»Der Kern moderner Demokratien ist die Repräsentation«. So steht es auf dem Rückdeckel des Buches »Repräsentation in Demokratien«. Aber was bedeutet das? Wie verstehen die Repräsentanten ihre Repräsentation? Wem gilt sie? Nur den Wählern oder gar allen, die sich im geografischen Bereich des Repräsentanten befinden? Welcher Art und welchen Inhaltes sind die handlungsstrukturierenden Konzeptionen von Repräsentation in demokratischen Systemen? Und: Gibt es Unterschiede zwischen den Repräsentationsmodellen beispielsweise in Deutschland und den USA?
Der Autor Dr. Jürgen Petersen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Frankfurt und Research Associate am dortigen Zentrum für Nordamerika-Forschung (ZENAF). Er versucht diese Fragen zu beantworten und bedient sich dabei eines denkbar einfachen Mittels: der Befragung. Dabei steht er vor dem Dilemma, ebenfalls ein repräsentatives Ergebnis vorzulegen, was er durchaus thematisiert, wenn auch nicht ganz überzeugend (dazu später).
Petersen hatte zwei mittelgroße Universitätsstädte ausgesucht – Ann Arbor in Michigan/USA und Göttingen in Niedersachsen/Deutschland. Aus diesen »durchschnittlichen« Städten wurden Politiker in sogenannten Eliteninterviews interviewt. Die Befragungen wurden in offenen, narrativen und akteurszentrierten Gesprächen durchgeführt (sie dauerten je nach Verlauf im Schnitt ca. 75 Minuten [das variierte jedoch von 20 bis 140]), aufgezeichnet und anschließend transkribiert. In Göttingen wurden sie im November und Dezember 2002, in Ann Arbor im März und April 2003 vorgenommen. Es wurden jeweils 6 Mitglieder des »Stadtrats« (bzw. »City Councils« [bemerkenswert: der »City Council« in Ann Arbor bestand aus zehn Mitgliedern – der vergleichbare Stadtrat in Göttingen aus 46]), 3 Mitglieder des »Michigan House of Representative«, 2 Mitgliedern des »Michigan Senate« und äquivalent dazu 3 Mitglieder des niedersächsischen Landtags befragt. Den Abschluss bildeten je 2 Interviews von Bundestagsabgeordneten bzw. dem US »House of Representatives«.
Ausschnittweise wird im Buch aus den Interviews zitiert. Dabei mag es zwar aus Gründen der Authentizität vorteilhaft sein, die Aussagen der US-Politiker (wie auch Passagen aus angelsächsischer Fachliteratur) im englischen Original zu zitieren, für den deutschen Leser ist dies jedoch mindestens ärgerlich, gelegentlich eine Zumutung (im umgekehrten Fall dürfte schließlich auch niemand einem amerikanischen Leser die Aussagen der Göttinger Politiker in deutscher Sprache »zumuten« wollen). Ebenfalls außergewöhnlich ist, dass die zitierten Politiker mit Pseudonymen bedacht werden, was im Kleingedruckten des Buches verschwindet. Dabei werden zahlreiche Kriterien benannt, nach denen sie mit ihren Realnamen vermutlich identifizierbar wären. Dass gewählte bzw. sich zur Wahl stellende Repräsentanten Aussagen zu ihrem jeweiligen Verständnis von Repräsentation nur unter Pseudonym abgeben, erscheint sehr ungewöhnlich. Warum so verfahren wurde bleibt von Petersen unthematisiert, was überraschend ist, da er ansonsten jede Kleinigkeit bis in den letzten (wissenschaftlichen) Winkel analysiert und ausleuchtet.
Unmöglich, die zahlreichen Verweise des Autors in die theoretische politik-wissenschaftliche Literatur über Repräsentation in Demokratien, die er in diesem Buch auffächert und später dann zum Instrumentarium seiner Auswertungen macht, zusammenfassen zu wollen. Der Kern des Buches – die Interviews und deren kontextuelle Einbettung in die jeweilige politische Kultur des Landes – liegt zwischen Seite 80 und Seite 200. Danach werden auf etwas mehr als einhundert Seiten detailreiche und kluge Analysen angestellt.
Die grundlegenden Differenzen zwischen dem Verständnis von politischer Partizipation des Bürgers zwischen den USA und Deutschland treten schon während der Wiedergabe von Kernaussagen der Interviews der jeweiligen Repräsentanten zu Tage. Petersen verschärft diese noch, da er insbesondere bei seinen Ausführungen zu den Äußerungen der deutschen Politiker einen leicht abschätzigen Unterton anschlägt. Gegen Ende des Buches gibt er diese subjektive Sichtweise, die deutlich mehr Sympathien für das amerikanische »System« erkennen lässt, offen zu. Ob Petersen dabei die wissenschaftliche Objektivität verletzt, mögen andere beurteilen. Für den an deutscher Politik interessierten Leser lassen sich dessen ungeachtet erstaunliche Einsichten gewinnen.
Sachpolitiker, Bürgerrepräsentant, Politikgestalter
Im Laufe des Buches entwirft Petersen drei »Politikermodelle«: Sachpolitiker, Bürgerpolitiker oder Bürgerrepräsentant und Politgestalter (naturgemäß kommen diese Typologisierungen vereinfachend daher; gewisse gegenseitige Durchdringungen werden konzediert und auch thematisiert). Der Sachpolitiker ist vor allem ein deutsches Phänomen. Er entwickelt eine deutliche Affinität zum Politiker als Beruf, der sich sehr stark an Partei und Fraktion bindet und sich diesen Organen verantwortlich fühlt. Die Bürger sind hier letztlich nur »Entsender«. Der Repräsentant sieht sich dabei weniger als Repräsentant des Bürgers, sondern seiner Partei.
Interessant ist, dass dies bereits auf der Lokalebene in Göttingen gängige Praxis zu sein scheint. Schon hier sehen sich die Stadtratrepräsentanten als professionelle Akteure (auch wenn dies mit ihrer finanziellen Vergütung nicht unbedingt zusammenpasst). Mit Pitkin sieht der Autor dieses Denken als Freibrief für Handlungsfreiheit des Repräsentanten ohne Responsibilitätsverpflichtung bzw. ohne Verantwortlichkeit dem »einfachen« Bürger gegenüber. Hiermit wird ein typisches Merkmal deutschen Politikverständnisses offenbar, was Petersen fast bis zur Schmerzgrenze immer wieder betont. Parteien in Deutschland nehmen genau jenen Platz zwischen Staat und Gesellschaft ein, von dem aus sie einerseits die Bürger politisch mobilisieren und integrieren und andererseits den Staat gesellschaftlich öffnen und demokratisieren. In den Fraktionen findet der Austausch untereinander statt, da niemand zu allen Themenbereichen ausreichend informiert ist. Ein wesentlicher Bestandteil dieser sachpolitischen Herangehensweise ist der »Experte«. Sachpolitik folgt Expertenanhörungen und wird demzufolge als »vernünftig« betrachtet. Auf die Problematik dieses Expertentums geht Petersen am Rande ein.
Viel seltener finden sich in Deutschland die anderen beiden Repräsentationsformen. Da wäre zunächst der Bürgerrepräsentant, der in Ann Arbor vor allem auf lokaler Ebene den Status als Politiker fast empört ablehnt und sich sogar gegenüber »den Politikern« abgrenzt. Immanent sind ihm Ehrenamtlichkeit, kurze Wahlperioden, ein starker Einfluss von Bürgern auf politische Entscheidungen, hoher Grad an Offenheit und Öffentlichkeit politischer Prozesse, die eigene Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit. Der Bürgerrepräsentant sieht sein Amt als temporäre Übernahme einer Bürgerpflicht. Meist geschieht dies ohne direkten sachlichen Überbau und ist rein personenbezogen. Zwar werden die Parteien in den USA nicht ganz ausgeblendet (sie finanzieren und organisieren beispielsweise Wahlkämpfe), aber sie spielen in keinem Fall eine derart dominante Rolle wie in Deutschland.
Schließlich gibt es noch den Politikgestalter, der eine gemeinwohlorientierte Suche nach gesetzgeberischen Kompromissen für die jeweilige obere Ebene…verbunden mit der Konzeption politischer Inhalte im Sinne konkreter, pluralistischer Interessen sucht. Er ist der klassische Kompromisssucher und würde damit fast dem diskursethischen Ideal entsprechen.
Der Bürger ist nur Wähler
Im weiteren Verlauf der Besprechung der Interviews aus Ann Arbor ergibt sich durchaus eine Verschiebung des Repräsentationsgedankens. Ein wenig grob zusammengefasst kann man sagen: Je höher die Position ist, die vertreten wird (also auf Landes- oder gar Bundesebene), je ferner wird der Gedanke, unmittelbar Repräsentant der Bürger (oder auch nur Wähler; ein im Buch durchaus thematisierter Unterschied) zu sein. Diese durchaus vorhandene Differenz fällt in Ann Arbor deutlicher aus als in Göttingen, weil dort bereits auf lokaler Ebene der einzelne Bürger eher als störend empfunden wird (was an den unterschiedlichen Äußerungen zu persönlichen Kontakten abzulesen ist – in den USA ist dies selbstverständlich und erwünscht, in Deutschland eher nicht). In Deutschland wird der »unorganisierte« Bürger eher als Gegenpart zum Politiker betrachtet. Anliegen soll er wenn möglich in Petition(en) vorbringen, was ihn letztlich auf eine Bittstellerfunktion reduziert.
Skeptisch betrachtet man in Deutschland auch Bürgerinitiativen, die sich (meist auf lokaler Ebene) einem Anliegen dezidiert widmen. Nicht ganz unberechtigt formulieren die Politiker ihre Vorbehalte dahingehend, dass hier meist nur eine Minderheitenmeinung artikuliert wird (das Wort der »schweigenden Mehrheit« spielt in diese Richtung). Wenn die Initiative eine gewisse Größe erreicht hat und das Anliegen Widerhall findet, wird eine parteipolitische Vereinnahmung versucht. Gelingt dies nicht, schwindet das Interesse wieder. Erst auf sehr großer, institutionalisierter Ebene werden dann politische Forderungen wieder zur Kenntnis genommen. Zusammengefasst besteht in Deutschland eine Distanz zur breiteren politischen Partizipation durch die Bürger, sofern sie sich nicht in den dafür vorgesehenen Institutionen (vor allem Parteien, aber auch Gewerkschaften, Verbänden oder Organisationen) stattfindet. Diese Fixierung Institutionen gegenüber spiegelt sich ja auch in der Ansicht, dass, wer an Politik mitarbeiten möchte, dies in einer Partei zu tun habe. [Diese Fixierung auf Institutionen lässt sich schön bei Christoph Möllers nachlesen.]
Die Ausnahme ist die alle vier (oder fünf) Jahre stattfindende Wahl. Erstaunlich das offene Eingeständnis, dass man Wahlkämpfe als »Informationsveranstaltungen« für den Bürger sieht, der für die nächste Legislaturperiode die politische Richtung vorgibt. Nach Abgabe der Stimme ist dann sein Teil »erledigt«. Nur als Wähler ist der Bürger aktiver Souverän. Dies hat, wie Petersen glaubt herausgefunden zu haben, mit einer grundsätzlich eher negativen Sicht auf den »Bürger« zu tun: Ihm wird sowohl das Interesse an Politik wie sachpolitisches Wissen abgesprochen. Zumindest die Interviews mit den Göttinger Politikern legen diesen Schluss tatsächlich nahe.
Das Gemeinwohl in den USA und Deutschland
Die Unterschiede zwischen der politischen Repräsentationskultur in den USA und Deutschlands sind ohne die jeweilige Gemeinwohldefinition nicht erklärbar. Petersen geht hierauf ausführlich ein und diese Kapitel gehören zu den interessantesten in diesem Buch.
