Dann fällt ihm noch der Mondtag ein. Fast richtig sagte die Ärztin, Frau Doktor Wolkenbauer. Nein, er kennt keinen dieser Tage. Er lernt sie auswendig. Er hat Lücken im Kopf. Namenslücken, Freundeslücken, Familienlücken, Berufslücken, Landschaftslücken, Erinnerungslücken, Wortlücken. Er weiß nur, dass er Ministerpräsident ist. Der Ministerpräsident bekommt von der Ärztin ein Notizheft. Hier soll er hineinschreiben, was er nicht versteht. Er schreibt auch seinen Namen hinein: Claus Urspring. Schreiben kann er immerhin. Und er weiß, dass der Mann, der immer zu Besuch kommt, Julius März heißt.
Der Ministerpräsident hatte einen Autounfall und lag mehrere Tage im Koma. Er ist nun in einer Klinik. Julius März besucht ihn regelmässig, denn schließlich ist Wahlkampf. Urspring, so will es die Ärztin, soll sich erinnern, an die Kindheit, an schöne Erlebnisse. März will, dass er sich an die Landesverfassung und die Kompetenzen der Staatssekretäre erinnert. Er paukt das mit ihm. Aber irgendwie interessiert es Urspring nicht. März erklärt: Seit fünfzig Jahren wird das Bundesland von der Partei regiert. Es geht um 200.000 Arbeitsplätze. Eine Abwahl wäre eine Katastrophe. Urspring nimmt das hin, überlegt aber, was die 200.000 machen könnten, wenn sie nicht arbeiten müssten. Und irgendwann fragt er, welcher Partei er angehört. Da muss März kurz hinaus.
Ansonsten ist März unerbittlich. Er will Urspring für den Landes- und Nominierungsparteitag »fitmachen«. Seinem innerparteilichen Rivalen spielen sie ein gekonntes Theater vor. Urspring hat durch den Unfall seinen Dialekt verloren und spricht jetzt Hochdeutsch statt Schwäbisch. Dieser anfänglich als Katastrophe empfundene Zustand (der Dialekt repräsentiere Weinberg und Wiesen, ein redseliges Zusammensein, so März) wird als Resultat einer besondere effektiven Heilung ausgegeben. Da er bedingt durch eine Hüftluxation hinkt, soll er mit dem Fahrrad öffentlich auftreten. Das wird als Kampf gegen die CO2-Emissionen verkauft. Und da er mental nicht in der Lage ist, eine Rede im allgemeinen Polit-Deutsch zu halten, nimmt Hannah, die Redenschneiderin, die Worte und Phrasen einzeln auf und setzt sie dann zu einer perfekten Rede zusammen. So gibt es ein Radiogespräch mit Peter Sloterdijk, obwohl sich beide nie begegnet waren. Und so wird später die Rede auf dem Parteitag gehalten werden, zu der Urspring nur die Lippen bewegen muss, während der Ton von den präparierten Bändern kommt.
Urspring erkennt seine Frau nicht mehr. Er mag sie auch nicht besonders. Er fragt, ob er Kinder hat. März verneint (einmal – ein Fehler im Roman? – spricht März dann doch von Kindern). März’ Zureden über die Verdienste seiner Frau und die Vorteile einer glücklichen Ehe für den Wahlkampf fruchten nicht. Die Ärzte kapitulieren irgendwann vor dem Kampagnenaktionismus der Entourage, welche die dissoziative Identitätsstörung Ursprings nebst dessen systematisierte[r] Amnesie einfach ignoriert. Dieser ist nicht in der Lage, sich März, der sich fast wie ein Vater geriert und ihn als unmündiges Kind behandelt, zu entziehen. Vielleicht folgt er ihm aber auch nur, um ihm einen Gefallen zu tun.
