In etwa ist das die Situation mit Joachim Lottmanns neuem Buch »Happy End«. Der wichtigste Unterschied ist, dass ich, der Leser, mich sozusagen an Lottmanns Tresen gestellt habe. Und das da jemand nicht über Beziehungsprobleme erzählt, sondern bereits auf den ersten Seiten seine Frau Elisabeth, genannt Sissi, eine 38jährige erfolgreiche Linksintellektuelle, die über das Elend in der Welt in Vergangenheit und Gegenwart zielsicher schreiben kann und in »geriatrischen« Filmen heult, in den höchsten Tönen lobt. Weiter geht es um Urlaubsreisen, Lektüreeindrücke, Kolumnenschreiberei (Schwerpunkt Tierkolumnen), seine Magenschmerzen, die auf eine zu starke Vereinnahmung durch die so vergötterte Frau hindeuten und eine Geheimwohnung in Wien. Dass einem bei der Lektüre der Kopf vor lauter Müdigkeit nicht auf das E‑Book-Lesegerät fällt vermag man nur zu vermeiden, indem man diesen gelegentlich schüttelt. Eine Melange aus Hoffnung, Pflichtbewusstsein und Masochismus führt dazu, dass man bis zum Ende liest.
»Buch der Woche« oder gar »Roman der Saison« jubilieren die Feuilletons. Wie trostlos muss da eine Woche, eine Saison und auch gleich noch der Anspruch an Literatur sein, dieses Buch zum Ereignis zu adeln? Andere erkennen in diesem Buch gar eine »Satire« – eine veritable Beleidigung für die grundehrlichen Satiriker wie zum Beispiel Joachim Zelter, dessen Sprachvermögen dem von Lottmann turmhoch überlegen ist. Manche Kritiker kompensieren scheinbar ihre Midlife-Crisis mit der bedingungslosen Affirmation dieses Buches. Dabei wird man schon früh gewarnt: »Ich habe der Welt nichts mitzuteilen«, schreibt der Ich-Erzähler Johannes Lohmer schon auf der dritten Seite. Und er behält Recht. Natürlich ist das als Understatement gemeint und man stellt sich die sogenannten Kritiker vor, wie sie applaudierend vor dem Buch sitzen und in ihrem Notizbuch die filigrane Selbstironie des Autors lobend vermerken. Überhaupt ist alles in diesem Buch mindestens ironisch und wenn es zwei Sätze einmal nicht so ist, entschuldigt sich Lohmer bei seinem Publikum dafür, was natürlich auch wieder ironisch ist. Aber Ironie ist ein Gewürz, ähnlich wie Chili oder Knoblauch und nicht die Speise.
Keine Kritik über dieses Buch kommt ohne die Tätowierung Lottmanns als »Popliterat« aus. Manche glauben gar, er habe dieses Genre erfunden (selig diese Ahnungslosen). Im Gegensatz zu anderen bemüht sich Lottmann erst gar nicht, dieses virtuelle Arschgeweih des Feuilletons loszuwerden. Er macht aus der Not eine Tugend und dankt es mit Rundum- Betriebsbespaßung inklusive Namedropping – mal mit richtigen Namen (Tex Rubinowitz, Rainer Langhans, Thomas Draschan, Matthias Matussek), mal mit mühsam camouflierten. Ein Höhepunkt soll wohl die Auseinandersetzung mit Sara-Rebecka Werkmüller sein, der er mehr aus Verzweiflung denn aus Neigung oder gar Ahnung den Wolfgang-Koeppen-Preis zuspricht, den er zwei Jahre vorher nach Sibylle Bergs Empfehlung bekommen hatte.
Es dauert für den Unkundigen drei Sekunden um festzustellen, dass mit Sara-Rebecka Werkmüller Anna Katharina Hahn gemeint ist. Lottmann, pardon: Lohmer, hat nun für gefühlte 100 Seiten Stoff sich über Werkmüller, pardon: Hahn, deren Prosa, ihren Ehemann und den Suhrkamp Verlag (»ehemals bekannter, früher sehr seriöser Verlag«) zu verlustieren. In seiner parfümierten Eitelkeit druckt er seinen »Essay« (Lohmer über Lottmanns Text) aus der FAZ vom 12. April 2012 nach. Ein Vergleich mit dem Original zeigt den Einbau subtiler Änderungen. Aus dem Koeppen-Preis wird der »angesehene Koeppen-Preis« – schließlich ist Lohmer/Lottmann ja der Preisträger. Und es ist ja wirklich peinlich, dass die FAZ »Kir Royal« und »Rossini« verwechselte und »Karl Werner Gauß« druckte statt Karl-Markus Gauß. Abgesehen davon, wird Hahn zielsicher zu Werkmüller konvertiert. Fast unnötig zu erwähnen, dass das natürlich alles unglaublich lustig ist – etwa wie Topfschlagen oder Flaschendrehen.