Bei den Göttinger Politikern fällt der Ausdruck kaum; er wird höchstens indirekt benannt oder umschrieben (beispielsweise: »das große Ganze«). Desweiteren ist auch die Definition des Gemeinwohls – oder des »großen Ganzen« – arg unkonkret und wird mit spitzfindiger Floskelhaftigkeit abgehandelt. Sachgerechte Politik, so wird suggeriert, ist an sich gut für den Wahlkreis wie für Deutschland, für die Bürger im Wahlkreis wie für die Verbände auf Landesebene – und damit auch gemeinwohlorientiert. Hier sind es weniger die Repräsentanten selbst, welche gemeinwohlorientierte Sachpolitik für alle herstellen, sondern vielmehr die Institutionen des politischen Raumes insgesamt. Es wird in und mit Institutionen Politik für die Bürger gemacht, nicht unbedingt mit ihnen (immer sofern es sich um »unorganisierte« Bürger handelt). Sachgesetzlichkeit statt Volkswillen (wobei in diesem Moment insinuiert wird, dass Volkswillen erstens homogen und zweitens als imperatives Mandat existiert und dessen Umsetzung immer wünschenswert ist). Oder, um es positiv zu formulieren: »Verhandlungsstaat« statt Durchsetzung ideologischer Politikentwürfe.
Petersen arbeitet heraus, dass der Begriff des Gemeinwohls auch aus historischer Sicht in Deutschland immer noch ambivalent betrachtet wird, wenn nicht gar negativ konnotiert ist. Beleg dafür ist auch die teilweise reflexhafte Ablehnung von Robert Habecks Schrift über einen neu formulierten gemeinwohlorientierten, linken Patriotismus. Liest man Petersens Ausführungen genau, so könnte man vermuten, dass er glaubt, dass diese Reserviertheit dem Gemeinwohldenken gegenüber der Politik nicht besonders unangenehm ist. Dies steht im Gegensatz zur fast emphatischen Gemeinwohl-Definition in den USA, der in nahezu allen gesellschaftlichen Schichten breiter Konsens ist.
Dieser Kernbestand an Ideen des »American creed« umfasst die Ideale von Freiheit, Gleichheit, Anti-Etatismus, Individualismus und Populismus – kurz und griffig als »Amerikanismus« bezeichnet. Dieser Amerikanismus ist in den USA unumstritten und, populär formuliert, Ziel und Basis allen politischen Handelns. Der frappierendste Unterschied zum deutschen (Neo)-Korporatismus liegt im amerikanischen Anti-Etatismus; in Deutschland spielt der Staat eine dominante Richtungs- und Fürsorgerolle, was in den USA unbekannt und auch weitgehend ungewollt ist.
In den USA gibt es nun verschiedene Interpretationen dieses Grundkonsenses, die sich in Phasen von Konflikt und Reform pragmatisch gegenseitig durchdrungen haben und nicht immer einfach zu trennen sind. Petersen untersucht ausführlich und packend die beiden Hauptinterpretationen: eine »liberale« und eine »republikanische« Variante. (Der Autor weist darauf hin, dass die beiden Begriffe ideengeschichtlich und nicht parteipolitisch zu verstehen sind; auch wenn es durchaus möglich ist, aufgrund der Charakterisierungen parteipolitische Zuordnungen vorzunehmen.)
Die republikanische Variante verwendet sehr stark den Begriff der homogenen ‘community’, die als konstituierender Maßstab gilt. Kern des positiv besetzten republikanischen ‘community’-Begriffs ist: Der Bürger muss, ebenso wie der Politiker, die Gemeinschaft als ’seine’ politisch-soziale Einheit wahrnehmen und eine solidarische Identität mit ihr generieren. Während der Liberalismus darauf vertraut, dass aus dem interessengeleiteten Handeln der Einzelnen in der Summe das Beste für alle entsteht, so ist die republikanische Variante auf eine explizite Vorstellung des Gemeinwohls ausgerichtet. Statt Pluralität soll Einigkeit die Willensbildung der Gemeinschaft bestimmen.
In der republikanischen Variante wird das Gemeinwohl…durch zivilgesellschaftliches Engagement aktiv hergestellt, während es in der liberalen Version im Regelfall aus der Konkurrenz aller Interessen automatisch entsteht und die Politik nur im Einzelfall regelnd eingreifen soll. Insofern stehen sich in der liberalen und der republikanischen Tradition zwei verschiedene Konzeptionen des Gemeinwohlbegriffes gegenüber. Einerseits ein prozeduraler, pluralistischer Begriff des ‘public interest’, andererseits ein appellatorischer, substantieller Begriff des ‘common good’.
Die zentrale Differenz der zwei idealtypischen Konzeptionen von Repräsentation ist die Konstruktion des Verhältnisses zwischen gesellschaftlicher und staatlicher Sphäre, das eng mit dem unterschiedlichen Bild des individuellen Bürgers verbunden ist (wobei in republikanischer wie liberaler Tradition Demokratie von ‘unten’ her, vom Bürger im Wahlkreis gedacht wird). Liberal, so Petersen, wird hier als negative Freiheit definiert. Immanent ist ihre deutlich konzeptionelle Distanzierung von Gesellschaft und Staat, von Bürgern und Repräsentanten. Die republikanische Variante (die Petersen durchaus mit kommunitaristischen Elementen durchdrungen sieht) verfechtet eine »Programmatik« der positive[n] Freiheit zur Selbstregierung, was eine gleichberechtigte und starke lokale Beteiligung aller Bürger…in der ‘community’ bedeutet. Dabei wird in beiden Konstruktionen eine aktive Teilnahme am öffentlichen Leben gefordert. In der liberalen Reflexion soll sie aber auf die Gesellschaft beschränkt bleiben, während sie in der republikanischen genuin politisch gedacht wird.
Auswirkungen auf die Repräsentationskultur
Überträgt man diese Weltanschauungen (liberal oder republikanisch) auf die Repräsentationsproblematik, so ergeben sich interessante Auswirkungen. Liberal konstruierte Repräsentation bleibt…im politisch-kulturellen Ideal voller Widersprüche: Der Bürger ist einerseits politischer Interessenmaximierer, wird aber als Wähler auch zum Kontrolleur; er kontrolliert sowohl die Einhaltung der Interessenvertretung als auch des liberalen Versprechens, als Repräsentant neutraler Vermittler zu sein; der Repräsentant ist Politikgestalter, dessen individualistische Selbstsicht als möglichst unabhängiger Akteur es ihm ermöglicht, in Distanz zu eigenen und fremden Interessen eine Lösung gesellschaftlich regelungsbedürftiger Probleme zu suchen; die Suche soll dem Gemeinwohl dienen, aber gleichzeitig nicht eine spezifisch inhaltliche Gemeinwohlvorstellung präferieren. Die weltanschaulich homogene community des republikanischen Modells kennt diese Widersprüche naturgemäß nicht.
Vereinfacht lässt sich also sagen: der Bürgerrepräsentant folgt eher dem republikanischen, der Politikgestalter mehr dem liberalen Modell. Der »deutsche« Sachpolitiker findet innerhalb dieser Kategorien keine direkte Entsprechung, tendiert jedoch trotz der herausgestellten großen Differenzen und dem Hang zur Über-Institutionalisierung zum heterogenen liberalen Entwurf. Die Differenzen in der Repräsentationskultur in den beiden Ländern lassen sich auf einen knappen Nenner bringen: Im Göttinger Fall konstruierten die Politiker Repräsentation vorwiegend über eine affirmative Erzählung von institutionellen Routinen, während dies in Ann Arbor stärker über Bezüge auf idealtypische Konzeption geschah.
Petersen untersucht nicht direkt, ob diese Form der durchaus eingeschränkten Repräsentation im deutschen »Fall« ein Grund für die so häufig beklagte Politik- oder Politikerverdrossenheit ist (bzw. ob diese Stimmung überhaupt zutrifft). Dies hätte sicherlich den Rahmen seiner Untersuchung gesprengt. Leider vergisst er aber auch, den zu repräsentierenden Bürger in irgendeiner Form zu Wort kommen zu lassen. Parallel mit den Interviews in Ann Arbor und Göttingen hätte man ja durchaus einen Querschnitt von Bürgern befragen können, wie sie sich repräsentiert fühlen. Dies unterblieb jedoch.
Gerade bei der Betrachtung des deutschen Politikmodells wäre es erhellend gewesen festzustellen, ob die Bürger mit dieser institutionalisierten, scheinbar anti-partizipativen Repräsentationskultur nicht vielleicht sogar einverstanden sind. In einem Interview im Jahr 1992 suggerierte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine »Art von Vorteilsaufteilung zwischen Politik und Gesellschaft.« Von Weizsäcker weiter: »In der Gesellschaft steht die Erhaltung materieller Vorteile im Vordergrund. Im politischen System dominiert die Kunst des Parteienkampfs untereinander. Es geht…um Wohlstandserhaltung gegen Machterhaltung.« Von einem »stillen Konsens zwischen Öffentlichkeit und Parteien« mochte von Weizsäcker zwar nicht sprechen. Dennoch ist die These interessant, der Bürger delegiere mit der Abgabe seiner Stimme die politische (und gesellschaftliche) Verantwortung an die entsprechenden politisch Handelnden, um nicht weiter mit den Problemen befasst zu werden. Von Weizsäcker äußerte dies im Rahmen der Diskussion um eine zu starke Dominanz der Parteien, was er seinerzeit in überraschend deutlichen Worten formulierte. Der Gedanke, das Volk sei eigentlich mit der Delegation der Probleme an die Politik einverstanden, kam bei der Kritik an von Weizsäcker damals zu kurz.
Verwendet man Petersens historische Kurzdarstellung der politischen Kultur Deutschlands (er sieht immer noch ein gärendes Obrigkeitsdenken beim deutschen Bürger), so könnte man den Spieß auch durchaus umdrehen: Der Bürger delegiert mit seiner (wohl überlegten) Stimme die (vulgo: seine) Verantwortung an die sich ihm zur Wahl stellenden Protagonisten. Es wird nicht mehr getan, was die Obrigkeit befiehlt (hierfür existieren hinreichende Strukturen), sondern die Obrigkeit erhält einen zwar zeitlich befristeten, aber ansonsten uneingeschränkten Gestaltungsauftrag. Erst wenn sich der Volkswille diametral entgegengesetzt zum Institutionswillen verhält oder das Wohlstandsversprechen nicht mehr erfüllt wird (oder aus ökonomischen Gründen erfüllt werden kann), wird protestiert.
Für diese These spricht, dass kommunale Bürgerentscheide selten auf die erforderliche Anzahl der Mindeststimmen kommen. Zwar gelingt es immer häufiger, solche Abstimmungen (ebenfalls mittels komplizierter institutionalisierter Techniken) herbeizuführen – aber die Resonanz bleibt in den meisten Fällen ernüchternd. Oft wird das erforderliche Quorum der Mindeststimmen nicht erreicht und/oder die Abstimmungsbeteiligung ist zu niedrig (Beispiel aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf; pdf) Man könnte hieraus auch eine weitgehende Zufriedenheit mit dem Status quo herauslesen. Tatsächlich gibt es vereinzelt Stimmen, die sinkenden Wahlbeteiligungen nicht unbedingt als Merkmal einer latenten Unzufriedenheit oder Politik-Resignation sehen.
Petersen, der ja durchaus »pro-amerikanisch« ist, thematisiert nur in einer Fußnote, dass die Wahlbeteiligung in den USA zumeist deutlich unter den vergleichbaren Zahlen in Deutschland liegt. Wenn denn die Repräsentationsmodelle in den USA zumindest auf lokaler Ebene »bürgernäher« sind – wie erklärt man die Beteiligung bei kommunalen Wahlen in Ann Arbor von 15–25% der registrierten (!) Wähler (bei gleichzeitigen Kongresswahlen betrug sie 2002 42,2%)? Ein Abgeordneter aus Ann Arbor wird damit zitiert, wie er seine reale Repräsentationsquote ausrechnet und auf 8% aller Bürger kam, die im seine Stimme gegeben hatten. Bei den Ratswahlen in Göttingen wurden immerhin Wahlbeteiligungen von deutlich über 40% erzielt (pdf). Leider geht Petersen nicht darauf ein, warum Wahlen zu »repräsentationsferneren« Parlamenten (Landes- oder gar Bundeswahlen) mit deutlich höheren Wahlbeteiligungen einher gehen – und zwar sowohl in den USA als auch in Deutschland. Eigentlich müsste doch der kommunale Bereich, der unmittelbar in die Lebensverhältnisse der Bürger eingreift, von vitalerem Interesse sein.