Der derangierte Ministerpräsident fungiert im Roman als Ich-Erzähler und erinnert gelegentlich in seiner hintergründigen Verzweiflung an den Fürsten aus Jan-Peter Bremers »Der Fürst spricht«. Dennoch: Auch wenn Urspring gesteht, beim Wort »Wahlkampf« zunächst an zwei aufeinander zuschwimmende Wale gedacht zu haben, von wünschenswerten Versionen statt von Visionen spricht oder während der vom Band eingespielten Rede bei den von ihm selber gesprochenen Worte die reinste Verwunderung empfindet, sie lautmalerisch missversteht und mit den Lippen andere Wörter formt (was freilich nicht verstanden wird, da das Mikrofon abgestellt ist) – selbst in diesen Momenten denunziert Zelter seine Figur nicht. Auch die Gefahr, ihn als eine Art Schelm à la Schweijk klüger darzustellen, als er bedingt durch seinen Unfall sein kann, wird gekonnt vermieden. Stattdessen kann man das sich neu bildende Sprachvermögen nebst »gesundem« Skeptizismus förmlich heranwachsen sehen, etwa wenn er die unterschwelligen Bedeutungen der Worte »auch« (Auch so ein Unglück; Auch so einer), »denn« (Geht es denn?) oder »gut« erspürt.
Die Dialoge werden ausschließlich in indirekter Rede wiedergegeben. Hierdurch wird die Distanz des Erzählers zu dem ihm Umgebenden noch deutlicher. Und manchmal, beispielsweise wenn Urspring seine Stimme in eine zusammengeschnittene Rede hört (dessen Inhalt er nicht zu erfassen vermag), distanziert sich der Ich-Erzähler von dem tönenden Ministerpräsidenten Urspring selbst und nennt ihn beim Nachnamen. Wie die Wahlkämpfer und Ärzte Urspring einschätzen, wird deutlich, wenn sie über ihn und seine Defizite in dessen Beisein erzählen und spekulieren, über mich und Bett hinweg, wie er anmerkt. Die Abwesenheit jeglicher Pietät zeigt, dass hier jemand als Homunculus von März’ bzw. kafkaesk-unsichtbaren Partei-Interessen designt wird. Seine »Gedanken«, die er zuweilen wagt zu äußern (beispielsweise jedem Bürger einmal im Jahr ein Buch zu schenken), werden demzufolge sofort als weltfremd aufgefasst und abgelehnt. In der naiv-romantischen Unbekümmertheit, die der verunfallte Ministerpräsident an den Tag legt, zeigt Zelter um so deutlicher, wie Macht in der Politik allzu häufig nur noch als reiner Selbstzweck dient und gar nicht mehr von dem eigentlichen Hauptdarsteller sondern einer gutgeölten Parteimaschinerie bestimmt wird. Und selbst März als Motor der Kampagne scheint letztlich diesem Apparat ausgeliefert zu sein.
Natürlich kommt einem sofort die Causa Althaus in den Kopf, der nach einem Skiunfall mehrere Monate in eine Klinik verbrachte. Die Parallelen sind unverkennbar: Es gab einen Unfall, der vorübergehend kognitive Funktionen beim Amtsträger eingeschränkt haben dürfte, ein Wahlkampf nebst Parteitag stand an und die ärztlichen Bulletins klangen wie Verlautbarungen, die im Buch von Julius März abgegeben werden. Zelter gibt zu, vom Fall Althaus inspiriert worden zu sein«, bezieht sich dabei auf den Satz eines Arztes »Er weiß, daß er Ministerpräsident ist, und er will es auch bleiben« (der fast wörtlich auch im Buch auftaucht), transformiert die Geschichte jedoch nach Baden-Württemberg, womit die Kontinuität der 50jährigen Regierung einer Partei zutrifft.
Die Aufzeichnungen der Worte und Satzfragmente lassen Urspring und Hannah über das Dienstliche hinaus näherkommen. Sie wird zu seiner wichtigsten Bezugsperson, zum Anker in dieser tosenden Theaterinszenierung, die Politik nur noch im Nachplappern von Phrasen simuliert. Urspring reizt Hannahs fast provozierende Ruhe, ihre Offenheit und Spontaneität. Und Hannah gefällt die naive, fast kindliche Natürlichkeit des »neuen« Ministerpräsidenten, der dieses Amt nur noch als Rolle spielt. Alle taktisch-deformierenden Charaktereigenschaften, die man gemeinhin einem Politiker zuspricht, sind bei Urspring verschüttet.