Lottmann gibt den Hofnarr, tritt mit Wonne in Fettnäpfchen. Seine Figur bekennt sich als »bis zur Halskrause homophob«, sieht in Kalabrien »Afrikas Bevölkerungsmilliarde…im Anmarsch« und entdeckt vor allem im ungeliebten Berlin die »eskalierende Pornographisierung in Staat und Gesellschaft«. Von Harald Schmidt klaut er die Forderung des Rechts auf Diskriminierung aller. Lottmanns Schreibe ist so etwas wie eine Stellvertreterprosa für all die Meinungen von Literaturjournalisten, die diese niemals öffentlich äußern würden, weil sofort ein Konflikt mit dem Chefredakteur, dem Verleger oder einfach nur mit allen anderen droht. Er spricht seine Sottisen gegen Gutmenschen, Literaturpreise und Schriftstellerkollegen das aus wie das Kind, das den Kaiser nackt zeiht, – allerdings ist im vorliegenden Fall die Erkenntnis des nackten Monarchen längst allen bekannt.
In Wirklichkeit finden ja mehr sogenannte Kulturschaffende als man denkt Gutmenschen und Alt-Achtundsechziger »gedankenfaul«, politisch desinteressiert und anstrengend, halten Bob Dylan für jemanden, der »verwirrtes…pubertäres Zeug« »faselt«, finden Marlene Streeruwitz’ Prosa »gleich einem ächzenden Geklapper eines Fiakers« und »ohne Talent« (da ergeht es Pasolini schon besser, der »mittleres« Talent hatte), Berliner als »dünkelhaft« und »selbstverliebt« und halten IKEA-Produkte für »kryptospießig«. Begeistert ist Lohmer dagegen von Cheeseburgern TS, Benedikt XVI. (der Text spielt 2012) und natürlich Wien.
Ernst nehmen kann und soll man ihn nicht. Immerhin beansprucht die Lektüre nicht unwesentlich Lebenszeit. Sie ist zäh. Das hat weniger mit dem Duktus der Sätze zu tun (keine Angst, wer Lisas Welt in »report Mainz« versteht, kommt auch hier mit), sondern mit der unaufhörlich ratternden Pointenmaschine, die recht viele Rohrkrepierer produziert ähnlich widerspenstigen Knallbonbons auf Silvesterfeiern.
Nur selten ist es richtig witzig, etwa wenn die Partnerin von Karl Valentin »Liesl Karstadt« heißt oder auf der Trabrennbahn Berlin-Mariendorf eine Reiterin vorgestellt wird. Zuweilen gibt es hübsche Stellen, wie die Beschreibung eines scheinbar in die Jahre gekommenen Hotels in Trastevere, Italien. Oder die Episode mit der jungen Berliner Nachbarin mit ihrem »Psycho-Latein« am Ende des Buches. Da lacht man ob man will oder nicht im Affekt; nur ein bisschen unter seinem Niveau.
Man spürt förmlich den Ehrgeiz Lottmanns irgendetwas zwischen Thomas Bernhard, Rainald Goetz, Harald Schmidt und Loriot abzuliefern. Aber was für eine Tragik: Von Bernhard fehlt ihm der Furor, von Goetz das schriftstellerische Talent, von Schmidt die Belesenheit und von Loriot die Beobachtungsgabe. »Happy End« ist keine Literatur, noch nicht einmal eine Schwarte, sondern nur geschmacklich fader Analogschinken.
Nur um mich mal wieder zu melden! Sauberer Verriss, der mich, natürlich ohne eigene Kenntnis des »Analogschinkens«, zum Grinsen brachte. Keuschnig, wie ich ihn schätze.
Dem schließe ich mich an, hielt das Buch gestern in den Händen und wäre beinahe (mal wieder) dem kleinen Hype der Feuilletons um das Buch erlegen, habe es aber dann doch nicht mitgenommen.
Scheint wirklich nur ein interner Feuilleton-Hype zu sein. Der Text wird trotz Verbreitung in sozialen Medien kaum angeklickt.
Bei Lottmann denke ich immer an diese Darsteller für Namen aus dem Irgendwas-mit-Medien/Literatur-Betriebs-Proletariat, die man schon mal gehört hat und die auch immer mal wieder in einem „neuen Format“ mitkapsern, dessen Absetzung man dann aber schon wieder verpasst. Ach der war das – ein Antippen der Fernbedienung.
