auf Trump getippt ...
»Ein öffentliches Tagebuch«, wäre als Untertitel passender gewesen. Was soll denn an diesen Einlassungen politisch sein?! Es ist höchstens noch der postmoderne Politikbegriff, der sich stets im Vorfeld von Entscheidungen und Gesetzen bewegt, weil nie irgendetwas Wichtiges auf dem Spiel steht, wo man nur das Eine aber nicht das Andere haben kann, bis dann Greta kommt, und uns alle aus den »unerlösten Relativitäten« heraustrommelt, ausgerechnet die geistestumbe Autistin mit dem madonnenhaften Antlitz...
Ich will nicht sagen, dass die Lektüre nicht interessant sein könnte. Im Gegenteil, handelt es sich vielleicht sogar um ein wichtiges Dokument dieser letzten 15 Jahre der Verirrung... Ein bisschen Ironie, ein bisschen Weltherrschaft, ein bisschen Narzissmus!
Gewiss ist Mangold nicht frontal unsympathisch, aber man muss seine Bewertungen schon als das nehmen, was sie sind: Irrtümer! Nur weil er wie so viele Klugschwätzer so manches Rede- und Redaktionsduell gewonnen hat, wollen wir doch nicht annehmen, dass es allgemein verbindlich und hochwertig (?!) wäre, was der Autor da absondert...
Ist das Postmoderne?!
Ja, ich denke schon. Der Irrtum und das moralische Debakel am Rande werden irrelevant. Jede Bewertung könnte auch anders sein, und sich selbst rein experimentell zum Widerspruchs-Geist zu erheben, wird als gruppendynamisch sinnvoll erlebt. Jesus, Maria und Josef!
die_kalte_Sophie
Da muss ich Ihnen ausnahmsweise mal sanft widersprechen. Natürlich ist das »Politik« und natürlich ist dieses Tagebuch ein postmodernes »Spiel« damit. Mich hat erfrischt, dass da jemand für seine ästhetische Präferenz für Madonnen-Gesichter bereit ist, sein politisches Urteil ruhen zu lassen bzw. zu besänftigen. In den Zeiten der Uniformierung von kanonisierten Ansichten ist der Selbstzweifel ja geradezu eine Notwendigkeit geworden. Dass er von einem Literaturkritiker praktiziert wird, ist ja fast schon revolutionär (freilich bekennt er sich sicherheitshalber als politischer »Idiot« [im Sinne Handkes gemeint – von mir, nicht von Mangold]).
Sie sind zu milde. Nachvollziehbar: man wird genügsam! Der weitaus beste Untertitel: Ein idiotisches Tagebuch. Das wäre distinguiert, ironisch und »catchy« gewesen.
Wenn ich den Akzent richtig verstehe, sucht Mangold im Titel die Übertreibung, bzw. setzt ein unsichtbares Fragezeichen. Die Zeiten wechseln von einer verschwommenen Monotonie auf drastische Konfrontationen, aber der Platz des zurückgezogenen Beobachters verändert sich nicht.
Wenn ich den politischen Gehalt dieser Ansichten kritisiere, dann vorallem weil er die Veränderungen gar nicht ausführlich benennt. Es sind Veränderungen der »inneren Landkarte«, all die hübschen kleinen Fähnchen, die vorher nicht da waren, bzw. von grün auf rot wechseln. Das ist eine Frage des Formats, gewiss, folgt aber immer noch einer schon wesentlich älteren (deutschen?) Untugend, nämlich der Unterentwicklung des politischen Denkens zugunsten des »Stammtisches«. Ja, irgendwie scheint Mangold zu begreifen, wo das Problem liegt: zwischen Infosphäre und Gemütlichkeit.
Das ich zu milde bin, hat man lange nicht mehr gesagt.
Vielleicht wird man genügsam, wenn man den Mist, den man in den »sozialen Medien« vorgesetzt bekommt, dagegen sieht. Da ist dann jemand, der mit dem Vorhandenen ein bisschen postmodern herumspielt, ohne gleich in die üblichen Hysterie- bzw. Panikmuster zu verfallen. Und ja, vielleicht ein (kleines) Hoch auf den Stammtisch...
»Gesetze spiegeln keine Wahrheit.« – Stimmt.
Sind sie deswegen beliebig? Nein.
Wie kommt man aus diesem Widerspruch wieder raus?
Jedenfalls braucht man dazu nicht unbedingt Carl Schmitt (oder Thomas Hobbes). Außer man wäre – wie gelegentlich Iljoma Mangold – vormodern unterwegs.
