Zwölf Aufsätze, Berichte (manchmal sind es auch Reportagen) und zwei Vorworte von acht Autoren – »Die Taschenspieler« versammelt Belege über die zunehmende Entfremdung zwischen Staat bzw. Regierungsmacht und dem »normalen« Bürger. Und das sehr aktuell – Redaktionsschluss war Anfang September 2010. Schwerpunkt dieser Betrachtungen ist Baden-Württemberg – das ist bei Klöpfer & Meyer, wo dieses Buch erschienen ist, kein Wunder. Es gibt allerdings auch drei Ausreisser: einen Beitrag über einen italienischen Giftmüllskandal, der über jahrzehntelange Versenkungen von Giftmüllschiffen in der italienischen Adria berichtet, ein Lehrstück in Sachen Atommüllentsorgung am Beispiel der Deponie Asse (interessant hier die Attribute: von Versuchseinlagerungen über »Forschungsbergwerk« bis zur Endlagerstätte reich[t]en die offiziösen Zuordnungen ) und am Ende einen sehr informativen Beitrag von Markus Köhler über die Problematik des fliegenden Gerichtsstands im Presserecht, welcher dazu dient, unliebsame Presseartikel durch einstweilige Verfügungen von Presserechtsaktivisten, die an jeder Ecke das Persönlichkeitsrecht von Mandanten verletzt sehen (Stichwort: Haarfarbe des Ex-Bundeskanzlers und andere Kleinigkeiten), vor allem vor dem Hamburger Landgericht zu beklagen – was auch zumeist gelingt.
Nicht nur Köhlers Beitrag besticht durch eine zumeist angenehm unaufgeregte Sprache, die sich weitgehend sowohl übertrieben-ironischer als auch hysterischer Untertöne enthält. Das gelingt Josef-Otto Freudenreich in seiner Darstellung der »Stuttgart 21«-Problematik schon gleich zu Beginn. Der Leser erfährt hier fast nebenbei durchaus interessante Details, die in der tagesaktuellen Diskussion fast untergehen. Etwa, dass Peter Conradi von der SPD ein Alternativkonzept »K 21« vorgelegt hat – welches den Kopfbahnhof Stuttgart erhalten und ihn gleichzeitig modernisieren will. Der fast durchgängig sachliche Ton (der lediglich die anfängliche Zustimmung der Grünen für das Projekt nicht thematisiert) führt dazu, die Verbissenheit der zugespitzten »Argumente« beider Seiten zu erkennen: Einerseits ist es merkwürdig, dass von einem solchen Bahnhofsprojekt die Zukunft einer Stadt und Region abhängig gemacht wird. Hier wäre eine rhetorische Abrüstung durchaus angebracht. Und andererseits verblüfft es schon, wie die Gegnerschaft zu diesem Projekt erst in den letzten Monaten politische und vor allem mediale Aufmerksamkeit erlangte, so dass man sich fragt, wo die Gegner bei den entsprechenden institutionellen Beschlussfassungen waren.
In einem anderen Beitrag konfrontiert Rainer Nübel in einer gar nicht so polemischen Polemik die ganz alltägliche Hybris der Finanzwelt mit dem Anspruchsdenken des einzelnen Individuums:
Überdimensionierte Egos, Hybris, Hochmut, Geltungssucht, Gier und Größenwahn – wie komfortabel wäre es doch, wenn all diese negativen Eigenschaften nur den bösen Finanzmanagern zuzuordnen wären. Den Ackermanns dieser Republik. Vielleicht auch noch den Zumwinkels, von Pierers oder Würths. Als Fanal dafür, wie weit es mit dieser so genannten »Eilte« gekommen ist – oder wie tief sie gesunken ist. Und als beruhigender Beleg dafür, dass dies alles mit der Gesellschaft an sich nichts zu tun hat. Und noch weniger mit einem selbst. Darin steckt ein großer Irrtum. Und bewusstes Missverständnis. Die Politik, aber auch ein Großteil der Medien tun wenig bis gar nichts, diese Fehldeutung zu korrigieren. Weil sie sonst Gefahr laufen, selbst in den Spiegel blicken zu müssen.
Nübel schont niemanden und stellt diffundierende Hyper-Egoisierung und Größenwahn in der gesamten Gesellschaft fest. Kleinanleger, die Traumrenditen hinterherjagen. Oder Menschen, die in Psychosekten ihr Heil suchen, die ihnen die Erlangung eigener Göttlichkeit versprechen.