Petersen berücksichtigt durch seine Auswahl einer niedersächsischen Stadt auch nicht die Möglichkeiten von Mehrstimmwahlsystemen beispielsweise in Hessen, Baden-Württemberg oder Bayern. Hier ist es möglich durch Kumulieren und Panaschieren Wahlen verstärkt zu personalisieren und sich von starren Parteilisten zu emanzipieren.
»Repräsentation in Demokratien« ist ein interessantes Buch. Seine Lektüre ist lohnend und durchaus empfehlenswert. Auch wenn der Leser insbesondere zu Beginn mit einer Vielzahl von Thesen und theoretischen Erörterungen zu Repräsentation in Demokratien konfrontiert und mit einem überbordenden Dissertationsjargon (der auch später gelegentlich hervorbricht) traktiert wird. Man muss zur Kenntnis nehmen: Hier wurde eindeutig nicht für ein breites Publikum geschrieben. Man kann das bedauern – oder die Herausforderung annehmen.
Die kursiv gesetzten Stellen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Politikertypen: Was mir nicht ganz einsichtig ist, es könnte sich doch tendenziell auch anders herum verhalten, dass nämlich ein bürgernaher Repräsentant eher Sachpolitiker sein müsste, gerade auf Grund der Bürgerbindung, und umgekehrt, dass man von der Sache auf Grund des Fraktionszwangs absieht. Freilich, auf Grund der geringeren Verfügbarkeit von Informationen müsste der Bürgerpolitiker eher Spezialist für ein oder einige Gebiete sein.
Wähler/Bürger: Ist das nicht ein Widerspruch zwischen dem Vorherrschen des Politikers als Bürgerrepräsentaten einerseits, und der Ablehnung (Stören) des Bürgers bereits auf lokaler Ebene?
Gemeinwohl: Gibt Petersen eine Definition o.ä., was er unter Gemeinwohl versteht? Ich hätte nämlich eher eine umgekehrte Bedeutung erwartet: In Deutschland größer, was ich z.B.an der verpflichtenden staatlichen Krankenversicherung festmachen würde (es wird konkret für das allgemeine Wohl gesorgt, was seine Wichtigkeit unterstreicht, auch wenn man es nicht definieren will oder kann, aber es muss irgendeine Vorstellung davon geben). Es kommt mir eher vor dass Petersen sich hier auf gesellschaftliche Ideale (liberal, republikanisch) bezieht, aber eben nicht auf ein konkretes Gemeinwohl (also: wie es entstehen kann, und nicht wie es im politischen Handeln verstanden wird). Und kann man die liberale Variante tatsächlich als Gemeinwohl verstehen? Ist das zumindest teilweise sehr stark auf individuelle Freiheit gerichtete amerikanische Gesellschaftsverständnis nicht das Gegenteil eines Gemeinwohls (weil es nicht bewusst »geschaffen« wird)?
Kommunale Ebene: Solange das Wohlstandsversprechen einigermaßen intakt ist, dann interessiert die kommunale Ebene wenig, da sie a) unpersönlich (kleine Gemeinden sind ausdrücklich ausgenommen, ja ich würde sogar sagen, dass es sich dort anders verhält), b) unbedeutend (solange alles etwa gleich bleibt), und c) einfach weniger »spannend« ist (was heißen soll: Die neue Konzerthalle interessiert mich erst, wenn ich hingehen kann; währenddessen drängen Afghanistan, Weltwirtschaftskrise oder Bundespolitik [auch die greift stark in die Lebensverhältnisse ein] vor – Themen gibt es ja genug).
Die Typisierungen werden von Petersen in der beschriebenen Art gesetzt. Ob das nun richtig formuliert ist...
Auf eine direkte, eigenständige Formulierung von Gemeinwohl verzichtet er und arbeitet das unterschiedliche Verständnis – je nach »Ideal« – heraus.
Interessant Deine Idee, dass der Sozialstaat praktisch ein Teil eines Gemeinwohl-Denkens ist. Das ist er vielleicht insofern, als der »soziale Frieden« durch eine größtmögliche soziale »Versorgung« gesichert ist. Das ist aber damit eher nicht gemeint. Auf der kommunalen Ebene wird das deutlich: Ist die Umgehungsstraße im Sinne des »Gemeinwohls« (hier muss man die fragen, die umgangen werden wie diejenigen, die darunter wiederum zu leiden haben)?
In Düsseldorf gibt es einmal im Jahr (im März) einen »Dreck-weg-Tag«. Freiwillige treffen sich in einem von der Stadt organisierten Rahmen und betreiben Müllsammlung auf Flächen, die von der Stadtreinigung nicht oder nur selten gereinigt werden (Wälder, Parks, S‑Bahnhöfe, usw). Diese »Gemeinwohl«-Aktion ist nicht unumstritten. Gegner wenden ein, sie zahlten Steuern und die Stadt beute sozusagen die Freiwilligen aus, um Gelder zu sparen. Weiterhin kann man dagegen behaupten, dass dadurch die »wilden Müllhalden« nachträglich akzeptiert werden. Ohne direkte Kenntnisse zu besitzen behaupte ich, dass eine solche Aktion in den USA sehr viel weniger auf diese Einwände treffen würde.
Deine Argumente hinsichtlich eines geringeren Interesses bei kommunalen Angelegenheiten sind interessant. Vielleicht kommt noch dazu, dass es »leichter« ist vom Stammtisch oder Diskussionsforum aus den Nahostkonflikt »zu lösen«, als auf den Nachbarn zuzugehen, mit dem man sich seit Jahren zankt.
Noch ein paar ergänzende Bemerkungen zum Gemeinwohl
Petersen arbeitet heraus, dass in den USA gelegentlich beim Gemeinwohlgriff eine Verschiebung stattfindet, und zwar vom ‘common good’ zum ‘common ground’. Hiermit soll eine gemeinsame Schnittmenge aus unterschiedlichen oder auch entgegen gesetzten inhaltlichen Positionen reflektiert werden. ‘Common good’ ist dabei so etwas wie die Ur-Form des Gemeinwohls, welches, so Petersen, quasi schon vorab existent ist und nur noch gefunden werden muss, während ‘common ground’ eine Art Konsens-Suche darstellt.
Diese Unterscheidungen überzeugen mich ehrlich gesagt nicht. Gemeinwohl ist nicht per se existent, sondern immer ein konsensueller Prozess, der dann jedoch konstitutiv für andere (beispielsweise neu in eine Gemeinschaft kommende) ist.
Die Frage bleibt, worin sich dieses Gemeinwohl zeigt. Denn es gibt in modernen Demokratien Gesetze und Institutionen, die diese Gesetze überwachen und, wenn nötig, Recht sprechen. Gemeinwohldenken zeigt sich also vorher und ist nicht von oben zu verordnen. Gleichzeitig darf der Begriff nicht »verwässert« werden; er muss eine gewisse Standfestigkeit zeigen. Er ist meist lokal ziemlich eng gefasst – meist bezogen auf eine Stadt; in den USA sogar auf das »ward«, eine Art Stadtteil oder Viertel. Letzteres ist problematisch, da direkte Gemeinwohl-Konflikte drohen. Zu weit kann dieser Begriff selten gebraucht werden, um nicht mindestens in Pathosverdacht zu kommen (in Deutschland geht das gar nicht).
Wer wagt eine Definition?
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Am Rande, aber ernst gemeint (und nicht für Dich, metepsilonema): Wo sind eigentlich die Politkommentatoren geblieben, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre »Anti«-Parolen zum Besten geben und sich mit der Polit-Attitüde eines Kämpfers für die Freiheit parfümieren? Reicht deren Talent nur für billige Parolen oder Schlagzeilen-Kommentare? Dann sollen sie bitte in alle Zukunft diese Plattform meiden.
Und wo sind die politischen Utopisten verblieben, die wundenleckend die Ausweglosigkeit des aktuellen Systems beklagen? Und wo sind die Verfechter einer stärkeren Partizipation des Bürgers, die bei jedem Volksentscheid, der ihnen nicht passt wie Klein-Zaches herumtoben?
Bitte etwas Geduld, ich weiß noch nicht ob ich in den nächsten Tagen Zeit für eine Antwort finden werde.
Auf die Gefahr hin, daß es Ihnen ein wenig lästig erscheint, beginne ich »von hinten«. Sie schreiben:
Mein erster Gedanke, als ich das las, war, welche Laus Ihnen da über die Leber gelaufen sein könnte. Der zweite, warum Sie uns diese nicht kurz vorstellen. Der dritte, wen zum Henker Sie eigentlich meinen (könnten).
Ich komme nicht darauf. Vielleicht ist mir zuviel entgangen, aber eine Flut von »Anti«-Parolen und Polit-Attitüden von Freiheitskämpfern der Kommentatoren Ihres Blogs erinnere ich nicht, schon gar nicht »bei jeder sich bietenden Gelegenheit«. Oder ist das bereits eine »Anti«-Parole?
Immerhin, bei diesem ersten Teil Ihrer Anmerkung »Am Rande« kann ich mir noch vorstellen, daß Sie auch mich meinen könnten, hielte es dann aber auch für sachlich unzutreffend, da mein Talent auch bei unserem letzten Streit doch weiter reichte als »nur für billige Parolen und Schlagzeilen-Kommentare«.
Bei dem hier jedoch bin ich jeder Vorstellung abhold:
Wer hat Sie denn derart angefressen?
Womit ich, chronologisch weiter zurück gehend, zu Ihrem Kommentaren bei Twitter komme:
Worauf ich Ihnen dort entgegnete:
Denn es ist überhaupt kein Widerspruch darin, mehr Bürgerbeteiligung zu fordern und den Ausgang eines konkreten Bürgerentscheides für falsch oder für illiberal oder für beides zu halten. Auch dann nicht, wenn man im nachhinein deutliche (öffentliche) Kritik am Ausgang dieses konkreten Entscheides übt.
Jedenfalls für mich ist das problemlos vereinbar. Sie verstiegen sich aber in der Erwiderung sogar zu einer noch steileren These:
Wie das denn? Ist eine Mehrheitsentscheidung etwa sakrosant? Unfehlbar? Bar jeder Kritikwürdigkeit? Ist, wer die Mehrheitsentscheidung kritisiert, nun in seinem Demokratieverständnis zweifelhaft? Hat die unterlegene Seite also fürderhin zu schweigen, wenn ihr Demokratieverständnis nicht ins Zwielicht geraten soll?
Es wäre das Ende einer jeden sinnvollen oppositionellen Tätigkeit.
Denn diese besteht ja genau darin, Mehrheitsentscheidungen zu kritisieren, in Frage zu stellen, ob in einem Parlament oder einem sonstigen repräsentativen Organ oder bei Bürgerentscheiden in und an der Öffentlichkeit macht eigentlich keinen Unterschied.
Warum Sie mich bei Twitter nun hierher verwiesen haben, erschließt sich mir nur bedingt. Sicher, man kann hier ausführlicher diskutieren. Richtig passend zu Ihrer, dieser Buchbesprechung will es mir aber nicht scheinen, da doch sehr speziell.
Ihre Buchbesprechung indes ist herausragend! Vielleicht erreicht sie mich besonders, weil mich auch das Thema sehr interessiert. In vielen sonstigen Fällen erfreue ich mich oft einfach nur an Ihrer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Buch, habe aber eben oft wenig Bezüge dazu. Ich habe demnächst Geburtstag und mir dieses Buch aufgrund dieser Besprechung gewünscht. Womit es das zweite Buch wird, in dessen Besitz ich aufgrund einer Besprechung von Ihnen gelange. Und so will ich auch dazu noch ein paar Worte verlieren, obwohl ich mich damit in mir unsichere Fahrwasser begebe.
