Quelle: Der Bundeswahlleiter
Es wird sondiert und verhandelt. Aber die »Jamaika«-Koalition hat nur in bestimmten Regionen eine Mehrheit. Am Ende könnte sie, die scheinbare alternative scheinbar alternativlose Konstellation (Lieblingskind der Medien) die Verdrossenheit weiter Teile der Bevölkerung an den Politikbetrieb noch befördern.
Du meinst wohl „die scheinbar alternativLOSE Konstellation“. Scheinbar, denn selbstverständlich gäbe es ehrlichere Alternativen. Ehrlich wäre z.B. eine CDU/CSU/FDP-Minderheitsregierung. Für eine am Gemeinwohl orientierte Politik liesse sich ganz sicher immer eine Mehrheit finden. Natürlich ist das wishful thinking, denn jede der Jamaika-Koalitonsparteien lechzt nach Ministerposten und jede strebt danach ihre jeweilige Klientel zu bedienen. Faule Kompromisse und Deine Befürchtung zunehmender Verdrossenheit sind da selbstverständlich vorprogrammiert.
Ja, »scheinbar alternativlos« sollte es heißen; ist korrigiert. Danke für den Hinweis.
Von Minderheitsregierungen halte ich wenig. In der aktuellen Konstellation wäre sie auch dahingehend schwierig, weil am Ende niemand von einem AfD-Votum angewiesen sein möchte, denn theoretisch wäre es ja möglich, dass zum Beispiel die Digitalisierungspolitik einer CDU/CSU/FDP-Minderheitsregierung von der AfD gestützt werden könnte. Oder auf anderen Gebieten solche Bündnisse entstehen. Jetzt ist es ja so, dass solche Zugeständnisse an eine Minderheitenregierung auch immer ihren politischen Preis haben.
Und natürlich geht es auch um Pöstchen. Wenn schon die Grünen und die FDP als Mehrheitsbeschaffer für Merkel dienen sollen, dann wollen sie auch entsprechend an den Fleischtöpfen sein und nicht nur im Bundestag brav abstimmen.
Meine Prognose geht dahin, dass »Jamaika« eine Verwaltungsregierung sein wird; Regieren »auf Sicht«. Etwas, was Merkel ja per se ganz gut kann. Jeder wird ein paar Brotkrümel aus seinem Programm erhalten. Das wird dann umgesetzt und nach anderthalb Jahren weiss niemand mehr, wer welches Ministeramt hat. An den USA kann man inzwischen erkennen, welchen Schaden eine seit zehn Monaten praktisch nicht existierende Regierung anrichtet: Keinen. (Noch nicht.)
Was wäre so tragisch, wenn die AFD einer von CDU/CSU/FDP als vernünftig angesehenen Politik zustimmen würde? Klar, geht nicht, weil die AFD als Pariapartei stigmatisiert und einfach nur zu ignorieren ist. So wurde während der letzten Legislatur auch mit der Linken verfahren. Das ging soweit, dass die SPD gegen ihren eigenen Antrag stimmt, nur weil er wortgleich von der Linken eingebracht wurde. Da liegt doch die ganze Crux und der Grund für die zunehmende Verdrossenheit. Nicht mehr die Vernunft, sondern parteitaktische Spielchen bestimmen die Politik und so werden fortwährend „Gesetze“ verabschiedet, die entweder weitgehend wirkungslos, manchmal sogar contraproduktiv, oder gar verfassungswidrig sind. Jamaika wird daran nichts ändern. Und zu den USA sag ich jetzt mal nichts. Da scheint mir Dein besorgtes „Noch nicht“ ziemlich angebracht.
Ja, tatsächlich, die Parallelen sind mit Händen zu greifen. Und wer ein bisschen älter ist erinnert sich an die Stigmatisierung der Grünen in den 1980er Jahren. Die hatten ja auch linksradikale und Ex-Nazis im Schlepptau (letztere schnell weniger), aber es durfte eben nicht sein, was nicht sein sollte. Umgekehrt war die ideologische Verblendunga allerdings ebenfalls lange intakt. Ich erinnere mich an eine Talkshiw in den 1980er Jahren als Jutta Ditfurth neben einem CSU-Mann saß. Der sagte irgendetwas – und sie war ganz verblüfft und erwähnte dann sinngemäss: Ich müsste dem, was Sie sagen eigentlich zustimmen, aber Sie sind ja von der CSU...