Das Kammerspiel verwandelt sich im letzten Drittel des Buches in eine Art Road- oder besser: Bike-Movie. Hannah möchte eines Abends plötzlich noch in ein Schwimmbad. Sie fahren viele Kilometer, bis sie endlich eines finden. Als sie nach einigen Stunden zurückfahren wollen, offenbart Hannah, dass sie keinen Orientierungssinn habe. Urspring ist auch überfordert. So fahren sie einfach los und schnell entdecken sie, dass sie sich verfahren haben. Hilfe können sie nicht holen; Hannah hatte ihr Mobiltelefon vergessen und Urspring kennt März’ Nummer nicht, die zudem auch noch eine Geheimnummer ist. Es entstehen urkomische Situationen. So wollen beide ihren zunächst unfreiwilligen Ausflug genießen und wünschen nicht, dass der Ministerpräsident erkannt wird. Daher hat dieser sogar beim Frühstück seinen Fahrradhelm auf. Urspring hat zwar Kreditkarten mit, erinnert sich aber nicht an die PIN-Nummern. Er hatte beim Test in der Klinik einfach irgendeine Nummer angegeben – kontrolliert wurde das ja nicht. Mit viel Glück knacken sie eine Nummer und bekommen nun Geld am Automaten. Sie setzen ihre Reise fort, verlassen Deutschland in Richtung Schweiz. Die Rückseite einer Müsli-Packung ist ihre Karte. Die erotischen Annäherungen Hannahs an Urspring werden mit einer wunderbar-schüchternen Diskretion erzählt. Aber das Ende des Ausflugs und auch des Romans soll nicht verraten werden.
Joachim Zelters brillante Politsatire bedient sich eines feinen, aber nicht minder schneidenden Humors, der zuweilen an Loriot erinnert. Neben der indirekten Rede wecken auch die herrlichen Wortschöpfungen wie vielverheißend, Unabwendbarkeit, Erleichterungsapplaus oder Fehlervermeidungsreden Assoziationen an den frühen, ekstatischen Thomas Bernhard. Es gibt zwei Möglichkeiten, auf dieses Buch zu reagieren: Man erschrickt ob der Übereinstimmungen zwischen diesem Wahlkampf und der sich zeigenden Realität. Oder man sieht zukünftig in jedem Ministerpräsidenten einen potentiellen Claus Urspring, der sich viel lieber seiner Sehnsucht nach Erinnerungen hingeben möchte statt einen »Playback«-Wahlkampf zu führen.
Also Furcht oder Mitleid?
Ich habe mich für das Mitleid entschieden.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Eine gelungene Rezension und ich hoffe sehr, das J. Zelter morgen mit auf der Shortlist steht. Ich habe das Buch auch schon gelesen und bin wieder begeistert. Ihren obigen Ausführungen gibt es kaum noch etwas hinzuzufügen. Doch einige Gedanken, die mir beim Lesen gekommen sind, möchte ich Ihnen gerne mitteilen.
Und das im eingelinkten Interview der Schluß genannt wird, empfinde ich als unnötig und als schade. Vielleicht bin ich da auch etwas altmodisch, aber mir gefällt es ziemlich gut, mich auf einer Zielgeraden zu befinden ohne zu wissen, wie es schlußendlich ausgeht ( literarisch!).
Mit dem Hinweis auf Schiller ( Seite 88 ), der fast nebenbei fällt, als Hannah mit ihm über Bücher und Bücher lesen spricht, stolpert man gedanklich über Schillers Werk „ Über Anmut und Würde“. Der Mensch als Gefühls- und Vernunftswesen, das passt zur dargestellten Person Claus Urspring.