Sein Vorwurf an Alexander Gauland, dieser sei irgendwie un-amerikanisch zielt – der Wahrheit die Ehre – an diesem vorbei. Es ist eine Sache, mit Carl Schmitts knallhartem Autoritarismus zu kokettieren, wie Iljoma Mangold das offenbar mit Gusto tut, und eine andere Sache, jemand anderen eine solche Haltung unbelegt zu unterstellen.
Der Ironiker kann freilich immer sagen: Ja, bei mir ist das aber alles ganz anders. Ich lüge nicht, ich habe mich – halt – geirrt.
Ja, klar.
Da sehe ich übrigens einen Unterschied zu Enzensberger, der durchaus weiß, wann es ans Eingemachte geht, und dass Ironie dann fehl am Platze ist.
Wer diese Regel nicht richtig anwendet, wird in der Tat schnell langweilig. Insofern zähle ich auch Iljoma Mangold hie und da (also nicht, mit Goethen zu reden: durchaus) zu den Postmodernen.
Mangold hat mit Autoritarismus nichts am Hut. Das Kokettieren mit Figuren von Schmitt schon eher. Im Gegensatz dazu sieht er allerdings die Institutionen als Garanten für politische Balance.
Lesen Sie Gaulands Text zu Walsers Roman – und vergleichen Sie dann den neuen »Vogelschiss-Gauland«. Sie werden den Unterschied mit Händen greifen können.
Lieber Gregor Keuschnig, Institutionen sind das eine, aber Gesetze das andere, und Wahrheit ist nochmal was anderes. Man kann sehr wohl vollkommen autoritativ sein, wie Iljoma Mangold, und also wie er Wahrheit und Autorität kurzschließen, und gleichzeitig die Stärke von Institutionen hervorheben, wie Iljoma Mangold das in Ihrem Beispiel ebenfalls tut. Die Liste (auch linker) Carl Schmitt Leser, ist lang, die genau das tun (und taten).
Ich mag, beseite gespochen, Ihre Rezensionen auch wegen der Materialfülle gern, die Sie dem Leser bieten.
I
Iljoma Mangold hat sich an der von Ihnen ganz zu recht zitierten Stelle als überaus reaktionärer Geist ausgewiesen. Ich weiß ganz gut, wie derlei dann weitergeht, und habe es oben treulich vermerkt: Leute wie Mangold müssen nichts fürchten wegen ihrer autoritären Verirrungen, weil man ihnen immer zubilligt, dass sie im Herzen liberal seien und menschenfreudlich. Das waltet die ubiquitäre Ironie, die es der Innerlichkeit stets erlaubt, sich geschützt zu wissen vor der Macht. – Und das war – die Sache wird an dieser Stelle freilich nicht übersichtlicher – , das genau war Martin Walsers Einwand gegen (u. a. ) den autoritativen Thomas Mann der »Betrachtungen eines Unpolitischen«.
Hier wurzelt Walsers Kritik der Ironie als Residuum der bürgerlichen Uneindeutigkeit, die im Grunde, so der mittlere Walser und er mittlere Marcuse Seit’ and Seit’, bedeutet, dass der gute Bürger stets weiß, woher der Wind weht; die Ironie wird so buchstäbllich zum (mentalen) Schmiermittel, das den reibungslosen Betrieb garantiert – und den Bürger wundersamer Weise immer wieder auf die Füße fallen lässt. Tcha, die Ironie, gut und umsichtig appliziert, hat als Kulturtechnik (und Bathes’scher Habitus) eine mächtige Heilwirkung und gehört insofern zu den wichtigsten zivilen Waffen im bürgerlichen Leben – nicht zuletzt, wenn es hart auf hart geht.
Gauland argumentiert nun in seinem FAZ-Text gegen Walser genau so, wie ich oben gegen Iljoma Mangold und wie – Martin Walser weiland gegen Thomas Mann. Gauland macht das ein wenig hölzern, aber in der Sache völlig unmissverständlich und konsequent: Er sagt, dass die radikal subjektive Perspektive, die der Erzähler Walser im seinem Schlüsselroman »Finks Krieg« gegegen den realen Funktionsträger im institutionellen Gefüge der hessischen Landesregierung Alexander Gauland einnimmt, einen im Grunde ironisch-melancholischen Schein-Sieg zeitigt über genau diesen hessischen Staatssekretär im Namen eines – psychisch nicht ganz zurechnungsfähigen – Außenseiters.