(Irgendwie doch auch gut, was alles auf der Welt man auf Distanz halten kann.)
Irgendwie doch auch gut, was alles auf der Welt man auf Distanz halten kann.
Ja, das ist wirklich gut. Und ich frage mich, ob man nicht irgendwann als ein Hieronymus im Gehäus (ein Idiot!?) endet, wobei dieses »enden« nicht negativ zu verstehen ist. Es ist ein Selbstschutz, erfahrungsgesättigt nach dem Motto: »Das kenne ich«. Weitere Beschäftigung dann Zeitverschwendung. Ich habe nicht viel mit Reich-Ranicki am Hut, aber irgendwann, im höheren Alter, sagte er mal, dass er nicht mehr soviel Zeit habe, dieses und jenes zu lesen. Ich selektiere jetzt schon, wobei Lottmann ein Rückfall ist, zugegeben.
Ist so ein schönes Beispiel, wie Literaturkritik aussehen könnte. Man bekommt einen kompletten »Leseeindruck« transportiert, und die Kaufentscheidung wird Dir abgenommen. Macht Spaß, das zu lesen.
Dabei die spontane Idee: wäre das nicht ein zusätzliches Kriterium für »Literatur«,–immer wenn die Meta-Erzählung (die Rezension) mutmaßlich besser ist als sein Gegenstand, ‑handelt es sich mit Sicherheit nicht um Literatur!
Auf die Idee, ein Buch von Lottmann zu lesen, wäre ich so wenig gekommen wie darauf, das nächste Buch von Karen Köhler oder Helene Hegemann mir zuzulegen. In der Tat: die Lesezeit für schlecht geschriebene Bücher ist zu kurz. Insofern läse ich letztere nur deshalb zu Ende, wenn dabei ein guter Verriß herausspringt. Ansonsten gilt: Abbrechen, Buch wegtun und in die Kellerkiste packen.
@ die_kalte_Sophie
Nette Idee aus dem Geist der literarischen Romantik. (Schlegel) Und mein Reden sowieso. Ich hoffe, daß ich nicht irgendwann eine Besprechung zu Kafkas „Prozess“ schreiben werde. Da hätte mein Vetter Franz dann ein Problem. Und das täte mir sehr leid.
Oh je, oh je, da les’ ich doch lieber Lottnann als Keuschnigg (und als seine Claqeure mit den lustigen Pseudonymen sowieso, die noch nicht mal gelesen haben, worüber sie da das Näschen rümpfen. Es geht manchem halt nichts über einen »sauberen Verriss«.).
@ Reschke: hier gibt’s keine »Claquere«, aber woher sollten Sie auch wissen, dass es außer Geld und Macht noch unzweideutige Gründe gibt, um einen Vertrauensvorschuss zu gewähren... Und: Ja, das hat sogar etwas mit Literatur zu tun. Früher nannte man es »Moral«, dann hat sich die Bedeutung des Wortes leider ins Gegenteil verkehrt. Die geheime Zutat ist trotzdem noch relevant.
@die_kalte_Sophie
Interessant, die Bemerkung zur Moral.
Ja, »Claqeure«. Man schreibt das zwar etwas anders, aber nur drei Fehler in zwei Sätzchen – das ist doch für eine Betriebsnudel gar nicht so schlecht.
Verflixt, das Französische. Claqueure. Anyway. was es mit der sog. Moral auf sich hat, merkt man immer erst, wenn man einer Fremdeinschätzung begegnet, die so gar nicht hochfliegend daherkommt. Es sind Mutmaßungen über die Motive, die Beweggründe von jemand Unbekannten, in denen dieser wiederum sich »nicht wiedererkennt«. Moral hat m.E.n. etwas mit Spiegeln zu tun. Und mit zerbrochenen Spiegeln. Die Geschichte des Begriffs ist eine »Verfallsgeschichte«, ganz so als wollte uns der Begriff sagen: Klappt immer weniger, vergiss’ mich! Brauchst Du nicht.
@die_kalte_Sophie
Die Bemerkung zu den Claqueuren galt Reschke.
Interessante These zur Moral als Spiegel. Die glaube ja, dass die Moralität im Moment sehr en vogue ist. In der Politik wird fast immer am Ende moralisch argumentiert. Fragt sich nur, wessen im Namen welcher »Moral«.
Ich bin derselben Ansicht: abseits der »konstruktiven Vorschläge«, also Hinweisen zur besseren Verwaltung, geht es in der Politik nur um Moral. Der Begriff selbst spielt dabei keine Rolle, aber die Zuerkennnung und das In-Abrede-Stellen funktioniert wie vor hundert Jahren. Am schönsten führt es im Moment Anton Hofreiter vor. »Schönsten«, ist natürlich zynisch.