Ich sehe es wie Metepsilonema, auf kommunaler Ebene sind die meisten Entscheidungen eher von geringer Auswirkung auf meine konkrete Lebensplanung und die der mir nahestehenden:
Gesundheitsvorsorge und Gesundheitswesen – Bund
Bildung – Land
Soziales (ALG I und II) – Bund & Land
Rente – Bund
Zensurbestrebungen durch Sperrgesetze sowie Verschärfungen beim Urheberrecht durch Einführung eines »Leistungsschutzrechtes«, JMStV usw. – Bund &/oder Land
Datenschutz – Bund &/oder Land
Steuergesetzgebung (da ich derzeit kein Unternehmer [Gewerbesteuer] bin) – Bund &/oder Land
Rauchverbote in sämtlichen öffentlichen Räumen (also auch sämtlichen Eck-Kneipen) – Land
etc.
Ob die Dudenstraße in Berlin einen Fahrradweg erhält oder nicht, und wenn, ob erst in 5 Jahren, interessiert mich schon deutlich weniger.
Das sehe ich genauso. Wobei ich hierbei durchaus auch Wandlungen zu erkennen glaube, die durch das Internet, wenn nicht verursacht, so doch extrem begünstigt werden. Bürgerbeteiligung und vor allem Bürgerorganisation werden zusehends leichter, da von den traditionellen Multiplikatoren immer unabhängiger. Die veränderten Wertevostellungen der nachwachsenden Generationen, die rein biologisch bedingt an Einfluß in der Gesellschaft gewinnen, beschleunigen diesen Prozeß zusätzlich.
Herzlichen Dank für diese Besprechung. Ich freue mich auf die Lektüre, auch wenn sie »insbesondere zu Beginn mit einer Vielzahl von Thesen und theoretischen Erörterungen zu Repräsentation in Demokratien konfrontiert und mit einem überbordenden Dissertationsjargon (der auch später gelegentlich hervorbricht) traktiert«, das hat sie gelegentlich mit der Besprechung gemein, was diese besser, wenn auch schwerer verdaulich macht. Ich will jedenfalls die Herausforderung annehmen.
Mich hat niemand »angefressen«. ich beobachte nur seit einer geraumen Zeit, dass politische Auseinandersetzung speziell im Internet nur aus Parolendrescherei besteht (und damit die massenmediale politische Diskussion nur spiegelt). Wer sich diesem Trend anschliesst, bekommt enorm viel Zuwendung – wer dies nicht macht und sich sozusagen systemimmanent betätigt, wird »liegengelassen«. Es gab in anderen Blogs Beispiele dafür, wie nach neuen Möglichkeiten für demokratische Auseinandersetzung und Partizipation gesucht wurde – wenn man aber diesbezüglich Vorschläge macht, kommt meist – nichts. Das ähnelt inzwischen klagenden Waschweibern, die letztlich weder ihre Situation erkennen wollen noch sie ändern. Sie klagen nur um des klagens willen.
Dass Sie hier Twitter-Verkehr publizieren, finde ich interessant. Nein, ich finde es eigentlich ungehörig. Aber lassen wir das. Es ist bezeichnend, dass diehjenigen, die ständig mehr Partizipation verlangen mit den Ergebnissen von dieser Mehr-Teilnahme dann nicht einverstanden sind, wenn es nicht in ihren Kram passt. Da sie aber gegen die Entscheidung an sich nicht sein können, zweifels sie deren Legitimation an. Das geht bestens, wenn man sich die Teilnahme vornimmt. Da wird dann in rabulistischer Form die Mehrheit zur Minderheit. Das hat man der Allmachtsphantasie zu tun, dass man selber glaubt, in Besitz der »richtigen« Meinung zu sein und diese sozusagen im Alleinvertretungsanspruch zu artikulieren. Derart reduktionistisch funktionieren totalitäte Syteme übrigens auch – aber das brauche ich Ihnen nicht zu erklären.
Natürlich sind Mehrheitsentscheidungen nicht sakrosant. Sie sind schlichtweg zu akzeptieren. Der Unterschied dürfte Ihnen bekannt sein. Das demokratische Prinzip fußt auf diesem Mehrheitsprinzip – ob es einem gefällt oder nicht (ich selber habe da Vorbehalte, aber leider keinen besseren Gegenentwurf. Sie etwa? Dann bitte her damit!)
Es geht nicht darum, ob Mehrheitsentscheidungen »richtig« oder »falsch« sind. Sie sind, sozusagen. Das ist das Prinzip. Ein Prinzip, dass übrigens auch immer bei politischen Aktionen angewandt wird. Beispielsweise mit Unterschriftenaktionen. Wie gegen Vorratsdatenspeicherung. Da unterschreiben dann 100.000 Leute. Das hat aber tatsächlich nur Relevanz, so lange sich nicht 100.001 dagegen wenden. Häufig wird übersehen, dass solche Aktionen per se gar keine Mehrheiten aufzeigen, sondern Minderheiten sind. Nehmen Sie die Nachrüstungsdemonstrationen in der Bundesrepublik 1982. Dort demonstrierten in Bonn eine Million Menschen (vielleicht auch mehr). Damals lebten rd. 60 Millionen Menschen in Deutschland. Bedeutet das nun, dass die 1 Mio. die 60 Mio. »vertreten«, repräsentieren? Oder bedeutet es, dass die anderen 59 Mio. mit der Nachrüstung einverstanden waren?
Oder, noch interessanter, der aktuelle Bürgerentscheid in Hamburg, der das »längere Lernen« auf einer Primarschule gekippt hat. Geht es nach der Repräsentation, wäre das durchgewunken worden (auch die SPD in der Bürgerschaft war dafür). Der Bürgerbescheid hat es gekippt, d. h. das Quorum wurde erreicht. Es ist zwar keine Entscheidung einer Mehrheit, aber die Entscheidung der Mehrheit derjenigen, die abgestimmt haben. So funktioniert dieses System.
Man kann ja mit dem aktuellen Repräsentationssystem unzufrieden sein. Man kann mehr Bürgherbescheid anmahnen. Aber man kann nicht sein Fähnchen in den WInd hängen und den Bürgerbescheid nur dann gültig nehmen, wenn er nach eigenem Gusto ausfällt.
Und das hat sehr wohl mit diesem Beitrag zu tun.
Jetzt zum kommunalen Bereich: Ich halte es für absurd, dass man sich von kommunalen Ereignissen nicht betroffen fühlt. Es ist doch relevant, ob vor meinem Haus eine Strasse gebaut werden soll oder nicht. Oder ob ein Kohlekraftwerk errichtet werden soll und der Dreck mit dem Wind in meine Richtung kommt. Wie die Stadt/Kommune wirtschaftet. Wenn schon Bürgerbeteiligung von Bürgern immer angemahnt wird: warum bekommen solche Themen keine Relevanz? Man lebt doch nicht in der Virtualität?
Meine These: Die Komplexität dieser kommunalpolitischen Themen ist gross. Eine Transparenz ist häufig nicht gegeben, da die Berichterstattung nicht »aus allen Rohren« kommt. Meist gibt es nur eine Lokalzeitung, die wenig bis keine Hintergründe aufzeigt sondern nur beschreibt. Über Gesundheitspolitik, Rentenbeiträge, Datenschutz und den Israel-Konflikt gibt es fast täglich in allen Medien Informationen; auch Hintergründe und divergierende Meinungen. Da entstehen Meinungen (ob diese immer »korrekt« sind, ist eine andere Sache).
Die Entscheidung, ob »meine« Stadt ihr Tafelsilber in Form eines »Cross-Border-Laasing« verscherbelt oder nicht, hätte ich schon gerne selbst getroffen. Ich wette aber, wenn man eine Befragung unter den Düsseldorfern machen würde – die wenigsten wüssten davon.
Entschuldigung, aber es liest sich so.
Das Internet in seiner Breite enthält naturgemäß auch mehr Breite als Tiefe. Jeder kann dort hinterlassen, was immer ihm im Kopf herumspukt. Und die meisten Menschen haben eben nicht die höchsten Ansprüche an sich. Daraus nun zu schließen, die Debatten dort, im Internet, beschränkten sich auf die Anspruchslosigkeit, ist in meinen Augen Unsinn. Fünf Gegenbeispiele:
Philip Banse
netzpolitik.org
Carta
Peter Kruse
und natürlich
Stefan Niggemeier
Sie kennen natürlich selber zahlreiche Gegenbeispiele. Etliche haben Sie ja auch selbst verlinkt. –>
Diese werden also mitnichten liegengelassen, Sie beweisen schon selbst das Gegenteil.
Alle in ihrer Art sehr speziell. »Parolendrescherei« jedoch findet man dort kaum oder gar nicht. Eine Ähnlichkeit zu den »klagenden Waschweibern« haben auch Sie: Sie schimpfen, zetern schon fast, bleiben aber auch auf die Nachfrage hin die konkrete Antwort schuldig.
Gleichzeitig, im deutlichen Kontrast zu den »klagenden Waschweibern des Internets«, sind Sie jedoch Teil einer Gegenkultur des Anspruchs im Internet.
Also: Stellen Sie uns nun die Laus kurz vor, die Ihnen über die Leber gelaufen ist? :-)
Zweimal wieso? Wieso finden Sie das ungehörig? Und wieso sollten wir das lassen?
Erst habe ich mich eines ungehörigen Verhaltens bezichtigen zu lassen? (Twitter ist schließlich öffentlich, wie Sie wissen.) Und daran anschließend habe ich die Nachfrage zu unterlassen, wieso öffentliche Zitate einer öffentlichen Äußerung ungehörig sein sollen?
Ich habe das also unwidersprochen hinzunehmen? Das ist ungehörig, nicht die Zitate sind es!
Ich gehöre auch zu jenen, die regelmäßig mit den Ergebnissen dieser Mehr-Teilnahme nicht einverstanden sind. Nämlich mindestens immer dann, wenn sie mir nicht in den Kram passen, ich also ein Teil eines Minderheiten-Votums war. Deshalb zweifle ich allerdings nicht deren Legitimation an, entscheide mich aber hin und wieder dafür, am Zustandekommen einer neuen Mehrheit mitzuwirken. Ich betrachte das als Teil eines normalen demokratischen Prozesses, der ein ständiges Ringen um Mehrheiten ist. Mißtrauisch werde ich dann, wenn mir das unter Berufung auf einen einmal getroffen Mehrheitsentscheid untersagt werden soll.
Außerdem gehöre auch ich zu jenen Menschen, die die eigene Meinung für richtig halten. Jedenfalls solange, wie diese mir nicht überzeugend widerlegt ist. Geschieht eine mich überzeugende Widerlegung, so ändere ich meine Meinung. Ich halte dann ebenfalls meine Meinung für richtig, diesmal die neue, geänderte.
Was ist daran »bezeichnend«? Ist das nicht bei allen Menschen so? Was hat das jetzt mit Allmachtsphantasien zu tun?
Und totalitäre Systeme funktionieren anders: Da dürfen Entscheidungen nämlich nie oder fast nie in Frage gestellt werden. Weder vorher noch nachher. Klingt paradox? Ist doch vorher noch gar keine Entscheidung? Ist aber trotzdem so. Ich habe es erlebt. Offenbar muß ich Ihnen das erzählen.
Ich stelle Entscheidungen, auch Mehrheitsentscheidungen in Bürgerentscheiden, in Frage, wann immer es mich deucht! Viele tausend, darunter auch ich, haben dafür im September und Oktober ’89 ganz bewußt ihr und mein Leben riskiert (ich sehe noch die Schützenpanzer vor mir sowie die Drohungen eines Kampfgruppenkommandeurs in der LVZ), daß ich das kann – und darf. Daß sie das können – und dürfen.
Das demokratische Prinzip fußt aber eben auch auf der Oppositionsmöglichkeit, wie ich schon ausführte. Ich beuge mich der Mehrheitsentscheidung, was aber nicht zwingend bedeutet, daß ich sie stets als auf Dauer, als letztgültig, akzeptiere, oder gar, sie stets nicht bekämpfe – mit allen demokratischen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen.
Sie sind – bis auf einen eventuellen Widerruf durch neue Mehrheiten.
Wer nimmt denn den Bürgerentscheid nicht gültig? Wen meinen Sie? Wo hängen denn die Fähnchen im Wind?