Und März betätigt sich als Marionettenspieler, der Ursprings Verhalten rational kontrolliert und steuert, ihn als Werkzeug für die Politik benutzt.
Auf der Bühne die Politik, die Marionettenspieler im Hintergrund, sind nicht zu sehen, die Souffleuse ( hier März) in der Versenkung, unsichtbar für die Zuschauer. Die Zuschauer bezahlen für das Stück, das sie sehen wollen und sieht jemand die Wahrheit wie auf Seite 111, ein kleiner Junge bemerkt, dass Urspring hinkt, dann wird der Augenzeuge hinauseskortiert ( erinnert mich an des „Kaisers neue Kleider“ von H.C. Andersen).
( „Über das Marionettentheater“ von Kleist würde ich zu gerne Parallelen ziehen, bestimmt hat der Autor Gedanken in die Richtung gehabt, aber ich kenne nur die online gestellten Texte, und das reicht zu einem Statement m.E. nicht aus).
Ein Schlüsselgespräch findet in meinen Augen im Röntgennebenraum statt ( S. 95 ).
Das Thema: Rücktritt. ( Mein sofortiger Gedanke: Horst Köhler, der zurückgetretene BP )
Wolkenbauer, die Ärztin sagt dort u.a.: „Ein Mensch hat zu wissen wer er ist.“ Und Wolkenbauer weiter: „ Er hat nicht nur das Recht zu wissen wer er ist, sondern auch zu erfahren, wer er einmal war und eigentlich sein möchte.“
Die Erinnerung müsse er wiederfinden, damit er erkennt, wohin er im Leben will. Nicht nur Wissen wissen; aber Wolkenbauer scheitert fast an diesem Unterfangen, weil März, der Souffleur, zu dominant ist.
Kein Wunder, dass Claus Urspring seiner Ärztin zum Abschied u.a. sagen möchte ( Seite 105 ), dass er noch nie einem Menschen mit einem solch schönen Namen begegnet sei und wie sehr ihm der Name Wolkenbauer gefallen würde.
Mir gefällt der Name in diesem Zusammenhang auch sehr gut: Man baut sich etwas aus Wolken. Träume, Visionen, auch wenn sie sich wieder verflüchtigen, aber es kommen ja wieder neue Wolken, aus denen man sich etwas bauen kann...
Ja, das Buch bietet sehr viele Querverweise, die zu Deutungen einladen. Das macht ja auch seine Qualität aus. Die Parallele zu Kleist ist auch greifbar, da Urspring ja durchaus in den »Stand der Unschuld« zurückversetzt scheint – nur eben nicht durch das Essen des Baum der Erkenntnis, sondern durch einen Unfall.
Manche sind allerdings ein bisschen aufgesetzt, weil ein bisschen zu offensichtlich (bspw. die zu des »Kaisers neue Kleider«).
Buchpreis
Die Jury zog es vor, das buch nicht auf die Shortlist zu setzen und bevorzugte stattdessen die Gouvernantenprosa von Judith Zander oder den affektierten Wawerzinek (beides EIndrücke vom Bachmannpreis; die Bücher nicht gelesen, daher vielleicht ein bisschen ungerecht).
Wenn das die besten Bücher des letzten Jahres wären, stünde es nicht gut um die deutschsprachige Literatur. Zum Glück ist es anders.
Nur ganz kurz geantwortet, da ich gerade von einem Kongress komme und schon wieder auf dem Sprung auf einen anderen Arbeitsplatz bin:
Jammer-jammerschade! Zelter gehört zu den Autoren Deutschlands, die man festhalten muss, die gehört-gelesen werden sollten, da er eine Sprache spricht-schreibt, die nicht nur der Uni-Professor versteht, sondern auch die Bandbreite interessierter LeserInnen, die anderswo im Berufsleben/Leben stehen. Und das die Altersstufe rauf und runter. ( Ich habe mich bei verschiedenen Zelter-Lesungen als Zuhörerin umsehen können).
Jedes Buch von ihm hätte den Deutschen Buchpreis verdient!