Der Absturz der malaysischen Boeing 777 über der Ostukraine kann wohl als Fanal für Qualität wie Quantität von Berichterstattung im digitalen Raum betrachtet werden. Entscheidend für die Inflation der Mutmaßungen1 ist dabei, dass die Absturzstelle in einem bürgerkriegs-umkämpften Gebiet mit unklaren Zuständigkeiten und Institutionen liegt. Die Propaganda der beiden Parteien führt sofort zu unterschiedliche Deutungen. Das an sich schon hochemotionalisierte Ereignis »Flugzeugabsturz« wird dadurch zusätzlich moralisch aufgeladen.
Erstaunlich dabei ist: Politiker, Journalisten und der zu Hause auf dem Sessel s(chw)itzende Forum- und Blogkommentator verschmelzen in ihrem Verhalten. Das Netz nivelliert alle Differenzen; der Zustand vollkommener Egalität ist mindestens in diesem Fall vollzogen. Alle Standesunterschiede aufgehoben – sofern die »richtige« Meinung vertreten wird. Egalität bedeutet nämlich nicht, dass Eintracht herrscht; im Gegenteil. Einigkeit besteht nur darin, dass plötzlich jede Nachricht – sei sie auch unter noch so dubiosen Mitteln entstanden – als satisfaktionsfähig gilt, sofern sie in das eigene Weltbild passt.
Aufgrund der besonderen Lage, die keine auch nur annähernd objektive Lagebeurteilung zulässt, sprießen Gerüchte, Annahmen und Schuldzuweisungen wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden. Vor einer Ernte nebst entsprechender Zubereitung wird jeder bedachtsame Mensch allerdings zurückscheuen – die meisten dieser Pilze sind vergiftet mit Meinung, Vorurteil, Propaganda und/oder schlichtweg der Hybris derer, die glauben aus tausenden Kilometern Entfernung Gewissheiten zu haben.
Jeder glaubt, in seinem Pilzkörbchen die richtigen Exemplare zu haben. Die üblichen Verdächtigen aus SZ, Zeit und auch taz rufen je nach Mentalität den Bündnisfall aus und/oder planen mindestens schon einmal Militärschlag. Sie haben die, den Schuldigen, bereits ausgemacht. Hierzu reichen ihnen Indizienketten, die sie sich auf dem freien Markt der ihnen jeweils passenden Propaganda zusammengebastelt haben.
Ausgerechnet in dieser unübersichtlichen Lage wird der Konjunktiv praktisch abgeschafft. Vermutungen werden zu Kausalketten geknüpft. Appelle an Racheinstinkte werden hoffähig. Es ist, als wolle man uns zeigen, wie vor fast genau einhundert Jahren ein Weltkrieg losgetreten wurde. Ob man damals mit den modernen Kommunikationsmitteln von heute noch knapp fünf Wochen gewartet hätte?
Ich vermeide in diesem Beitrag Verlinkungen, weil ich diesem Geschwätz nicht noch zusätzliche Aufmerksamkeit verschaffen möchte. Mir ist das schlichtweg zuwider ↩
Nur zuwider? Mir ist körperlich schlecht. Was ist z.B. bloß in einen vormals geschätzen Menschen wie Robert Leicht gefahren, einen so unglaublich dämlichen Kommentar in der »Zeit« zu veröffentlichen? Den Link schenke ich mir auch, aber es gibt Gott sei Dank auch noch Journalisten, die einen nicht völlig vom Glauben abfallen lassen. Hier ist einer, natürlich vom österreichischen Rundfunk. Der Mann ist vor Ort und dem Studiomoderator merkt man an, dass ihm dieser Bericht nicht so ganz passt:
http://apasfftp1.apa.at/oe1/news/00022F5E.MP3
Ausnahmen bestätigen die Regel:
http://web.archive.org/web/20140721014220/http://www.juergvollmer.ch:80/post/92081104389/mh17-malaysia-airlines-ukraine-russland
Nein Herr Schirdewahn, das ist auch nur zusammengesucht; Indizienkette.
@blackconti
»Das Problem ist, es gibt hier weder gut noch böse, sondern nur mehr oder weniger böse«. Sagt immerhin jemand, der vor Ort ist. Danke.
Naja, die Untersuchungen werden wohl kein eindeutiges Ergebnis bringen, weil das Unglück ganz automatisch in die (Propaganda) Schlacht beider Seiten eingebettet wird, sodass jeder Einzelne doch gezwungen ist, der einen oder der anderen Seite Glauben zu schenken, ob man das nun gut findet oder schlecht.
