Als der amerikanische Präsident Bush (sr.) 1991 in einer bis heute beispiellosen Koalition mit Unterstützung der UN eine multinationale Truppe schickte, um das sieben Monate zuvor von Irak annektierte Kuwait zu befreien, hegte sich in Deutschland Angst und Widerstand. Er bestand u. a. darin weiße Bettlaken aus dem Fenster zu hängen. Im Wahn befürchtete man, dass irakische Scud-Raketen auch Deutschland treffen könnten, was natürlich unmöglich war.
Heute braucht man keine Bettlaken mehr, sondern in den sozialen Netzwerken den Hashtag #Friedensverhandlungen. Einige Stunden nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers, der u. a. ankündigte, die Bundeswehr wieder in den Zustand der Wehrhaftigkeit zu überführen und nach der Drohung Putins, die Abschreckungswaffen in einen »besonderen Status« zu aktivieren (was auch Nuklearwaffen einschließt), plädierten friedensbewegte Menschen eindringlich dafür, »Friedensverhandlungen« aufzunehmen. Dabei sollten, so der Tenor, beide Seiten Zugeständnisse machen müssen.
Es sind nicht nur Putin-Trolle, die so etwas schreiben. Und die Diplomatie müsste tatsächlich wieder aktiviert werden. Aber wie? Kann man mit einem Aggressor, der ein Land überfallen hat, ernsthaft über dieses Gebiet verhandeln? Über was soll jetzt verhandelt werden? Einzig vorstellbar: Über den vollständigen Abzug aller russischen Truppen. Verhandlungen bedingen aber Zugeständnisse. Möchte man Putin für seinen Überfall noch belohnen? Anders ist die Formel vom »Gesicht wahren« nicht zu verstehen.
2014 bedurfte es keiner »Verhandlungen«. Man ließ Putin gewähren; die Nukleardrohung stieß er auch damals aus. Wenn etwas einmal Erfolg hat…so denkt er vermutlich.
Am Freitag erklärte der Politikwissenschafter Johannes Varwick auf n‑tv, er rate der Ukraine erst einmal zu kapitulieren, um weiteres »Blutvergießen« zu verhindern. Aus der Entfernung von einigen tausend Kilometern ist dies sicherlich eine gute Idee, damit man ein bisschen weniger besorgt in den Tag gehen kann. Wie einst Hitler in Paris würde Putin dann im Konvoi durch Kiew fahren und sich als Sieger feiern lassen. Auf die Idee, dass es Menschen geben könnte, die Varwicks wohlfeiler Papierraschelei nichts abgewinnen können, scheint er nicht zu kommen. Er plädiert damit dafür, dass die Ukraine zu einer Kolonie Russlands degradiert wird. Das ist mir ein bisschen zu viel Realpolitik.
Häufig liest man, die Ukraine solle »neutral« werden. Wie kann man nach den letzten vier Tagen verlangen, dass dieses Land sich neutral gegenüber Russland verhalten soll? Neutralität bedeutet in diesem Fall: Unterwerfung. Die Botschaft, die hieraus entstünde, wäre fatal: Das Recht des Stärkeren wird belohnt. Andere Autokraten würde es freuen. Was, wenn Nordkorea drohen sollte, die USA mit Atomraketen anzugreifen, wenn man ihm nicht Südkorea überlasse? Welches Signal würde dies für die chinesischen Ambitionen in Asien (insbesondere Taiwan) bedeuten? Weas bedeutet das für die Neu-Atommächte Indien und Pakistan in Bezug auf Kaschmir?
Eine Welt, in der ein Wladimir Putin nach einer Invasion eines anderen Landes »das Gesicht« wahren kann, wäre keine friedliche Welt. Es würden immer wieder andere Länder folgen, Moldawien etwa, vielleicht später das Baltikum als ultimativer »Kick« gegen die NATO. Damit das klar ist: Ich bin auch für Verhandlungen. Aber mit Putin sind sie unmöglich.
Liest man sich den Wikipediaartikel über die Sudetenkrise durch, erschaudert man wegen der Parallelen. Das Ergebnis der Appeasement-Politik damals war der Zweite Weltkrieg. Putin die Krimannexion durchgehen zu lassen, war ein großer Fehler – der jetzige Krieg ist die Folge.
Obama hatte keinen Fokus auf die Ukraine; für ihn war Russland eine »Regionalmacht« geworden und demzufolge der Konflikt, d. h. die Annexion ein »regionales« Ereignis. Er hatte gesehen, dass die Europäer nichts unternehmen wollten und kümmerte sich nicht mehr darum. Trump bewundert(e) Putin. Die Ukraine hielt er für unwichtig. Aber er war unberechenbarer für Putin.
Wenn es wirklich so wäre, dass man mit Putin nicht verhandeln kann, dann wird er all seine Waffen verschießen inklusive der Atomraketen. Das kann es nicht sein. Man muss mit ihm verhandeln, alles andere ist Wahnsinn und wird mit großer Wahrscheinlichkeit in einen 3. Weltkrieg führen. Man kann natürlich hoffen, dass sich seine eigene Bevölkerung gegen ihn auflehnt, aber dazu ist es sicher noch zu früh.
Ich weiß nicht, ob Sie die Nachrichtenlage gestern verfolgt haben. Macron hatte mit Putin telefoniert. Dieser hatte seine Forderungen wiederholt. Sie sind überall nachzuschlagen. Sie würden einer Unterwerfung der Ukraine unter Russland gleichkommen. Um vor sich ehrlich zu sein, sagen Sie also bitte nicht »Verhandlungen«, sondern »Unterwerfung« oder »Kapitulation«. Was das für das ohnehin fragile Rechtssystem in der Welt bedeutet, dürfte klar sein. Ich habe es oben skizziert.