Eine meiner unerwiderten Lieben ist das Schachspiel. In der Jugend sog ich Eröffnungs- und Endspielbücher geradezu auf (um im Spiel mit anderen dann gar nicht mehr zum Endspiel zu kommen). Schon damals sahen die Bücher, die ich mir aus der Stadtbibliothek ausgeliehen hatte, seltsam altertümlich aus. Natürlich verfolgte ich den legendären Kampf Fischer gegen Spasski, war bei »Schach dem Weltmeister« im Dritten dabei (Karpov gegen die Zuschauer). Man schenkte mir einst einen Schachcomputer (vom Weltmeister empfohlen), der so schlecht war, dass sogar ich ihn schlagen konnte.
Früh war klar, dass ich einer fatalen Mischung aus Talent- und Lustlosigkeit (das letztere resultierte aus dem ersteren) niemals auch nur ansatzweise ein guter »Klötzelschieber« (Franz Beckenbauer, der mittlerweile entthronte Kaiser) werden würde. Bis heute weiß ich nicht, wie ich meinen Vater mindestens ein paar Mal schlagen konnte (die Notationen habe ich noch). Der »Mephisto« zeigte mir dann endgültig die Grenzen auf.
Aber dieses böse Internet! Die letzten Kandidatenturniere und Schach-Weltmeisterschaften hatte ich bei chess24.com gesehen. Ich litt 2018 mit Caruana, der ein, zwei Züge nicht fand und gegen Carlsen verlor. Im März dieses Jahres dann das Kandidatenturnier in Russland. Viele Namen kannte ich nicht; ich hatte Generationen übersprungen. Pandemiebedingt verpasste ich nun keine Sendung mehr und war enttäuscht, als der Wettkampf abgebrochen wurde. Dann kamen die zahlreichen Online-Turniere, die Carlsen mitorganisiert hatte. 15 Minuten Bedenkzeit pro Partie; mehrere Partien hintereinander pro Tag. Bei Punktgleichheit Blitz- und Armageddon-Partien. Die Kommentatoren bei chess24 wechselten. Manche waren technisch überfordert, manche legten mehr Wert darauf, sich den Chats zu widmen.
Ich schwenkte um auf den englischen Kommentar und dort saßen Jan Gustafsson und Rustam Kasimjanov. Es war wunderbar, die beiden fanden die richtige Mischung zwischen Analyse, Anekdote und Abschweifung (die drei »A«). Der verschmähte Liebhaber lernte und wurde unterhalten.
Das Wunder geschah kurz darauf: Die beiden wechselten zum deutschen Kommentar. Gustafsson ist Deutscher (seinem Englisch nach hielt ich ihn für einen polyglotten Schweden) und Kasimjanov, Schachweltmeister 2004, ursprünglich aus Usbekistan, lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Mit dem neuen Turnier, der sogenannten »Skilling Open« (im Rahmen der Onlineschach-Turnierserie »Champions Chess Tour«), sitzen sie nun von Beginn an dort und analysieren das Spielgeschehen. Wenn es mehrere Partien gibt, bekennen sie sich zur besonderen Beobachtung einzelner, wie der Carlsen-Partien. In den kurzen Pausen wird Sonja Bluhm vom »Nebenraum« zugeschaltet und analysiert, wie der ein oder andere hätte gewinnen können. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann sie die Qualität der Analysen im englischen Kommentar von Tania Sachdev erreichen wird.
Jan und Rustam analysieren frei, d. h. ohne den Schachcomputer zu befragen. Auf einem Live-Brett erscheint lediglich der »Balken«, der anzeigt, wie die Maschine die Stellung bewertet. Bei den nachträgliche Analysen von Sonja Bluhm (mit Computer) zeigt sich, dass die beiden selten etwas übersehen.
Jan Gustafsson beherrscht die Technik; die Farbe der Pfeile wird nicht mehr diskutiert, auch über das »Reiskocher«-Problem oder wie man Erdnußbutter genießt, erfährt man nichts mehr. Ab und zu versucht Gustafsson etwas über Fabiano Caruana in Erfahrung zu bringen (Rustam Kasimjanov ist einer der Sekundanten des Amerikaners). Zwar habe ich noch weniger Ahnung, wenn es um die (überschaubaren) Diskussionen um Netflix-Serien geht (es ist nicht immer was zu analysieren, insbesondere wenn es Viertel- oder Halbfinalspiele sind). Aber die schachphilosophischen Dialoge der beiden sind abseits des Spiel- und Resultatkommentars hochinteressant. Etwa wenn die neue Generation der Schachspieler, vor die Wahl gestellt zwischen positionellen und eher kombinatorischen Zug fast immer das ruhigere, positionelle Spiel wählen – der Einfluss des Trainings mit den »Engines« (vulgo Computer) schlägt hier durch. Aber welche Konsequenzen hat das für zukünftige Spieler, die nur noch mit Computern trainieren? Carlsen hatte, so wird erwähnt, immerhin zu Beginn noch Schachbücher studiert. Interessant auch Gustafssons Bekenntnis, er habe für sich den Wettbewerbsgedanken beim Schach über die Schönheit des Spiels gestellt. Gustafsson ist, wie Kasimjanov, 41, rechnet sich bereits zu der älteren Generation; kokettiert bisweilen damit.
»Jan & Rustam« erinnern an Helmut Pfleger und Vlastimil Hort von »Schach dem Weltmeister« (ohne allerdings den Kaffeehauscharme Horts). Es gibt Momente, in denen man manchmal die Spiele vergisst, auf andere Wege geführt wird. Heute und Montag (ab 18 Uhr) findet das Finale statt. Magnus Carlsen ist wieder dabei. Diesmal aber nicht sein Dauergegner Hikaru Nakamura, sondern der Amerikaner Wesley So. Es wird viel Raum geben für Jan und Rustam. Und das ist gut so.
Leider habe ich immer nur Fetzen dieser für mich großartigen Unterhaltung live miterlebt. Aber in einem der Streams, ich denke vom letzten Sonntag ging’s um die Sekundantenerfahrung bei Anand, von dessen Arbeitseifer sich Rustam sehr beeindruckt zeigte. Das ging so eine Weile bis Jan sinngemäß intervenierte: »Ja, aber wenn du durch ihn gelernt hast, wie man arbeitet,.. was hat er dann von dir gelernt?« – worauf er erwiderte: »Die Paranoia [da es Schacheröffnungen ging wohl: die Paranoia, eine Neuerung, eine Verbesserung des Gegners zu verpassen] – vor mir war Anand noch glücklich.« – Aber Paranoia sei ja manchmal auch von Vorteil glitt er dann ins Lebensphilosophische ab...
Diese pointierten Zuspitzungen sind oft ein Genuss...
Ja, diese Passage hatte ich auch mitbekommen. Wirklich großartig.