Zwei Gedanken hatte ich bei den Nachrichten über das Ereignis:
1. Die Antwort auf die Frage »Wem nützt es?« liefert kein sinnvolles Argument und trägt schon gar nicht zur Ursachenfindung bei. (Angebracht haben diese Frage in diesem Fall die Russen als Argument, warum es die Separatisten nicht gewesen sein können.)
2. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf unser Denken, wenn man glaubt, in großer Höhe über ein Kriegsgebiet fliegen zu können und sich dabei aus dem Geschehen heraushalten kann. Ähnlich irrsinnig wie z.B. die Genfer Konvention, in der vereinbart wurde, mit welcher Munition im Krieg getötet werden darf (spitze Geschosse) und mit welcher nicht (abgeschrägte).
Lockerbie ist bis heute – trotz scheinbar idealer Bedingungen – nicht sicher aufgeklärt. Gaddafis Libyen hatte zwar die Verantwortung und Zahlungen übernommen, später aber dann angeblich jede Schuld bzw. Unterstützung dementiert.
Die Sache mit dem Überflug über Krisen- bzw. Kriegsgebiete muß wohl bisher sozusagen alltäglich sein. Mutet schon sehr merkwürdig an, wenn man stattdessen vor dem Flug abgetastet wird wie ein Schwerverbrecher oder die Wasserflasche mit 500 ml nicht mitnehmen darf.
»We shouldn’t really be doing this, I suppose really, but look, ahm,...«
Ich bin beim Nachdenken über die sogenannte Berichterstattung zum Schluss gekommen, dass wir die Konsequenzen unseres eigenen Verhaltens nicht ertragen wollen. Unser Verhalten, mit dem wir das Medienselbstverständnis sich so entwickeln ließen, wie es nun mal ist. DIE Geister bringt kein Meister mehr weg. So ist das eben, wenn Zauberlehrlinge sich in Politik versuchen. Das in Gestalt von Mutmaßungen, Unterstellungen und Verdächtigungen daherkommende Ergbnis kann doch nicht ernsthaft überraschen. Die Empörung darüber sollte mE in Ruhe überdacht werden.
Die Empörung stellt sich für mich ein, weil ein solches Ereignis in einen ähnlichen Spekulationsdiskurs gerät wie beispielsweise eine Diskussion über eine Fußballaufstellung oder die politischen Ranküne in Parteien (sei es nun in D oder A). Alles ist praktisch der gleichen Mutmaßung ausgeliefert. Obwohl ein Unterschied besteht, wird er nivelliert: Ob ein Trainer den Spieler X in die Mannschaft nimmt hat den gleichen Rang wie die Frage, ob und wenn ja wer das Flugzeug abgeschossen hat. Die Folgen einer solchen Mutmaßungsblase sind aber andere: Durch die Emotionalisierung des Vorgangs drohen Aggressionsmuster, voreilige Dämonisierungen, usw. Das schlimme ist nicht, dass das in Blogs oder in der Kantine am Arbeitsplatz passiert, sondern eben auch in den Medien, die ihren Posten als Beobachter längst aufgegeben haben. Sie lassen – wie der »Privatmann« – nur noch das an sich heran, was ihrer These Nahrung gibt. Wenn’s denn hoch kommt, gibt es noch eine Gegenmeinung und der Rezipient ist nun gezwungen, auszuwählen. Das kann er aber gar nicht bzw. er kann dies nur, in dem er ebenfalls auf die womöglich kontaminierten Nachrichten Dritter zurückgreift.
Interessant, dass das von Video vom Sky-Reporter, der Gegenstände aus einem Koffer (mit sicht- wie hörbar schlechtem Gewissen) anfasst, gemeinhin negativ bewertet wird. Er macht doch einfach nur physisch und sichtbar das, was die Journalisten in Moskau und ihren Heimatredaktionen virtuell tun: Er wühlt.
@h.z.
Aber war das Medienselbstverständnis nicht immer (nach Aussage der Protagonisten) ein anderes? Und wird nicht noch oft genug behauptet, dass man dem Bürger erkläre, folglich eine andere Warte innehabe? — Am Ende war es vielleicht immer schon anders (also: wie heute; oder zumindest: schon einmal anders [vor hundert Jahren, womöglich])?
Vielleicht wäre auch der medialen (gemeint ist: technischen) Entwicklung mehr Raum zu schenken (wenn man eine Nachricht sofort weitergeben kann, dann prüft man nicht mehr und tut es, vielleicht auch weil »die Empfänger« warten oder man meint sie täten dies [ähnlich wie man rasch zum mobilen Telefon greift und nicht abwartet])?
Besonders übel ist, das nicht mal mehr eine Scham-zeit eingehalten wird, um aus dem Unglück ( und davon gehe ich mal aus) ein Süppchen zu kochen. Oder sollte die Politik so perfide sein, und einen Abschuss einer Zivilmaschine in ihr Ränkespiel einbeziehen. Dann allerdings sollte man seinen Wohnsitz in die nähe eines Bunkers verlegen, denn dann ist alles möglich.
