Erst im letzten Drittel seines Buches »Im Keller« erzählt (berichtet?) Jan Philipp Reemtsma reflexiv über das ihm Zugestossene während seiner Entführung 1996. Vorher gibt es eine kurze chronologische Abfolge der Entführung, wie sie sich weitestgehend von aussen berichten lässt, gefolgt von einer chronologischen Erzählung in der dritten Person über das Sich-Ereignende. Diese beiden Teile haben zwar auch reflektierende Bestandteile, aber tatsächlich findet dies hauptsächlich im dritten Teil statt.
Reemtsmas Reflexionen sind interessant, da sie erstens von einem sehr gebildeten Menschen geschrieben sind und sich zweitens jeder Larmoyanz enthalten. Das ist sehr schwierig, und daher hoch anzurechnen. Selbstverständlich flüchtet Reemtsma nicht in griffige Stammtischfloskeln, was beispielsweise die Bestrafung der Täter angeht, wie er überhaupt Klischees vermeidet.
Gerade deswegen ist dieses Buch auch aufrüttelnde Lektüre, räumt es jedoch mit gängigen Verhaltensmustern sich liberal nennender Staatsbürger gelegentlich auch auf, ohne in dumpfen Rachepopulismus zu flüchten. So wird Reemtsma nicht müde die »absolute Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein« während der 33 Tage seines Kerkers als das Schlimmste ihm Zugeführte herauszustellen. Andere Autoren hätten hierfür ihre Todes- oder Verstümmelungsangst benannt, aber sehr glaubwürdig, in »Wieder-Holungen«;, belegt Reemtsma seine ureigensten Gefühle und Ängste. Ihm gelingt eine gleichzeitig dichte (eben wiederholende) Atmosphäre und eine entfernte, berichtende Lage durch das Wechseln der Erzählperson, letztlich also eine Spaltung: Der Reemtsma im Keller ist »Er«, der Reemtsma in Freiheit ist »Ich«. Weil dieses Prinzip (im zweiten Teil beginnend) konsequent beibehalten wird, entstehen Sätze, in denen »Er« und »Ich« – also ein und dieselbe Person – gleichzeitig verwandt werden. Mit diesem Stilmittel gelingt es Reemtsma ausserordentlich geschickt, beim Leser die von ihm empfundene Situation des »Aus-der-Welt-Seins« spürbar zu machen.
Diese Spaltung (die im übrigen den literarischen Charakter des Buches ausmacht, welchen Reemtsma nicht gelten lassen möchte) geschieht nicht nur absichtsvoll sondern auch in vollkommener Präsenz der Konsequenz. Man merkt besonders hier Reemtsmas Affinität zur Psychoanalyse und zu Freud, die so weit geht, dass er Freuds persönliche Negation des ozeanischen Aufgehobenseins in der Welt ebenfalls für sich in Anspruch nimmt, also eine Art Seelenverwandschaft in diesem Punkt entdeckt (was ein wenig elitär wirkt). Auch benutzt Reemtsma den Begriff der »Wiederholung« im Sinne Freuds als eine Vergegenwärtigung (ein nochmals Erleben) eines traumatischen Erlebnisses und rubriziert sie in punkto Intensität höher als die »blosse« Erinnerung, die »Stücke« aus der Vergangenheit hervorholt.
Larmoyanz oder Verbitterung sind nicht die Tonangeber in diesem Buch. Dennoch wirkt Reemtsmas Abrücken vom introspektiven Ich, welches das Denken der abendländischen Philosophie seit Descartes implizit voraussetzt, nicht ohne Bitternis. Seine Keller-Existenz hätte nicht zu einer »Keller-Identität« geführt, argumentiert er. Er »war« seine Gefühle – das selbstbestimmte bzw. selbstbestimmende Ich sei nicht existent gewesen. Hinzu kam, dass er ausschliesslich seines Geldes wegen entführt worden sei, also nicht aufgrund seines persönlichen Lebens bzw. dessen, was er geleistet habe, sondern reduziert auf ein gefülltes Bankkonto. Nicht unrichtig liegt Reemtsma im übrigen damit, wenn er en passant die Berichterstattung nach der Entführung in dieser Hinsicht beklagt, die genau den gleichen Masstab angelegt haben wie die Entführer.