Das ist – halten zu Gnaden – Walser als Statthalter des (durchaus unredlichen, gelegentlich sogar: Quellen fälschenden) Michel Foucault von »Wahnsin und Gesellschaft«: – Radikal im Namen der verletzten Individualität gegen die Institutionen, die als reine Zumutungen verstanden werden. Auch das können die modernen Institutionen und die sie beherrschenden Funktions- und Machteliten durchaus sein, so Gauland in der FAZ, und jetzt wird es noch einen Tick unübersichtlicher, aber sie müssen es nicht ihrer Natur nach sein!
Gauland wirft Walser ausdrücklich nicht vor, dass er überhaupt in Erwägung zieht, dass Institutionen dysfunktionale und unmenschliche Entscheidungen hervorbringen, er kritisiert freilich, dass Walser eine unmenschliche Perspektive auf das hessische Establishment behauptet, weil sein Held nun einmal so empfindet. Was der Erzähler Walser außer acht lässt, so Gauland, ist, wie ungeschickt, wie unsinnig, wie verquer, wie lügenhaft, wie selbstgerecht dieser Walsersche Held selber im relaen hessischen Institutionengefüge und Personalgeflecht gehandelt hat. Walser bleibt auch dann noch der treue Diener seines antibürgerlichen Helden, so alexander Gauland, wo dieser schon längst keiner mehr ist. – Hauptsache Institutionenkritik. – Hauptsache Krieg.
II
Der übliche bürgerliche Umgang mit Irrungen und Wirrungen verträgt also durchaus Ironie, auch unsachliche Kritik, selbst den gemütlichen linken Autoritarismus der sehr schwarzen Sorte à la Iljoma Mangold. Vorausgesetzt freilich, es handelt sich nicht um Irrtümer, die die zwölf eigentlichen deutschen Jahre betreffen, neben denen alles andere Deutsche als notwendig Uneigentlich zu erscheinen habe.
Deutsch sein heißt nunmehr die allzeitige Anerkenntnis der Grundverdrobenheit alles Deutschen. Auch das ist freilich in jenem Sinne megaloman, den einst Heinrich Heine unter ausdrücklichem Bezug auf Goethe und mit ausdrücklichem Bezug auf romantische und – verspießerte – Irrungen und Wirrungen, als genuin unsinnig gegeißelt hat in seiner hinreißdenden »Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland«.
Heine war dabei in einer Weise ironisch, die auch Martin Walser und auch Iljoma Mangold wie auch Alexander Gauland und Thomas Mann grad au no ja durchaus einleuchtete. Thilo Sarrazin, dem treuen Goetheanischen – - Eckermann – - – sowieso, er ist einer der wenigen, die in den letzten Jahren tatsächlich Goethe in extenso in politicis zitiert haben, die Länge und Breite, übrigens, in seinem anti-PC Buch »Der Neue Tugendterror«.
III
Dieses Buch Thilo Sarrazins wird in Schweizerischen – liberalen – Kreisen als höchst willkommener Diskussionsanlass und als Chance auch für den genuin liberalen Diskurs gesehen – in der NZZ nicht zuletzt – - – von Gerd Habermann.
Oh – und heute haargenau, am 15. 10. 2020, schreibt – Simon Strauß, ne, in der FAZ, dass man sich auch hierzulande dem schweizerischen Liberalismus öffnen solle – links wie rechts. – Der Schweizerische »Monat« ist übrigens dessen Hausorgan, ich sags bloß nochmal.
Simon Strauß hat im Sommer auch eine Lanze für das Intellectual Dark Web und verwandte Geister gebrochen – und auch da, in diesem Intellectual Dark Web, ist Thilo Sarrazin ein respektierter Deutscher Autor, auf den nicht zuletzt Douglas Murray (»Der Wahnsinn der Massen«, »Der Selbstmord Europas«) wie auch David Goodhart (»The Road to Somewhere«) ausführlich zu sprechen kommen – auch im – liberalen – englischen Spectator, nicht zuletzt.
Witzig alleine, als Sie »Iljoma Mangold« schrieben und den gleichen Vornamenfehler begingen wie sein Verlag in einer Vorankündigung auf Facebook, die dort immer noch unkorrigiert steht. (Dem Verkauf des Buches tut’s keinen Abbruch.)
Ihre Ode an Sarrazin ist hanebüchen. Was er mit Goethe und/oder Eckermann zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht. Lassen wir’s. Hier geht es um Mangold.