Das stimmt natürlich. Deshalb schrieb ich auch »eher«. Vielleicht unterliege ich in dieser Hinsicht auch einer grundsätzlichen Fehleinschätzung, die mit Ihrer geäußerten These zusammenhängt:
Wahrscheinlich stimmt das. Aber auch das wird sich wandeln, denke ich. Auch auf kommunaler Ebene werden die Monopole der Multiplikatoren erodieren oder tun es bereits. Es dauert naturgemäß etwas länger, da beispielsweise 0,15% der Regensburger im Internet eine andere Wirkmächtigkeit haben als 0,15% aller Deutschen, allein schon der schieren Anzahl wegen.
@Peter Viehrig
Nur kurz: Die von ihnen verlinkten Blog sind in etwa so originell als würde ich auf FAZ oder SZ verweisen, wenn mich jemand nach guten überregionalen Publikationen fragt. Es sind übrigens fast ausschließlich Medien-Blogs (die sich allenfalls mit Medienpolitik am Rande beschäftigen). »Carta« finde ich dabei eher tendenziös. Grundlegende demokratietheoretische Erörterungen finden in den genannten Blogs nicht bzw. kaum statt.
Wenn Sie mich als zeternd empfinden, kann ich den Eindruck nicht zerstreuen. Im Gegensatz zu vielen Bekenntnisträgern versuche ich mit meinen tatsächlich bescheidenen Mitteln Sachverhalte zu befragen. Und nicht nur herumzujammern.
Ansonsten sind die Argumente ausgetauscht; es obliegt dem Leser seine Schlüsse zu ziehen.
Nur kurz:
Das weiß ich. Und das schätze ich. Sehr.
Deshalb irritierte mich auch die Ausnahme so sehr, darauf bezog ich mich:
Mir ist unklar geblieben, wen Sie meinen. Auch, ob Sie mich als Teil derer ansehen, die »bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre »Anti«-Parolen zum Besten geben und sich mit der Polit-Attitüde eines Kämpfers für die Freiheit parfümieren«, haben Sie offengelassen.
Wieso ich mich ungehörig verhalten haben soll, ebenfalls.
Und schließlich:
Darf ich also in Zukunft bei Ihnen weiterhin kommentieren? Oder soll ich »bitte in alle Zukunft diese Plattform meiden«?
Konkrete Fragen, auf die ich konkrete Antworten erwarte.
Gerne auch per E‑Mail, wenn Ihnen das lieber ist.
@Peter Viehrig
Ob Sie sich den Schuh anziehen, den ich im virtuellen Raum gestellt habe, obliegt Ihnen. Ich hatte durchaus einige Leute im Blick – die sich bisher (natürlich!) nicht gemeldet haben.
Was mich enorm geärgert hat war das Anti-von-der-Leyen-Posting mit Aktionsbild nach dem Minkmar-Interview. Es hatte direkt mit dem Thema nichts zu tun, außer das Minkmar von der Leyen als respektable Bundespräsidentenkandidaten empfand. Es war ja just an einem der beiden Tage, als sie von den Medien schon fast als designiert gehandelt wurde. Da kam sofort das kindische »Zensursula« und die »Lügnerin«. Diese Art der Vehemenz schreckt mich ab (so berechtigt sie im Detail auch sein mag). Dabei wird sofort ad hominem »argumentiert« und sehr einseitig. Es ist – dabei bleibe ich – vollkommen unpolitisch, von der Leyen auf ihr sicherlich eher lächerliches Internetsperren-Gesetz zu reduzieren und ihre sozialpolitischen Aktivitäten dbaei vollends zu vergessen. Das ist tendenziös.
Twitter-Meldungen gehören zu Twitter. Ich vermeide, dort grossartig zu »diskutieren« (was ja auch gar nicht geht). Aus diesem für sich genommen sehr speziellen Medium in ein anderes Medium zu transformieren, also Aussagen zu zitieren, halte ich für falsch. Zwar wird das vollständige Zitat wiedergegeben, aber dabei wird übersehen, dass dieses Medium ein naturgemäß vereinfachendes ist. Ich fand das schon bei Niggemeiers Kachelmann-Twitter-Entrüstung problematisch. Letztlich ist Twitter eine Art Darmausgang des Internet-Stammtisches. Durch etliche Tweets nach dem Nichtraucher-Entscheid in Bayern (»Nichtraucher-Faschos« war noch das harmloseste) kann man allerdings wunderbar feststellen, wie dünn die Firnis der Zivilisation ist.
Warum eine Entscheidung, den anderen mit gesundheitsschädlichem Rauch nicht belästigen zu können, illiberal ist, erschliesst sich mir nach 50 Jahren Raucher-Intoleranz übrigens nicht. Natürlich steht es Ihnen zu, diese Entscheidung zu kritisieren. Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass Sie das Mehrheitsprinzip angreifen. Das hielte ich per se für sehr interessant, wenn man in der Lage wäre, Alternativen und Grenzen zu benennen. Als blosse Meinung oder gar Affekt ist mir sowas immer zu wenig.
Es geht nicht darum, ob Sie kommentieren sollen oder nicht. Meiner Meinung nach kommentieren Sie hier viel zu wenig. Ich bin allerdings ein Verfechter des themenbezogenen Kommentars (was gelegentliche Abschweifungen nicht ausschliesst). Ich reagiere sehr allergisch (vielleicht zu allergisch?) wenn ich das Gefühl habe, das jemand nur seine Meinung absetzen möchte – ohne grossartig den Kontext des Beitrages oder der anderen Kommentare zu berücksichtigen.
Ein Versuch
Gemeinwohl ist das, was im Interesse aller ist (ich weiß, das ist sehr allgemein, aber es ist der Punkt von dem ich ausgehen würde). Oder das, was die Grundlage der Gemeinschaft, der Gesellschaft, des Staates ist; Grundlage im Sinne dessen, weswegen man sich entschlossen hat etwas gemeinschaftlich zu organisieren oder zu verwirklichen. Ich sehe darin zunächst vor allem ein materiell bedingtes Wohl, bzw. Handlungen die dieses fördern oder bedingen (deshalb auch der Gedanke an den Sozialstaat). Wie weit dieses Gemeinwohl gefasst ist, darüber kann man trefflich streiten, genauso wie über seine Organisation (was m.E. das ist, was Petersen als Gemeinwohl bezeichnet). z.B. Wie weit betrifft soziale Absicherung oder eine intakte Umwelt das Gemeinwohl? Wer hat welchen Beitrag zu leisten? etc...
Ich würde sagen, dass das Gemeinwohl seinen Ursprung in den materiellen Mängeln und Herausforderungen der frühen Umwelt des Menschen hat (man schloss sich zu größeren Gruppen zusammen, falls man das nicht ohnehin aus Neigung tat, weil man überleben wollte) – heute sieht es (bei uns) freilich anders aus: Es geht nicht mehr primär darum zu verhindern, dass jemand verhungert oder von wilden Tieren angefallen wird.
Zum Kommunalen (Dein Hinweis zur Intransparenz ist sehr wichtig): Ich selbst entscheide mich (und das ist auch ein Zeitkonflikt) meist für die höher liegenden Ebenen, weil sie interessanter und wichtiger erscheinen (nicht notwendiger Weise sind). Und es ist, wie Du es schon ansprichst auch eine Frage von Gemeinschaftsgefühl: Fühlt man sich auch von den Angelegenheiten im Bezirk betroffen, die einen selbst nicht betreffen? Oder die nur peripher berühren? z.B. Die Errichtung eines Kinderspielplatzes, obwohl man keine Kinder hat. Einer Parkgarage, obwohl man mit Autos nichts am Hut hat? Es ist ein wenig seltsam, aber wenn ich mich selbst ansehe, dann gibt es schon eine gewisse Abstinenz der nahen und nächsten politischen Ebene gegenüber. Vielleicht auch, weil es nur kleine Politik ist...
Gemeinwohl
Ich glaube, dass man Gemeinwohl nicht mit immer abstrakter werdenden Sozialversicherungssystemen sozusagen »verwechseln« darf. Ein Beispiel ist da für mich die Einführung der Pflegeversicherung in Deutschland (das geschah 1995 – und ist übrigens nebenbei ein Beleg dafür, dass Blüm den demographischen Faktor sehr wohl genau einzuschätzen wusste und daher bewusst eine fahrlässige Rentenpolitik zu Lasten der Jüngeren betrieb).
Mit der Pflegeversicherung wurde die Pflege älterer und gebrechlicher Menschen institutionalisiert. Dies war u. a. der Tatsache geschuldet, dass die Familien nicht mehr »unter einem Dach« lebten (alleine aus beruflichen Gründen war dies immer schwieriger – Stichwort: Zwang zur Mobilität des Erwerbstätigen). Die Pflege des unmittelbaren Angehörigen wurde von der »Lebensperspektive« des Kindes sozusagen abgekoppelt (in der Zukunft ahben die zu Pfelegenden vielleicht gar keine Kidner mehr). Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – dieser früher moralischen Pflicht entzogen hatten, waren sozusagen »entlastet«. Der Staat übernahm diese Aufgabe nun, die weiland eine Verpflichtung des Einzelnen war.
Hierfür müssen alle bezahlen (die Regelung ist gesetzlich und zwingend vorgeschrieben; von »Versicherung« kann gar keine Rede sein). In der Summe dürfte – trotz sehr vieler Schwachstellen und Probleme – die Versorgung älterer Menschen besser geregelt sein als vor 1995 – vor allem wenn man berücksichtigt, dass seitdem die Mobilität und auch der Individualismus noch mehr zugenommen haben dürfte.
Dient also die Pflegeversicherung dem Gemeinwohl? Vielleicht dahingehend, dass eine nivellierende, für alle gültige, institutionaliserte Regelung gefunden wurde (in den USA wäre so etwas unbedenkbar). Aber handelt es sich hierbei nicht letztlich nur um eine profane Delegation gesellschaftlich relevanter Aufgaben an die Allgemeinheit, die mittels finanzieller Aufwendungen vergütet wird? Und, das ist ein wichtiger Aspekt: Wird gemeinwohl nicht auf diese Weise bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert?
Kann Gemeinwohl derart gestaltet werden? Mit Zwang? Dein Kriterium, dass es im Interesse aller ist, ist zweifellos erfüllt. Auch die Krankenversicherung ist im Interesse aller. Die Umgehungsstrasse ist auch im Interesse aller – aller, die von ihr entlastet werden und weniger Verkehrslärm erwarten. Hier beginnen aber schon die Probleme: Die Umgehung selber produziert neue Probleme, da bisher verkehrsruhige Zonen stärker belastet werden. Wer sind also »alle«? Kann man die schnöde Zählung heranziehen und dann sozusagen nach Mehrheit entscheiden?
Noch ein überspitzteres Beispiel: Dient es dem Gemeinwohl, wenn Serienverbrecher auf Dauer eingesperrt bleiben? Oder geht im Zweifel das individuelle Recht der Straftäters auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft vor? Wie sieht die Abwägung bei Triebtätern aus?
Dient ein Theaterneubau, der hunderte von Millionen Euro kostet, dem Gemeinwohl? Oder sollte man das Geld besser in Stadtbibliotheken stecken, von denen sich viel mehr Leute angesprochen fühlen und diese besuchen werden?
Tatsache ist – gerade in Deutschland: Wer das Gemeinwohl heranzieht, wird häufig schief angesehen, weil so etwas wie »Gemeinschaft« immer noch diskreditiert ist. Linke faseln zwar von »Solidarität« und vergessen immer mehr dabei, dass dies keine Einbahnstrasse sein kann. Gemeinwohl müsste m. E. viel mehr aus der »passiven« Ecke blosser finanzieller oder auch nur moralischer Vergütung herausgeholt werden und in konkreten Aktionen für alle (und von allen) sichtbar gemacht werden.
Andererseits: Immert mehr Aufgaben, beispielsweise in Altenheimen immer mehr von »Ehrenamtlichen« übernommen, die dafür finanziell sehr schlecht vergütet werden, während die Träger ihre gesparten finanziellen Mittel in fragwürdigen Projekten ausgeben.