Es kann natürlich nicht Gegenstand eines solchen Begleitschreibens sein, Reemtsmas These widerlegen zu wollen, was im übrigen auch schnell als eine Anmassung empfunden werden könnte. Dennoch erscheint der Abschied von einer individuellen Ich-Existenz mindestens mit den angegebenen Beispielen fragwürdig. Entwickelt der »Keller-Reemtsma« nicht ein Überlebens-Arrangement, mindestens soweit, wie es in seinen Möglichkeiten steht? Ist nicht alleine die Aufspaltung zwischen Ich und Er bereits ein Eingeständnis einer Individualität auch im Keller, eben nur einer anderen? Und könnte nicht just diese Argumentation, das jemand nur noch seine Gefühle »war« auch als Rechtfertigung für so manches Verbrechen dienen? Ist Reemtsmas »Aus-der-Welt-fallen« nicht letztlich nur sein »Aus-seiner-Welt-fallen« hervorgerufen durch eine brutale Nötigung?
Bewegend ist Reemtsmas Sicht auf Sühne und Strafe. Nicht auf Rache ist er aus, aber durchaus auf Bestrafung. Strafe demonstriert für ihn die Solidarität des Sozialverbandes mit dem Opfer. Wenn man will, könnte man von der Resozialisierung des Opfers sprechen. Nur oberflächliche Betrachtungen knüpfen hier Parallelen zu Organisationen, die im bewussten Gegensatz die Opferbetreuung und die Resozialisierung von Gefangenen gegeneinander ausspielen möchten.
Aber auch mit den Illusionisten eines wie auch immer vorhandenen humanen Strafvollzuges hat er es nicht, wie seine Bemerkung zeigt, wenn man seine Entführer auch nur eine kurze Zeit so anketten würde wie ihn, kümmerten sich sofort Menschenrechtsorganisationen um ihn ob dieser Behandlung. Dies ist zwar meilenweit von primitiven Rachegelüsten entfernt, demonstriert aber gerade deshalb die psychische Verletzung, die man ihm zugefügt haben muss. Und wenn er – glaubhaft – die Notwendigkeit nachweist, sich bei der Gefangennahme zu wehren (eben um seine Achtung vor sich selbst zu zeigen) und dann von einer »signifikanten moralischen Verwahrlosung« der Entführer spricht, wenn es darum geht, was sie mit ihm hätten alles machen können (Verstümmeln, Foltern, Umbringen), so greift er dennoch in den bestehenden Bewertungskanon des Rechtsstaates ein, denn gerade die Tatsache, ihn einigermassen »gut« behandelt zu haben dürfte bei einem Prozess und bei der Strafbemessung eben doch eine Rolle spielen (so etwas wie eine »gute« oder schlechte« Entführung ist für Reemtsma undenkbar, da diese Attribute als solches bereits ein Einverständnis mit dem Tatbestand Entführung impliziert).
Die Utopien der Menschheit seien ihre entstellten Ängste konstatiert Reemtsma. Neben der Aufgabe der Individualität als philosophischen Kernbegriff und Ausgangspunkt allen Denkens lässt er auch die Utopien sterben (aber vielleicht ist dies nur ein Definitionsproblem?). Spricht hier ein desillusionierter Intellektueller? Es ist gewiss etwas anderes, für die Rechte von Strafgefangenen einzutreten und dann irgendwann vielleicht einmal Opfer eines Verbrechens zu werden. Eben weil Reemtsma die pessimistische Karte nicht überreizt und in durchaus hanseatischer Kühle seine Geschichte erzählt, ist »Im Keller« als Lektüre jedem zu empfehlen, der sich für die in unserem Staatswesen nach wie vor vollkommen unklare und ungeklärte Situation der Sanktionierung von Verbrechen interessiert und engagiert. Das Buch lässt viele Fragen offen und stellt einige Fragen neu. Das ist belebend.
Was nicht klar wird
aus deinem Text, ist, ob die Aufspaltung in »ich« und »er« bereits während der Haft oder erst danach (beim Schreiben und Reflektieren) erfolgt ist. Beide Möglichkeiten bestehen.
Von der ersten liest man häufig zum Beispiel von Entführungs- oder Vergewaltigungsopfern, die während des Verbrechens irgendwann ihre eigene Persönlichkeit einkapseln. Nach der Tat kehrt diese zurück, in Krisensituationen greifen die Betreffenden aber häufig auf die zweite imaginierte Persönlichkeit zu.