@G.K.
Was Sie (auch im Beitrag) darlegen, ist meiner Auffassung nach uneingeschränkt zutreffend. Doch die an sich begründete Empörung relativierte sich für mich im Nachdenken über die untergründig wirksamen Mechanismen. Um meine Gedankenmäander grob nachzuzeichen, führe ich drei Stichworte an: Zuschauereffekt, pluralistische Ignoranz und Deindividuation. Im Kern geht es darum, sich in einem »state of mind« zu versammeln und sich darüber eine Gruppenzugehörigkeit zu sichern (nicht einmal zu versichern). Informationen und Werte spielen dabei keine tragende Rolle. Das gilt mMn für viele Lebensbereiche – unter anderem gerade auch für Kunstkritik.
@metepsilonema
Ihre Fragen führen mich zu einer weiteren: Wie wird Gesellschaft, welche ein bestimmtes Medienselbstverständnis gefo[ö]rdert hat, durch dieses Medienselbstverständnis geformt? Dieser Rückkopplungsprozess (ein in regelungstechnischer Hinsicht extrem positiver, wie ich meine) hat mich in den Bann gezogen. Er müsste konsequenterweise zum gesellschaftlichen Kollaps führen, wenn nicht entscheidende Stellgrößen (i.e. Dämpfungsglieder) nachreguliert werden. Die Presseförderung sei hier exemplarisch erwähnt.
@G.K.
Als Nachtrag noch: Dass Sie das schlechte Gewissen des Sky-Reporters gesehen, gehört und beschrieben haben, empfinde ich als Wohltat. Der entscheidende Punkt daran ist: »but, look, ahm:...« Was hat dieser Reporter wohl gedacht und nicht ausgesprochen? Wenn man bedenkt, dass andere darüber entscheiden, welches Material auf Sendung geht, schränken sich die Fortsetzungsmöglichkeiten etwas ein.
Kurz zum Sky-Reporter: Seien wir mal ehrlich. Versetzen wir uns die Lage, Reporter, Journalist zu sein. Wir stehen an / auf der Unglücksstelle. Haben Leichenteile gesehen, vielleicht zum ersten Mal. Brutale Bilder. Dann stehen wir dort. Müssen was sagen. Neben uns ein offener Koffer. Wer würde nicht hineingegriffen haben?
Verstehe ich vollkommen.
Dennoch eine Gegenfrage: Wer würde angesichts der Vorgaben des Senders und der erschütternden Eindrücke am Schauplatz den Job gekündigt haben?
Verstehe Gregor, ich hab nur die ersten 10 Minuten zugehört, bis ich verstanden hatte, was passiert ist, und dann die Propaganda weg geschaltet. Ich kenn mich ein bisschen aus mit der Luftwaffe, die Mutmaßungen der Hobby-Weltkrieger sind mir einerlei. Schreibtisch-Helden machen in Weltpolitik auf der Basis von Gerüchten.
Tja, das musste passieren. Ein Weltkrieg findet, wenn überhaupt, ja ohne dieses »Geschmeiß« statt. Da kann man den Mund schon durchaus voll nehmen.
P.S.: »Geschmeiß« ist ein Begriff von Klaus Kinski für...
@h.z.
Warum soll er den Job kündigen? So etwas gehört doch dazu. Ich glaube ernsthaft, dass z. B. auch Kriegsreporter eine gewisse Mission verspüren, den Leuten das zu präsentieren, was sie dann für die Realität halten. Reporter ist im übrigen nicht ein Vor-de-PC-Sitzer. Die gehen schon raus und wühlen. Überall. Die Frage ist nur, wann sie mit ihren Erkenntnissen herausrücken: sofort, im Affekt also oder nach einer gewissen Recherchezeit. Ich glaube, nur hierum geht es.
@h.z.
»Im Kern geht es darum, sich in einem »state of mind« zu versammeln und sich darüber eine Gruppenzugehörigkeit zu sichern (nicht einmal zu versichern).«
Die Versicherung fällt mit der Sicherung zusammen. Ähnliches kann jeder im Freundes- oder Bekanntenkreis beobachten, bei Vorkommnissen, denen vorgefasste Urteile vorausgehen und relativ klare Abgrenzungszuweisungen: Derjenige der von der Gruppe nicht gemocht wird, wird unabhängig von den Gegebenheiten rasch und ohne tatsächliche Prüfung (nur: rhetorisches Nachfragen), überführt.
Ist die Frage nach der Rückkoppelung nicht auch ein Henne-oder-Ei-Problem (vom langsamen Wandel einmal abgesehen)?