Andererseits: WIe ist Gemeinwohl in einer Gesellschaft überhaupt vermittelbar, die ihre wichtigsten Werte im Individualismus und Konsum sieht? Erscheint da nicht jeder freiwillige Müllsammler wie ein exotischer Trottel?
–
Kommunalpolitik
ich gestehe ja selber, dass mich kommunale Politik kaum interessiert. An lokalen Abstimmungen beteilige ich mich zwar (und muss mir vorher ein bisschen mühsam die Informationen besorgen), aber letztlich beschäftigt es mich kaum. Meine These dazu ist, dass man sich die Ausweglosigkeit des politischen Engagements nicht dadurch aufzeigen lassen will, dass man sich für kommunale Themen interessiert und engagiert. D. h.: Man will nicht direkt enttäuscht werden. Daher wendet man sich lieber den Themen zu, die man von vornherein nicht beeinflussen kann.
Verwechslung?
Im Grunde ist das Problem, das Du ansprichst ja in meiner Definition enthalten, weil sie sehr allgemein ist, und das Kriterium »im Interesse aller« sehr bald berührt wird. Das zweite ist, dass in unserer Überflussgesellschaft der andere aus der Sicht materieller Lebensgrundlagen, nur bedingt gebraucht wird (als Produzent und Verteiler, aber weniger als soziales Gegenüber), da ohnehin alles vorhanden ist (die soziale Interaktionen, die sich ergeben, wenn man gemeinsam auf die Jagd gehen muss, und dabei Gefahren bewältigt, existieren nicht mehr). Die Auswüchse die Du oben beschreibst, und völlig zurecht kritisierst ergeben sich m.E. aus den gerade genannten Gründen (nicht zwangsläufig vielleicht, aber als eine Möglichkeit): Die Organisation breitet sich immer weiter aus, wird feingliedriger, abstrakter, erfasst immer mehr, weil bestimmte Aufgaben einfach erfüllt sind, und andere, »lästig erscheinende«, auf Grund geänderter Bedingungen, ihrer Erfüllung harren (z.B. die Pflege). Ich denke, das ist auch eine Problematik der Moderne überhaupt.
Ähnlich verhält es sich mit dem Problemlösen (dein Theater‑, Bibliotheks‑, und Umfahrungsstrassenbeispiel): Jede Problemlösung schafft wieder neue Probleme und Schwierigkeiten (habe ich hier einmal zu thematisieren versucht). Damit muss man wohl (unter den Voraussetzungen der Moderne) leben, und bestimmte Entscheidungen abwägen.
Also: Betrifft Gemeinwohl (auch) etwas anderes, als die materiellen Lebensgrundlagen? Und wenn ja, was könnte das sein (ich komme da nicht so recht weiter)? Oder bedeutet Gemeinwohl im Grunde selbst für etwas zu sorgen, und es nicht »auszulagern«?
[Tut mir leid, mein Antwortverhalten ist im Moment fürchterlich...]
[EDIT: 2010-07-30 08:23]
Das ist auch meine Frage
Betrifft Gemeinwohl (auch) etwas anderes, als die materiellen Lebensgrundlagen? Und wenn ja, was könnte das sein (ich komme da nicht so recht weiter)? Oder bedeutet Gemeinwohl im Grunde selbst für etwas zu sorgen, und es nicht »auszulagern«?
Zu einer befriedigenden Antwort bin ich nicht gekommen. Zweifellos liegt ein »Gemeinwohleffekt« darin, dass es Leute gibt, die professionell alte Menschen pflegen. Aber dies ist letztlich dann »heruntergebrochen« auf eine reine Dienstleistung, also materialisiert. Aber das ist es eigentlich nicht.
Gemeinwohl als Verhalten definiert: Es ist das nicht unmittelbar auf Belohnungseffekte zielende, über eigene Egoismen hinausgehende (vielleicht sogar ausklammernde?) Handeln des Bürgers. Wohl wissend, es nie allen recht machen zu können.
[Es kommt ja nicht auf Geschwindigkeit beim Kommentieren oder Nachdenken an, sondern auf Qualität. Und dahingehend finde ich das ganz in Ordnung hier.]
[EDIT: 2010-07-30 08:39]
Gemeinwohl als Verhalten definiert: Es ist das nicht unmittelbar auf Belohnungseffekte zielende, über eigene Egoismen hinausgehende (vielleicht sogar ausklammernde?) Handeln des Bürgers.
Ja. Aber dieses Handeln ist uns ganz selbstverständlich: Bei Freunden oder Verwandten, etwa. Das heißt es müsste (im Fall des Gemeinwohls) eigentlich Personen betreffen, zu denen keine derartigen Bindungen bestehen, den anderen, denen, die wir nicht kennen, und das ist wahrscheinlich eines der Probleme unserer individualisierten »Gesellschaft«, dass wir immer mehr für uns leben...
[EDIT: 2010-08-09 09:54]
@Metepsilonema
Daher hatte ich das mit den »eigenen Egoismen« bzw. deren Ausklammerung eingefügt.
Ich möchte ehrlich gesagt nicht das »Fass« des Individualismus aufmachen. zumal wohl alle möglichen Kommentatoren abgesprungen sind und sich vielleicht lieber über Google oder die nächste Volkszählung aufregen (das ist billiger). Aber ich bin mir gar nicht sicher, ob unsere Gesellschaft soviel egoistischer geworden ist. In Stammesgesellschaften haben sich Egoismen vielleicht stärker gezeigt, werden nur nachträglich von uns ausgeblendet bzw. idealisiert. Tatsächlich haben wir heute in den sogenannten westlichen Zivilisationen kaum noch Existenz-Ängste zu bestehen wie vielleicht weiland der Neandertaler.
Man könnte allerdings die These aufstellen, dass, je organisierter und institutionalisierter eine Gesellschaft wird, je individualistischer und auch egoistischer wird sie wieder, weil die »natürlichen« menschlichen Emphasen an Institutionen delegiert werden. Das andere Extrem – eine Art anarchische Gesellschaft – »funktioniert« natürlich auch nicht (s. »Herr der Fliegen«)
[EDIT: 2010-08-11 16:11]
nachgereicht
Lieber Gregor,
danke für Deine inzwischen beinahe verjährte Einladung – und für den kritischen Seitenhieb. Schelte angenommen. Dir wird vermutlich nicht entgangen sein, dass ich auch meine eigenen vier virtuellen Wände vernachlässige. Gründe für diesen mehr oder weniger anhaltenden Rückzug kann ich mir selbst nicht einmal genau nennen. Umso nachhaltiger aber haben dafür in den vergangenen Wochen Deine Gedanken zu Petersens Buch in meinem Hinterkopf gegärt; hier also einige Einwände als Diskussionsanker, wenn Du sie annehmen möchtest.
Als grundsätzlich äußerst bedauerlich empfinde ich, dass Petersen sich auf ein Modell beschränkt, das lediglich zwei Instanzen der politischen Willensbildung kennt: den Wähler und den Politiker. Meines Erachtens hätte die Studie mehr Schärfe, mehr Realitätsnähe gewonnen, wenn Petersen in den Interviews nicht nur angesprochen hätte, wie sich Politiker ihren Wählern verpflichtet fühlen, sondern wie sie sich in den Strömen der Machtstrukturen verorten, denen sie als politische Vertreter ausgesetzt sind. Während Petersen das Gemeinwohl zu definieren versucht: Was zählt das politische Mandat gegenüber der Fraktion, der Partei? Dem Parteienstaat? Wie viel wiegt das Gewissen gegenüber der Einflussnahme durch Lobbyorganisationen? Welche Zwänge herrschen, die einen Politiker von seiner Aufgabe als Volksvertreter entfernen, entfremden? Wie wirkt sich die (mögliche) mediale Aufmerksamkeit auf die gewissenhafte Wahrnehmung repräsentativer Aufgaben aus? Kurzum: Wenn sich Politiker (und Parteien) lediglich aus formaler Bestätigungsnot heraus ihre Legitimation in periodischen Wahlen bestätigen lassen und die Sphäre politischer Entscheidungen zu einem für Bürger unzugänglichen Paralleluniversum einschätzen: welche Imperative definieren dann diese abgekoppelte politische Sphäre? Die Frage also, wie – d.h. auf welchen Wegen, über welche Kanäle, dank welcher Expertise – Politik verhandelt wird und werden darf, stellt Petersen nicht, während sie aber für seine Überlegungen zur Bürgernähe bzw. ‑ferne meines Erachtens nach von ausschlaggebender Bedeutung ist.
Daran knüpft zum Beispiel folgende Beobachtung an: Je höher die Position ist, die vertreten wird (also auf Landes- oder gar Bundesebene), je ferner wird der Gedanke, unmittelbar Repräsentant der Bürger Ich frage mich provokanterweise – und zu meiner eigenen Verwunderung, wenn ich ehrlich bin – ob das zwangsläufig eine Art „politische Entfremdung“ bedeutet. Ist es nicht im Gegenteil eher sinnvoll, einen Volksvertreter, der für ein bundesweites Ressort zuständig ist, von der unmittelbaren Rückbindung an und Verantwortlichkeit gegenüber seiner – im Verhältnis zu seinem politischen Amt – ja relativ kleinen Wählerbasis freizusprechen? Wäre er dann nicht tatsächlich „Sachpolitiker“, weil vornehmlich einer das Gemeinwohl betreffenden Sache gegenüber verantwortlich? In welcher Abhängigkeit also sollen / können Kompetenz bzw. Zuständigkeit und Repräsentationspflicht stehen?
… besteht in Deutschland eine Distanz zur breiteren politischen Partizipation durch die Bürger, sofern sie sich nicht in den dafür vorgesehenen Institutionen (vor allem Parteien, aber auch Gewerkschaften, Verbänden oder Organisationen) stattfindet. Diese Fixierung Institutionen gegenüber spiegelt sich ja auch in der Ansicht, dass, wer an Politik mitarbeiten möchte, dies in einer Partei zu tun habe. Stimmt, zu meinem ausgesprochen großen Bedauern. Habe die Erfahrung selbst machen dürfen. (Über Ochsentouren haben wir ja schon diskutiert.)
Eingeständnis, dass man Wahlkämpfe als »Informationsveranstaltungen« für den Bürger sieht, der für die nächste Legislaturperiode die politische Richtung vorgibt. Nach Abgabe der Stimme ist dann sein Teil »erledigt«. Die Passage bringt meinen einleitenden Fragenkatalog vielleicht nochmals auf den Punkt: Wer trägt dann die Hauptverantwortung für die Ausgestaltung konkreter Politik? Wenn der Bürger außen vor bleibt: Wer beschafft dann das Sachverständnis?
These interessant, der Bürger delegiere mit der Abgabe seiner Stimme die politische (und gesellschaftliche) Verantwortung an die entsprechenden politisch Handelnden, um nicht weiter mit den Problemen befasst zu werden. […] Man könnte hieraus auch eine weitgehende Zufriedenheit mit dem Status quo herauslesen. Tatsächlich gibt es vereinzelt Stimmen, die sinkenden Wahlbeteiligungen nicht unbedingt als Merkmal einer latenten Unzufriedenheit oder Politik-Resignation sehen. Ich erinnere mich vage an eine Reihe „konservativer“ Schriften aus den 60ern, die in Anlehnung an Schumpeters Politikverständnis genau diesen Gedanken ausbreiten. Ich bin der Überzeugung, dass das keine bloße These, sondern tatsächliche Realität ist. Eine Erklärungssuche für dieses Biedermeiertum wäre ohne Zweifel eine separate Diskussion wert; ihre jeweilige Rolle spielen meines Erachtens: der Parteienstaat, der (noch) sehr gut darin funktioniert, sich seinen eigenen Nachwuchs zu sichern, und seine äußerst elitäre Haltung; die breite politische Sozialisierung, dass Politik parlamentarisch, und nicht populistisch geformt zu sein hat; der dadurch stabilisierte Eindruck, dass über Politik berichtet, sie aber nicht mitbestimmt werden kann; das Dogma, dass der Markt über dem Gemeinwohl steht und der Markt nur von einigen wenigen Großspielern stabilisiert werden kann; Konsumüberfluss und überbordender Individualismus, Mythos der Selbstverwirklichung und daraus resultierend: Sorge um das Selbst, die vor vieles andere gesetzt wird. (vollkommen unvollständig, fällt mir auf, aber ich lasse das mal so stehen ...)