Die zweite Möglichkeit ist der nachrationalisierende Versuch, sein eigenes Verhalten während der Geiselhaft zu erklären.
Die Psychoanalyse (mit Analytiker) verbindet die beiden Möglichkeiten. Der Patient ist die »gespaltene« Person, der Analytiker (eine zweite Person mit Blick von außen) versucht dies bewusst zu machen.
Zur Funktion von Strafe: ich persönlich glaube, der Resozialisierungsgedanke ist nur der weniger wichtige Teil. Am wichtigsten ist es, die Glaubwürdigkeit von Normen der Gesellschaft zu unterstreichen. Wenn man es drastisch formulieren will: In Richtung potenzieller Täter übt das eine Abschreckungsfunktion aus, in Richtung potenzieller Opfer eine Beruhigungsfunktion. Beides ist Bestandteil des Vertrages, den die Gesellschaft mit sich selbst abgeschlossen hat.
Bildschirmtechnik
Meine Lesart geht in Richtung des nachrationalisierenden Versuchs; auch weil Reemtsma seine Schreibweise entsprechend einleitet.
Ich habe hier einen Aufsatz gefunden, der dies thematisiert (interessant der Name: »Bildschirmtechnik«):
Eine Methode, die aus der Hypnotherapie kommt, ist eine Technik, die so ähnlich ist wie die Rücklauftechnik, nämlich die Bildschirmtechnik: Da sitzt man zusammen vor einem imaginären Bildschirm, läßt die traumatische Szene ablaufen, sieht den Kinofilm und drückt auf Standbild: Betrachten und beschreiben und Abstand herstellen und fühlen und Gefühle zulassen und wieder auf Abstand gehen und mal abschalten und wieder einschalten und weiterlaufen lassen, ganz langsam. Manchmal wird richtig in Zeitlupentempo versucht, die traumatische Erfahrung bildlich darzustellen, die Gefühle zuzulassen, wieder ins Bild zu gehen und Assoziation, Antiszene und Dissoziation gesteuert einzusetzen, um das Ganze erlebbar zu machen. Das ist eine hochwirksame Technik, die Ihnen aber sehr nahe geht als TherapeutIn, und zwar deshalb, weil die ganzen Affekte dicht im Raum stehen. Das ist also sehr belastend, aber sehr wirksam.
Das ist die Technik, mit der überwiegend im Zentrum für Folteropfer in Berlin gearbeitet wird. Ein sehr Prominenter hat ganz offenkundig mit dieser Technik auch gearbeitet, nämlich Reemtsma; einige von Ihnen kennen vielleicht sein Buch »Im Keller«. Reemtsma hat in Abgrenzung von und Annäherung an seine Erfahrung als Geisel offenkundig die Bildschirmtechnik mit angewendet, um sich das Ganze genau zu betrachten, aber trotzdem Abstand herzustellen. Er spricht von »dem da« im Keller und von sich selbst als jemand, der davor und danach war, um das traumatische Ereignis integrieren zu können, aber nicht das Trauma sein ganzes Leben verändern zu lassen; das ist ein Beispiel für Bildschirmtechnik.
Zur Strafe: Ich glaube nicht, dass Strafe eine Reduzierung von Verbrechen über Abschreckung erreicht. Dann müssten Länder wie die USA, in denen die Todesstrafe praktiziert wird, frei von Morden und Mördern sein – das Gegenteil ist der Fall.
Abschreckung funktioniert höchstens bei Individuen wie unsereins – und da auch nur, was Kleinkriminalität angeht. Für Dich und mich steht der Aufwand nebst zu erwartenden Sanktionsmechanismen (auch gesellschaftlicher Natur) in keinem Verhältnis zu dem Ertrag, beispielsweise eines Kaufhausdiebstahls. Wenn ich einen Gegenstand im Wert von vielleicht 20 Euro stehle, stehen dem – rational betrachtet – Nachteile gegenüber, die deutlich über 20 Euro liegen, wenn ich erwischt werde.
Wenn mich jedoch mein Nachbar permanent ärgert oder beleidigt, so kann der Mord an ihm in dem Moment für mich durchaus rational wünschenswert sein, da ich genug Gründe vor Gericht nennen kann, die mich entlasten. Die dann vielleicht 2 oder 3 Jahre Haft fallen bei solchen Affekten zunächst nicht ins Gewicht.