Mangold habe ich nur gelegentlich mal im Feuilleton gelesen, so dass ich der politischen Einordnung des vorliegenden Werkes unter »autoritativ« nicht widersprechen kann, aber sie überrascht mich schon.
Die Sortierung in Links-Rechts-Schema finde ich immer unfruchtbarer und wird, so mein Eindruck, meist von Leuten betrieben, die sich z.B. auf Twitter gezielt ideologisch vernageln. Schriftsteller sind davon auch nicht gefeit. Eugène Ionescos »Gegengifte« ist für mich so ein Beispiel für eine doktrinäre Erstarrung: ein reflexhaftes, gebetsmühlenhaftes Eindreschen auf den politischen Gegner, dass es selbst schon geistlos wird und die Dummheit zeigt, die es im Gegner bekämpfen will. Da ist die politische Coleur des sich Äußernden dann auch völlig egal.
@ Porkyas – Ja, es gibt einen politischen Automatismus, der sich schnell totläuft auch auf Seiten von Schriftstellern und Intellektuellen. Das ist der Fluch von PC ‑Thilo sarrazin hat das sehr schön herausgearbetiet in seinem Buch »Der Neue Tugendterror«, – dass PC die öffentliche Daébatte, also das Herz der Demokratie, inkommodiert – nicht zuletzt durch die intellektuelle Langeweile, die PC-Debatten zeitigen. Dass Goethe vieles davon gesehen – und durchschaut hat, ist vielleicht schon ein wenig abgesunkenes Kulturgut, stimmt aber.
@ Gregor Keuschnig
Ja, die Schweizer Liberalen sehen Thilo Sarrazin emt als Gewinn, insbesondere sein P C Buch »Der Neue Tugendterror«. Und die Klammer zwischen Simon Strauß und – vielen Dank ‑Ijoma Mangold ist ja ganz offenbar. Es ist auch klar, dass Ijoma Mangold sich auf nicht zuletzt auf Thilo Sarrazin in seinem Buch bezieht, auch auf David Goodhart und dessen phänomenales Buch »Road to Somewhere«, das – Alexander Gauland – in einem Gastbeitrag in der FAZ vor ca. zwei Jahren praktisch paraphrasierte, was Iljoma Mangold wissen dürfte, wie ich annehme. Auch auf Uwe Tellkamp und die »Buchändlerin des Jahres« Susanne Dagen bezog sich Iljoma Mangold wiederholt:
https://www.zeit.de/2019/23/uwe-tellkamp-schriftsteller-kulturstadt-dresden-meinungsfreiheit
Ijoma Mangold sagt in diesem Artikel etwas Merkwürdiges, nämlich, falls ich das ganz richtig erinnern sollte, dass ihn die Begegnung mit dem Vater Tellkamps in Susanne Dagens Buchhandlung, wie überhaupt die Gespräche, die er im sozusagen Gauland-nahen Dresdner Milieu führte – ermüdeten bzw. anstrengten. Ja, er schrieb, diese Gespräche seien für ihn anstrengend gewesen. Fand ich bemerkenswert – ich dachte: Huch, wieso das denn? Lauter zivilisierte Leute, Rede und Gegenrede, das normalste der Welt. Woher bloß die Ermüdung? – Dann dachte ich: Vermutlich von den Fallgruben, die den HH-Expedienten Ijoma Mangold in Dresden plötzlich umgaben, und die er nun klaftertief vor sich sah – da kann der liberale Mann leicht darin verschwinden, wenn er nicht aufpasst. – Ist es Thilo Sarrazin nicht auch so gegangen?
Noch ein Nachtrag zu Simon Strauß’ gestrigem FAZ-Artikel, es doch auch hier mehr so zu machen, wie die tapferen Schweizerischen Liberalen – Simon Strauß erwähnte da auch Mette Frederiksen ausdrücklich. – Die Dänische sozialdemokratische Regierungschefin, die 1:1 viele der Vorschläge – Thilo Sarrazins – - praktisch umsetzt und die – wie Sarrazin – den islamischen Zuzug ganz ohne Scheu um Umschweife als per se problematisch bezeichnet.
Herr Kief, den Artikel von Mangold über Tellkamp kann man ohne Abo scheint mir nicht lesen. Ein Unding sowas.
Bitte nix mehr zu Sarrazin; Sie verehren ihn, ich halte ihn für eine Marionette. Dennoch habe ich ihn gelesen und hier auch besprochen. Es genügt.