Stichwortartige Entgegnungen
Vielleicht ist meine Besprechung von Petersens Buch tatsächlich ein bisschen einseitig bzw. nicht komplex genug. Etliche Deiner Fragen werden mindestens angerissen. Ich konnte sie jedoch nicht aufnehmen – dann wäre es noch länger geworden. Daher stichwortartig einige Erläuterungen (Deine Aussagen/Fragen kursiv gesetzt).
...sondern wie sie sich in den Strömen der Machtstrukturen verorten, denen sie als politische Vertreter ausgesetzt sind.
Indirekt wird das deutlich, weil Petersen sehr wohl die Loyalität zur Partei und das Verhältnis der Loyalität zwischen partei und Bürger anspricht.
Während Petersen das Gemeinwohl zu definieren versucht
Das definiert er nicht – er bildet nur die beiden unterschiedlichen gemeinwohl-Definitionen in den USA ab und stellt diese dem eigentlichen Fehlen dieses Gedankens der Bundesrepublik gegenüber. Dies aber – im Rahmen der Studie – eher neutral; nicht wertend.
Die Frage also, wie – d.h. auf welchen Wegen, über welche Kanäle, dank welcher Expertise – Politik verhandelt wird und werden darf, stellt Petersen nicht, während sie aber für seine Überlegungen zur Bürgernähe bzw. ‑ferne meines Erachtens nach von ausschlaggebender Bedeutung ist.
Das stimmt so nicht. Die »Verpflichtung« des politischen Mandats innerhalb der Fraktion wird schon erörtert. Und die sich hieraus ergebenden Konflike. Petersen ist allerdings keim Pamphletist, der in Staatsanwaltsmanier den »Parteienstaat« angreift. Dies würde sein Selbstverständnis als Wissenschaftler tangieren.
Diese Zurücknahme empfand ich bei der Lektüre durchaus als angenehm, zumal sie ja nicht durchgängig ist. Petersen präferiert sehr wohl ein Modell und steht der deutschen Repräsentationsdemokratie ziemlich skeptisch gegenüber.
Wer trägt dann die Hauptverantwortung für die Ausgestaltung konkreter Politik? Wenn der Bürger außen vor bleibt: Wer beschafft dann das Sachverständnis?
Wer sagt denn, dass der Bürger »außen vor« bleibt bzw. bleiben muß? Er hat ja sehr wohl die Möglichkeit, sich aktiv in die Politik »einzuschalten«. Das ist eben im amerikanischen System offensichtlich wesentlich selbstverständlicher. Es scheint auch – das iste ine Schlußfolgerung von mir – eher akzeptiert zu sein als in Deutschland. Hier ist ein politisches Engagement eher suspekt, was dann auch wieder mit dem Selbstverständnis politisch Aktiver zu tun hat, die, wie Petersen schreibt, sich in Deutschland schon auf kommunaler Ebene als »Politiker« verstehen, während sie in den USA eher als »primus inter paris« angesehen werden (auch dies eine Schlußfolgerung meinerseits).
Die Dichotomie »Politik ./. Bürger« ist in Deutschland sehr viel stärker ausgeprägt als in den USA. Ich frage mich, ob dies mit der Delegationsthese, die von von Weizsäcker abgeleitet habe, etwas zu tun hat.
In welcher Abhängigkeit also sollen / können Kompetenz bzw. Zuständigkeit und Repräsentationspflicht stehen?
Darum geht das ganze Buch.
Ist es empfehlenswert, dass Repräsentation als »imperatives Mandat« gesehen wird? Oder stellt der Kandidat ein »Angebot« an den Wähler dar, dem er dann – tatsächlich im wörtlichen Sinn – das »Vertrauen« zuspricht? Und was ist mit Themen, die der Repräsentant nicht ad hoc zu beurteilen vermag? Wem vertraut er? Ist eine »Expertenrepublik« erstrebenswert? Ich habe den Eindruck, Petersen sieht hier große Vorbehalte.
Das Problem ist aber m. E. nicht, dass Fehlentscheidungen getroffen werden. Ein problem wäre es nur, wenn Fehlentscheidungen institutionell nicht mehr korrigiert werden können. Oder?
der Parteienstaat, der (noch) sehr gut darin funktioniert, sich seinen eigenen Nachwuchs zu sichern, und seine äußerst elitäre Haltung; die breite politische Sozialisierung, dass Politik parlamentarisch, und nicht populistisch geformt zu sein hat; der dadurch stabilisierte Eindruck, dass über Politik berichtet, sie aber nicht mitbestimmt werden kann; das Dogma, dass der Markt über dem Gemeinwohl steht und der Markt nur von einigen wenigen Großspielern stabilisiert werden kann; Konsumüberfluss und überbordender Individualismus, Mythos der Selbstverwirklichung und daraus resultierend: Sorge um das Selbst, die vor vieles andere gesetzt wird...
Sorry, das ist mir viel zu holzschnittartig gedacht gedacht. Es führt übrigens zu den Bürgerentscheiden auf kommunaler Ebene wieder zurück, die in den Kommentaren auch eine Rolle spielen: Wenn dem so ist – warum ist die Beteiligung bei den unmittelbar in meiner Lebenswelt zur Entscheidung anstehenden Probleme fast immer sehr gering? Warum gehen nur 38% zu Volksabstimmungen über ein kommunales Thema, wenn sich – angeblich – so viele vom politischen System vernachlässigt fühlen?
Ich habe eine These: In Wirklichkeit gefallen sich viele politisch Interessierte in ihrer fatalistischen Haltung. Nicht wenige ergötzen sich an der aktuellen Stümperei der schwarz-gelben Regierung. Jeder Rücktritt eines Amtsträgers bestätigt ihre schlechte Meinung. Tatsächlich kenne ich Grüne, die froh waren, dass die Grünen 2005 in die Opposition gehen konnten. Da ließ es sich doch besser kritisieren. Das abstruse Spiel der »Opposition«, die per se erst einmal gegen (fast) Alles ist, was die Regierung möchte, kann ja jeden Tag beobachten. Der politisch sich leicht deillusioniert gebende Bürger treibt dieses Spiel noch ein bisschen extremer: Für ihn ist ein Politiker nur noch ein Partei-Apparatschik. Was sie anderen vorwerfen, betreiben sie selber. Es gibt derzeit zwei Gruppen, mit denen man so etwas »darf« – eine davon sind die Politiker. Wenn man in ähnliche Pauschalisierungsmuster bei Ausländern oder Hartz-IV-Empfängern verfallen würde (s. Westerwelle) wäre das Geschrei – zu Recht! – riesengroß.
Das führt zu Auswüchsen auch bei Intellektuellen. Zu Grass braucht man nichts sagen. Neulich aber meinte Claus Peymann, Deutschland fehle ein Politiker wie Berlusconi, an den man sich reiben könne; die deutschen Politiker wären zu glatt. Diese Aussage zeigt die Verblödung Peymanns aufs Schönste.
Was Petersens Buch in interessanter Weise zeigt: Das von uns herablassend betrachtete politische System der USA ist mindestens auf kommunaler Ebene integrierender als das Deutsche.
herausgegriffen
Danke für Deine »Orientierungsgabe«. Ehe wir uns in zu vielen parallel aufgegriffenen Argumenten verheddern, darf ich mich vielleicht auf ein Anliegen konzentrieren, das sich wie ein roter Faden durch meine Reaktion auf Petersens Buch zieht.
Die »Verpflichtung« des politischen Mandats innerhalb der Fraktion wird schon erörtert. Und die sich hieraus ergebenden Konflike. Petersen ist allerdings keim Pamphletist, der in Staatsanwaltsmanier den »Parteienstaat« angreift. Dies würde sein Selbstverständnis als Wissenschaftler tangieren.
Diese Zurücknahme empfand ich bei der Lektüre durchaus als angenehm, zumal sie ja nicht durchgängig ist. Petersen präferiert sehr wohl ein Modell und steht der deutschen Repräsentationsdemokratie ziemlich skeptisch gegenüber.
Ein Schlagwort, hätte ich es eingebracht, hätte mein Beharren auf die vielen Fragen nach Verantwortung und Verpflichtung auf den Punkt gebracht: Mir fehlt in vielen politischen Themen die Transparenz – und in den Parteien der Wille zur Transparenz. O.K., zugegeben – damit habe ich ein zweites Schlagwort angedeutet: Es geht mir um Transparenz und Lobbyismus.
Oft, ach was: viel zu häufig habe ich inzwischen den Pauschaleindruck, Bürger werden nicht für voll genommen und Wähler zu Abnickern degradiert, die Entscheidungen legitimiert, die an anderer Ort und Stelle (nämlich nicht öffentlich) bereits entschieden worden sind (oder entschieden werden). Das »den Sachverhalt zur Wahl stellen« bzw. »eine Diskussion über diesen oder jenen Sachverhalt führen« wird zur reinen, konsequenzarmen Formsache. (Ganz abgesehen davon, dass es auch Politiker gibt, die sich in dieser Statistenrolle sehen; z.B. hier.) An dieser Vierecksbeziehung zwischen Wähler, Politiker, Partei und verdeckt einflussnehmender Lobby reibe ich mich – und bin verwundert, dass eine Studie über Vorstellungen politischer Repräsentation diese Beziehungsfolgen außen vor lässt. Wo bleibt sozusagen ihr Abgleich mit der »Realität« politischer Repräsentation?
Lobbyismus ist die Ausrede des Bequemen
Naja, Petersen lässt diese Verbindungen nicht »außen vor«. Er sieht sie nur nicht dominierend. Und das mit dem Lobbyismus – ist ja eine durchaus ambivalente Sache. Was ist Lobbyismus eigentlich? Sind die sogenannten »Verbraucherschützer« nicht auch Lobbyisten? Dennoch hat mich noch niemand von diesen selbsternannten Schützern gefragt, ob ich von ihnen repräsentiert werden möchte. (Möchte ich übrigens nicht.)
Es macht mich fassungslos wenn ehemalige Gesundheitsminister den Einfluss der Lobbys der Pharmaindustrie und/oder der Ärzte beklagen. Was bedeutet das? Hatten Lobbyisten Familienmitglieder entführt und das Leben dieser bedroht, falls eine Positivliste beschlossen würde? Wurden Politiker bei außerehelichen Sexspielen gefilmt? Welche Leichen hatten die Politiker mit diesen Leuten im Keller, um sich von Ihnen einschüchtern zu lassen? Ich stelle mal eine steile These auf (liest eh’ keiner mehr mit): Lobbyismus ist ein schönes Scheinargument von Politikern zur Verbrämung ihrer eigenen Untätigkeit. Lobbyismus bedeutet für sie: Ich konnte nicht anders, weil es sonst zu unbequem geworden wäre (Ärztestreik!). Oder Lobbyismus bedeutet: Ich mach’ es mir einfach, weil ich mich nicht mit mehreren Interessengruppen gleichzeitig anlegen will – um beim Beispiel Gesundheitspolitik zu bleiben: mit Ärzten, Kassen UND Patienten. Man wählt dann den einfachsten Weg: man belastet Patienten, weil die am schlechtesten »organisiert« sind – und wenn sich alle Politiker mehr oder weniger einig sind (in der Nichtbelastung der sogenannten Lobbygruppen), dann können wir hübsch weitermachen.
Natürlich existieren Lobbygruppen und natürlich versuchen diese Einfluss zu gewinnen. Aber der Einfluss wird ihnen gewährt. Es ist kein Naturgesetz – es ist eine Maßnahme einer politischen Klasse, die den Weg des geringsten Widerstands geht, um sich auf Dauer im Wohnzimmer des Waltens einzurichten.
Insofern kann Lobbyismus in eine Studie, die das Verhältnis zwischen Wähler und gewähltem Repräsentanten untersucht, tatsächlich keine dominierende Rolle spielen. Schließlich hat der Wähler die Möglichkeit, den / die Politiker, die dem Lobbyismus »nachgeben« abzuwählen.