Leider kann Nübel in seinem Beitrag über mordende Wattestäbchen die Erwartungen nicht mehr erfüllen. Zu sehr gefällt er sich in der Pose desjenigen, der den Ermittlungsbehörden unterstellt, man hätte schon sehr viel früher wissen können, ja müssen, dass das »Phantom«, welches u. a. den Heilbronner Polizistenmord begangen haben soll (und in zahllose andere Verbrechen involviert gewesen sein sollte) tatsächlich nur ein Phantom war – eine Mitarbeiterin, die auf den Wattestäbchen ihre DNA versehentlich hinterlassen hatte. Am Ende dieses Beitrags wird dann auf eigene Faust ermittelt und Korrelationen zwischen dem Mord an drei Georgiern und dem immer noch unaufgeklärten Verbrechen von Heilbronn angestellt.
Susanne Stiefel zeichnet das Portrait einer ehemaligen Personalleiterin, die vom neuen Vorstand eines Mittelständlers nach jahrzehntelanger Betriebszugehörigkeit weggeekelt wurde und deutet dies ein bisschen einseitig als frauenfeindlichen Akt. Ihr Portrait über den baden-württembergischen Bildhauer und »Nervensäge« Peter Lenk gelingt da deutlich besser. Meinhard Heck schildert die Finanzaktionen der »Göttinger Gruppe«, die zur Kleinanlegerfalle wurde und thematisiert vor allem die politische Unterstützung breiter CDU-Kreise für dieses dubiose, verschachtelte Firmengeflecht, für die sogar Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz eine Art Empfehlung aussprach, womit tausenden Anlegern in Wahrheit windige Finanzobjekte aufgeschwatzt wurde. Zunächst waren die einkalkulierten Verluste als Steuersparmodelle ja noch willkommen – später stellte es sich dann heraus, dass die Gewinnversprechen zum Ende nicht erfüllt wurden: Die Verluste wurden garantiert. Die Gewinne aber nur prognostiziert. Hier greift dann interessanterweise wieder Nübels Aufsatz über die individuelle Gier (und das Mitleid des Lesers hält sich in überschaubaren Grenzen).
In den BW-Sumpf dringt auch Andreas Müller ein, der sich Gandolf Fleischer und seinen Fleischerismus vornimmt. Gerade die Causa Fleischer zeigt, wie eine »bürgernahe« Gegnerschaft zu einem Großprojekt (hier: die Ausbaggerung des Rheinvorlands) auch ins Gegenteil umschlagen kann: Der für das Projekt ausgebaggerte Kies hätte den lokalen Kiesmarkt durcheinandergebracht, weswegen man sich gegen vernünftige Gegenmaßnahmen wehrte, um die Oligopolstellung der Anbieter zu verteidigen und den Preis künstlich zu stützen.
Wolfgang Messners Aufsatz über das »Cross-Boarder-Leasing«, dem in den 90er Jahren etliche Kommunen auf den Leim gegangen sind, ist einer der Perlen dieses Buches. Zumal diese tickenden Zeitbomben, die da einigen Städten und Kommunen drohen, viel zu wenig bekannt sind. Das Prinzip funktioniert so: Eine Stadt verkauft für 99 Jahre an einen US-Investor einen Teil ihrer Infrastruktur (bspw. Wasser- oder Klärwerke). Man erhält als klamme Kommune zwischen 2 und 8% der Verkaufssumme sofort ausgezahlt. Nach 25 oder 30 Jahren kann sie die Stadt zurückkaufen, der US-Investor hingegen bei den amerikanischen Finanzbehörden Steuervergünstigungen geltend machen. Es gab in den US-Bundesstaaten Delaware und Connecticut Hundertausende solch dubioser Firmen. So erreichte die Stadt Düsseldorf ihr Signum »schuldenfrei«. Das dicke Ende kommt erst, wenn zurückgezahlt wird – oder der Vertragspartner in den USA die Optionen weiterveräußert. Auch eine Zurückstufung der Bonität einer Bank kann schwerwiegende Folgen haben. Es wird ein sogenanntes »Kreditereignis« ausgelöst, was für die Kommune bedeuten kann, dass sie finanziell einzuspringen hat. Für einige Gemeinden stellte so die Lehman-Preite 2008 eine Art Super-GAU dar. Leider bleibt der Artikel ein bisschen nebulös, warum einige Kommunen sich von den Verträgen lösen konnten (und mit einem blauen Auge davonkamen) und andere nicht. Sicher ist wohl, dass die rechtlichen Voraussetzungen in den USA für solche Transaktionen nicht mehr existieren.
»Die Taschenspieler« ist ein lesenswertes weil vor allem polyphones Buch mit durchaus zeithistorischer Perspektive: In zehn Jahren wird man vermutlich über die beschriebenen Mißstände lächeln.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.