@Gregor Keuschnig
Nachdem ich nun endlich den Mut aufgebracht habe, mir einige wenige Amateuraufnahmen aus jenem Gebiet anzusehen, kann ich feststellen, dass Kriegsreporter nicht mehr gebraucht werden – das »Dokumentationsmonopol« der Presse darf wohl als gebrochen bezeichnet werden (wie lange schon? seit es youtube/twitter gibt? bislang habe ich mich darum gedrückt).
Den Job kündigen jene Reporter, deren Erkenntnisse in den Heimatredaktionen nicht berücksichtigt werden und deren allgemeine Kompetenz den professionellen Griff in den mentalen Hosenlatz anderer übersteigt. Einfaltspinsel werden das natürlich nicht tun – denen stellt sich die Frage erst gar nicht, da haben Sie schon recht.
@metepsilonema
An das Henne-Ei-Problem dachte ich anfangs auch, verwarf es dann aber wieder.
Die Metapher des Turbofan-Triebwerks gefiele mir besser. Dieses Triebwerk benötigt nur für den Start – das Überschreiten der Mindestdrehzahl – eine externe Kraftquelle. Nach Zündung hält es sich selbst am Laufen. Der innere Triebwerksteil (Presse) produziert einen Abgasstrom, heiße Luft also. Damit wird über eine Turbine der äußere Triebwerksteil, der Fan (Publikum) angetrieben. Zwischen diesen beiden Triebwerksteilen besteht keine kraftschlüssige Verbindung. Den Vortrieb, übrigens, erzeugt zum weitaus größeren Teil der Fan.
Noch bevor die sachverständigen Auswertungen der Flugschreiber – damit ist, wie bekannt gegeben wurde, Anfang August zu rechnen – vorliegen, wurde bereits der nächste Schritt in Richtung Wirtschaftskrieg auf höchster EU-Ebene beschlossen. Man darf also schlussfolgern, dass an fundierten Erkenntnissen (z.B. den exakten Ort des Katastrophenbeginns – mit allen Implikationen) kein Interesse besteht. Insofern ist auch die organisierte »Berichterstattung« entbehrlich. Aber was reg’ ich mich eigentlich auf?
@h.z.
Wir haben bezüglich der Medien bzw. der Presse zumindest zwei Probleme, die miteinander zusammenhängen oder einander bedingen (allerdings nicht zwingend):
1) Die Echtzeitberichterstattung und die damit einhergehende Informationsflut, die einerseits größer ist als in früheren Zeiten, weil dem Einzelnen eine Vielzahl an Medien zur Verfügung steht und andererseits aus den verschiedensten Erdteilen Nachrichten eintreffen. Im Wesentlichen ist das ein Resultat der zunehmenden Technisierung, die die (rasche) Weitergabe von Informationen nicht nur ermöglicht sondern auch drastisch erleichtert hat. Demgegenüber ist der Rezipient bis zu einem gewissen Grad hilflos: Er muss filtern und eigentlich schon vor dem Lesen wissen, was des Lesens wert ist (das ist manchmal möglich, aber nicht immer; ein Überblick ist kaum noch zu bekommen, man ist gezwungen Informationen auszublenden und übersieht dann womöglich Wesentliches (trösten kann man sich damit, dass man nicht alleine ist, also nicht selbst alles wissen oder beurteilen muss).
2) Die technischen Möglichkeiten verlangen (machen das glauben oder erst möglich), dass die Geschwindigkeit Priorität noch vor dem Inhalt hat (hinzu kommen ökonomische Gründe: der Erste hat womöglich die meisten Leser, die Rahmenbedingungen verändern sich, Kostendruck, Konkurrenz, und anderes...).
Die Rückkoppelung bleibt solange positiv solange die Rezipienten mitmachen und, das ist nicht unwichtig: noch mitmachen können. Einige geben sich mit Agenturmeldungen zufrieden, andere lesen gezwungenermaßen auch immer wieder schlechtes, weil sie an den Ereignissen interessiert sind und es noch nichts Besseres gibt. So weit, so gut: Je rasanter und je größer die Informationsflut wird, desto eher wird sie uns in den sprichwörtlichen Wahnsinn treiben (unsere Gehirne machen irgendwann nicht mehr mit, ich selbst würde gerne die zehnfache Menge an Artikeln lesen, es geht aber nicht...). Ich bin relativ zuversichtlich, dass schon aus diesen Gründen, die Entwicklung abflachen wird. Außerdem wird sich zeigen, dass die Bedürfnisse nach qualitativer Berichterstattung nicht verschwunden sind, es werden sich Alternativen entwickeln (Stichwort: »Krautreporter« — wie auch immer man das beurteilen mag).
[Ihrem letzten Absatz stimme ich zu hundert Prozent zu.]