Die Hysterie, die die Medien im Fall der AfD erfasst hat, ist ja – das kann man gut in Österreich sehen – kontraproduktiv. Wenn es zur Jamaika-Koalition kommen sollte (wovon ich ausgehe) werden die Medien (und die Opposition) immer schön darauf schauen, ob die AfD den Regierungsentwürfen zugestimmt hat oder nicht. Entsprechend wird dann die Bewertung ausfallen. Die Versuchung dieser Form von Affektpolitik ist einfach zu gross. Man sehe gerade die Berichterstattung über Trump. Da hält ein Kriegsverbrecher und ehemaliger Ex-Präsident der USA eine Brandrede gegen Trump – und alle finden das toll. Bei soviel Dummheit könnte ich schreien.
Aus der Literatur kann man vieles Lebenspraktische lernen. Ich wundere mich, dass dieses »Lebenwissen« hier beim politischen Spekulieren nicht zur Anwendung kommt. Beispielsweise kann man der Literatur entnehmen, dass der Glaube, man könne sein Leben im Griff haben, immer eine Illusion ist. An irgendeinem Punkt im Leben scheitert jeder.
Einer Regierung das Scheitern vorauszusagen, oder auch nur der Regierungsbildung, ist ein delphisches Orakel. Es kann nicht anders ausgehen, als dass man Recht behält. Mit dem wachsenden Verdruss werden Sie ebenso Recht behalten, schon weil die immensen Dilemmata unserer Zeit unmöglich sich in irgendeiner »fortschrittlichen« oder »konservativen« Idylle auflösen können. Früher die Konservativen waren sich eben des Unzulänglichen gerade bewusst.
Politik nimmt selten die bestmögliche Richtung, sondern sucht Periode für Periode den Emergency Exit, und immer unter den erschwerten Bedingungen von menschlicher Fehlbarkeit, mangelndem Zukunftssensorium, taktischer Zerstrittenheit inklusive Neid, Missgunst und Gier, Überfällen durch unvorhergesehene, wie wohl oft absehbarer neuer Schwierigkeiten usw. Wie gesagt, das sollte einem schon das Leben in doppelt und dreifach reflexiv gebrochener Perspektive lehren und die Literatur hilft einem doch, das Romanhafte alles Politischen zu sehen.
Die 4 Parteien-Sondierungsgespräche haben, so würde ich spekulieren, den Vorteil, dass die frohgemuten Konsenssucher sich mit einer Vielzahl von Blickwinkeln beschäftigen zu müssen. Sie können nicht ausweichen. Das ist schon mal heilsamer, weil dadurch die ins Wahlprogramm gerutschten Weihnachtswunschzettel sich nicht so unbefragt durchsetzen können.
Aber wie gesagt, warum unken, vermuten, kombinieren? Die Treiber der Entwicklung sind ja die Politiker nur noch am Rande. Sie sind »Die Getriebenen«, verblendet durch »Overconfidence«. Literatur-Nobel-Preisträger Robert Zimmermann sagte es einst so schön, als gerade in Peru ein Hoffnungsträger am politischen Himmel nach oben stieg: »They always start as Icarus ...«. Merkels Versuche, Taktik und Sachlichkeit miteinander zu versöhnen, sind der respektable Versuch, auf dem Boden der feststellbaren Probleme zu bleiben, in sicherer Entfernung von der Hitze der Halluzinationen, der Zukunftsängste, der Ideologien. Man kann nur hoffen, dass, wenn die Politiker endlich am Boden blieben, die Sonnen nicht auf die Erde stürzen.
Jamaika hat nur dann eine Chance, wenn die jeweils beteiligten Parteien Ressorts vereinbaren, in denen sie, und nur sie, in gewissen Grenzen eine »Macht« besitzen. Die Grünen bekommen bspw. die Ökologie, die FDP die Digitalisierung, die CSU womöglich Inneres usw. Wenn die Kompetenzen dann abgegrenzt und vereinbart sind, kann das vier Jahre funktionieren. Es wäre eher eine Verwaltung statt einer Regierung, aber das ist der Trend. Merkel hat ja bisher eher selten regiert – und wenn, dann immer populistisch (mit Ausnahme der Flüchtlingskrise) und unter Ausblendung des Parlaments und sogar ihrer Partei. Die Medien feiern das als Politik »auf Sicht«. Kann man machen – bis dann irgendwann die Frage aufkommt, wer danach ans Ruder soll.
Das hat mit Scheitern oder Nicht-Scheitern sehr wenig zu tun. Eher mit der Wahrnehmung nach draußen. Denn die Medien werden versuchen in den Schnittstellen Differenzen auszumachen und die Koalitionspartner gegeneinander auszuspielen.
Die Draufsicht des politisch nur mäßig interessierten Bürgers könnte nach vier Jahren diese sein: Es gibt nicht nur kaum noch Differenzen zwischen Union und SPD – auch die anderen Parteien sind mehr oder weniger austauschbar. Die Opposition der SPD wird kaum als seriös wahrgenommen werden, denn in den letzten 19 Jahren war sie 14 Jahre an der Regierung mindestens beteiligt.