Nichts an diesem monolithischen Singular (Moral) ist verloren gegangen. Stellvertretend (»im Namen«) für eine Gesamtheit, eine Majorität wird der Gegner exponiert, falsch gespiegelt und diffamiert. Ich selbst habe es heftig bei der Homo-Ehe erlebt, wo ich ausnahmsweise auf der »falschen Seite« stand. Bad News: System funktioniert. Demokratie lebt auf niedrigem Niveau.
@die_kalte_Sophie
Moralisierende Bemerkungen (Angriffe) dienen dazu eine Debatte zu entscheiden und dem »Gegner« seine Legitimationsbasis zu entziehen, vor allem dann, wenn das sachlich schwierig ist. — War das vor hundert Jahren tatsächlich genauso der Fall? Ich würde zumindest vermuten, dass unser Medienzeitalter dies weiter befördern müsste.
@ mete ...Naja! Es hat sich schon einiges verändert. Das Neue sind die Medien, das stimmt. Die »Abgrenzungsfunktion«, die Demarkation zwischen Moral/Unmoral, legitim/illegitim ist wohl dieselbe geblieben. Strategisch, argumentativ. Allerdings erscheint die Abgrenzung nun aktualitätsbezogen und »spontan«, weil sich Lager- und Klassengrenzen aufgelöst haben. Wir leben ansatzweise in einem politischen Urzustand, der sich wie eine Mischung aus Progressivität und Verwahrlosung ausnimmt. Ich vermute, daher rührt die Krise des Parlamentarismus, der fast schon rückständig gegenüber einem total beweglichen Politikverständnis erscheint. »Parteien?! Come on...«.
Welchen E‑Reader nutzen Sie denn eigentlich? Und lesen Sie ausschließlich damit?
@metepsilonema
Die heutige Form des Diskurses ist natürlich eine andere als vor 100 Jahren. Damals gab es strenge Hierarchien. Diese Hierarchien sind heutzutage fluide; was zählt ist »für« oder »gegen« etwas zu sein, unabhängig davon, ob man auf anderen Gebieten unterschiedlicher Meinung ist. Immer wird ein Konformitätsdruck erzeugt, in dem Positionen mit moralischen Konnotationen versehen, die immer sakrosankt sind. Was dem Deutschen um 1900 »der Kaiser« war, ist dem Moralisten heute die Gegnerschaft zur Atomenergie oder TTIP. Damals wie heute sind Befragungen dieser Positionen nicht nur nicht mehr gewünscht, sie werden auch sofort diffamiert und denunziert. Statt diese Formen der (vermeintlichen) jakobinischen Tugendherrschaft zu befragen, geben Medien diesem immer mehr nach, erfinden für sie homogene Gruppen wie »die Netzgemeinde«. Dass es hierbei um eine veritable Filterblase von oftmals nur sehr geringen Ausmaßen handelt, stört wohl im Getöse nicht.
@ Gregor Inzwischen weit »off Topic« (Lottmann) möchte ich noch was anmerken. Die »Erfindung« homogener Gruppen, die ein wiederkehrendes Strukturmerkmal dieses Diskurs-Getöses sind, hat mich von Anfang an SEHR gestört. Ich war zuerst verwirrt, dann besorgt, inzwischen bin ich offen bestürzt und verärgert, je nach Tagesrhythmus. Das Geschehen insgesamt erinnert mich an einen Essay-Titel von Baudrillard: Das »Zaubergefecht, oder: Die letzte Flöte!«.
Damals ging’s noch um die sog. Postmoderne. Tatsache ist, dass heute das politische Feld immer vereinfacht und synthetisch dargestellt wird, was sowohl die Frage nach der Wirklichkeit als auch die Frage nach der »Brille« bzw. Ideologie nach sich zieht. Obwohl die klassischen Fronten eingebrochen sind, konnte sich keine Rationalität, keine einheitliche Weltsicht bilden. Noch immer ist die »Simulation« gesellschaftlicher Konflikte den »wahren Konflikten« vorgeschaltet. Niemand scheint durchzudringen. Abgesehen von der gar nicht mal so verheerenden Vielfalt der Meinungen, stört mich die »unnötige Vielfalt« an Verarbeitungs-Hilfsvereinfachungen doch schon SEHR.
In aller Form entschuldige ich mich für die drei mich fürchterlich disqualifizierenden Tippfehler. Nach einem Schlaganfall ist man nicht mehr so sicher beim Schreiben. Aber keineswegs weniger sicher im Urteil: das neue Buch von Lottmann taugt wirklich nichts.
@Thomas Reschke: Gute Besserung!