Lobbyismus
Das Thema lohnt durchaus eine Auseinandersetzung: Ein Lobbyist ist jemand, der Interessen vertritt, und Tatsachen bewusst anders darstellt, als sie tatsächlich aussehen. Das heißt nicht, dass er lügt, aber mindestens schön redet oder Dinge in ein bestimmtes Licht stellt, über- oder untertreibt. In diesem Sinne sind wohl die meisten Organisationen, Institutionen und Unternehmen, auch NGOs oder eben Verbraucherschützer Lobbyisten.
Eine Gefahr für die Politik sehe ich dort, wo der willige Politiker (also der der dem Lobbyismus entgegen treten will) nicht zwischen den »unverstellten« Tatsachen und dem Lobbyismus unterscheiden kann. In der Tat ist es ja ohne weiteres denkbar, dass eine geschickt vorgetragene, interessengeleitete Position nicht ohne weiteres aufzudecken ist: Als ein Experte auf einem bestimmten Gebiet, kann ich ohne weiteres plausibel argumentieren, und dabei Lobbyist sein, einfach in dem bestimmte Einwände oder Argumente weggelassen werden, die zwar bedeutend, aber nicht ohne weiteres ersichtlich sind.
Ein Parlamentarier, der sich auf Grund einer anstehenden Abstimmung oder einer Gesetzesvorlage innerhalb kurzer Zeit informieren muss, könnte durchaus in eine solche Falle tappen, oder vielleicht sogar wider besseren Wissens tappen müssen, einfach weil die Komplexität mancher Thematiken und der Zeitdruck entsprechend gelagert sind, und vielleicht niemand anders Informationen anbietet.
In einer Radiodiskussion ging es neulich darum, ob man Volksentscheide in Deutschland auch auf Bundesebene zulassen sollte. Die Diskussionsführung und die Art und Weise der Argumentation der Gegner hat meine bisher eher restriktive Meinung hierzu aufgeweicht.
Als einer der Gründe, warum man Volksentscheide auf Bundesebene NICHT zulassen sollte, wurde verblüffenderweise der Lobbyismus angeführt. Die Vertreter des Status quo meinten tatsächlich, ein Abgeordneter sei besser davor gefeit, den einzelnen Lobbygruppen zu widerstehen als das »Volk«, welches in einer Medienkampagne manipulierbar wäre. Dass es genügend Beispiele dafür gibt, wie Lobbygruppen Gesetzestexte praktisch formuliert hattenm wurde nicht thematisiert. Als Grund, den Lobbyismus nicht zu verteufeln kann man tatsächlich anführen, dass, wenn alle Interessengruppen gleichermaßen Lobbyismus betreiben, eine Art Ausgleich entsteht. Dies auf einige wenige Entscheidungsträger zu fokussieren, ist allerdings nicht ganz ungefährlich, da nach außen nur die publizierten Lobbykampagnen sichtbar sind – die »versteckten« jedoch eher nicht.
Dennoch habe ich vor Lobbyisten merkwürdigerweise wenig Angst. Der Zeitgeist bestimmt eh die Richtung. Galt es in den 90er und 00er Jahren als Konsens, gegen Atomkraft zu sein, wird dies politisch jetzt wieder opportun – um nur ein Beispiel zu nennen. Die Solarenergie-Lobby spielt dabei zwar eine Rolle, aber nicht die entscheidende. Die Atomlobby in Deutschland ist allerdings ziemlich blöde: Sie schaltet in vielen überregionalen Zeitungen eine ganzseitige Anzeige, um Laufzeitverlängerungen durchzusetzen und wenig Geld dafür zu bezahlen. Damit provoziert man exakt das Gegenteil. Sie haben das Prinzip Merkel nicht verstanden. Wer sich zuerst bewegt, hat verloren...
Was ich vergessen habe
Der EU-Abgeordnete Karas (ÖVP) meinte unlängst er sein auch ein Lobbyist. Mich enttäuscht das, weil es ein Politikverständnis offenbart, das ich für kontraproduktiv halte, und das sich vom diskursiven Ideal abwendet (vor allem auch weil der Betreffende ein Bürgerforum Europa 2010 ins Leben gerufen hat – was soll man nun davon halten?). Aber vielleicht sehe ich das zu eng...
Noch ein Nachtrag
Und wenn Politiker grundsätzlich Lobbyisten wären, dann stünde der Bürger tatsächlich als eine Art letzter Trottel da...
Naja, wenn man den Begriff des Lobbyismus derart weit ausdehnt, dann wäre auch jeder Bürger ein Lobbyist in eigener Sache. Natürlich ist ein Repräsentant kein Eunuch, der meinungs- und lebensfrei auf die Welt kommt.
Karas’ Haltung, ein Papier nicht zu unterschreiben, welches sich gegen den EInfluss von Finanzlobbyisten ausspricht, ist m. E. vollkommen richtig. Ich verstehe das Gejammer nicht. Er sagt ja durchaus: Ich entscheide, mit wem ich mich treffe. Wenn man jetzt quasi als Gegenpol mehr alternatives Lobbying nachfragt, ist das – da stimme ich ihm ebenfalls zu – ein Eingeständnis der eigenen Überforderung. Statt Gegenlobbyismus einzufordern, sollten die entsprechenden Repräsentanten vielleicht ein bisschen Weltwirtschaft pauken?!
Karas sagt nichts anderes: Ich entscheide selbständig – als »Sprecher der Zivilgesellschaft«. Das meint er damit, wenn er sich als Lobbyist in eigener Sache sieht.
Karas Haltung das Papier nicht zu unterschreiben ist auch völlig in Ordnung. Er sagte, dass er Lobbyist sei, insofern [als dass] ich für das, was ich für richtig halte, lobbyiere. Dafür versuche ich Mehrheiten zu finden und Akteure zu beeinflussen.
Im Idealfall sollte sich Politik (in einer Demokratie) vor allem auf Kritik und Argument beziehen. Realistischer gesehen, wird das nicht immer der Fall sein, und es ist auch gar nicht illegitim, aber es gibt eine Grenze, die leider immer öfter überschritten wird. Das Resultat ist dann genau jene (Europa)Politik die wir bis zum Überdruss kennen, und die nichts anderes als Werbungs- und Überzeugungsarbeit am Bürger ist – mit Kritik und Argument hat sie nichts mehr zu tun. Und genauso kann man Karas’ Satz verstehen, und zumindest erscheint er mir bedenklich für jemanden, der ein Bürgerforum initiiert das sich (auch) kritisch mit Europa auseinandersetzen soll.
Es ist ja nicht einmal...
»Werbungs- und Überzeugungsarbeit«. Es ist blosse, primitive, Propaganda (ich weiss sehr wohl um die Dimension dieses Wortes; es ist bewusst gewählt). Dabei schreckt man vor Falsch- und Halbwahrmeldungen nicht zurück, preist etwas, was mit dem eigentlichen Gegenstand (der EU) nichts zu tun hat. In Deutschland reduzierten sich die Feierlichkeiten zum 50. Jubiläum des EWG-Vertrages 2007 darauf, Kinder und Jugendliche zu zeigen, die das »freie Reisen« als Errungenschaft priesen. Das ist zweifellos schön, aber nach mehr als 50 jahren als Quintessenz einer viermal (oder mehr?) umbenannten Organisation ein bisschen wenig. Wenn es besonders schlecht um die EU in der öffentlichen Meinung steht, gibt es irgendeine Initiative eines Kommissars, der die Handy-Gespräche im Ausland verbilligt. Das wird dann als Vorteil der EU dargestellt. Dabei könnte der Verbraucher für jedes Auslands-Handygespräch locker das Fünffache bezahlen, wenn man ihm das Geld, was er über Steuergelder an die EU abführt, lassen würde.
Karas’ Satz, er lobbyiere für das, was er für richtig empfindet, ist m. E. der Kernsatz, der das Repräsentationswesen in der Demokratie befragt. Letztlich ist es unmöglich, alle Bürger zu repräsentieren. Das gelingt noch nicht einmal mit allen Wählern – selbst hier gibt es immer Differenzen. Der gewählte Repräsentant ist also immer das »kleinste Übel«. Meine Stimme für ihn ist ein Vertrauensvorschuss. Die Übereinstimmungen mit ihm sind am höchsten – daher wähle ich ihn. Fällt er in irgendeiner Form ab (oder ich habe mich geirrt), wähle ich ihn nicht mehr.
Wir sollten die Entsakralisierung der Politik betreiben, damit sie nicht von anderen betrieben wird. Zum Beispiel: Ein Kompromiss ist nicht faul, er ist eine Entscheidung, die konsensuell gefunden wurde.
Ein hartes Urteil, aber wahrscheinlich zutreffend (außer man ist sehr wohlwollend). Und manch einer wird sagen: Das Wahlvolk bekommt, was es verdient.
Was soll das Ziel der Entsakralisierung sein? Eine nüchterne Sicht von Politik?
Eine »Entsakralisierung« der Politik wäre das Gegenteil dessen, was alle derzeit wünschen, die vom Phänomen Obama schwadronieren. Man sieht ja, wie schnell hier Ernüchterungen auftreten können. Politik sollte sich nicht mit der Aura des »Wir machen das schon« umgeben, sondern Perspektiven für mittel- und langfristige Entwicklungen aufzeigen. Dazu gehört das EIngeständnis, dass es heutzutage in kaum einem Politikfeld eine »richtige« und »falsche« Politik gibt, sondern nur das weniger falsche getan werden kann. Das Wahlvolk sollte nüchtern über Folgen von Entscheidungen aufgeklärt werden. Dann sollten die getroffenen Entscheidungen eine gewisse Zeit bekommen, um ihre Wirkung zu entfalten. Ergänzungen sollten vorgenommen werden, aber nur, solange die Basis einer Entscheidung nicht ausgehöhlt wird.
Bestes Beispiel in Deutschland: Rente mit 67. De facto ist das für viele der heute 40–50jährigen eine Rentenkürzung, da sie spätestens mit 62, 63 aus ihrem Arbeitsplatz gedrängt werden. Entweder sie versorgen sich dann die Zeit bis zur Rente von ihrem Ersparten (was kaum jemand vermag) oder man nimmt Abschläge bei der Rente in Kauf – die übrigens dauerhaft sind. Das wusste man, als man diese Entscheidung traf – wollte man aber natürlich nicht sagen. Inzwischen ist die SPD, die das federführend beschlossen hatte, nicht mehr an der Regierung und stellt auf einmal fest: Das ist ja eine Rentenkürzung – und beharrt darauf, die »Rente mit 67« auszusetzen, bis 50% der über 60jährigen sozialversichungspflichtig beschäftigt sind. Also nie. So macht man keine Politik.
Richtige Politik wäre gewesen, die Beitragsbemessungsgrenze für die Rentenversicherung anzuheben, die Möglichkeiten der »Frühverrentungen« für Unternehmen auf Kosten der Sozialkassen abzuschaffen, die Renten ab einer gewissen Summe einzufrieren und dann erst diese »Rente mit 67« einzuführen.
In anderen Politikfeldern rudert die SPD jetzt auch zurück. Aber was ist das ein Bild von Politik: Eine Partei ist 11 Jahre an der Regierung bzw, an einer Regierung beteiligt. Und anderthalb Jahre nachdem sie nicht mehr in der Regierung ist, stellt sie all das, was sie in den 11 Jahren vorher (mit)beschlossen hatte, in Frage.
Und das, obwohl man dies damals als tolle und absolut notwendige Reformen feierte. Die Sache selber wird durch diese Form der »Politik« nicht mehr gelöst, sondern nur auf Schlagworte, die den jeweiligen Zeitgeist treffen, reduziert. Das geschieht aber nur, weil man vorher die Erwartungen derartig hochgeschrieben hat. Die Desillusionierung folgt auf dem Fuße – und wird aus Gründen des Populismus auch noch forciert.
Noch kurz ein anderes Beispiel – die deutsche Einheit. Ein Musterbeispiel für überzogene Erwartungshaltungen, die man ungehindert zugelassen hatte. Führende Politiker der damaligen Zeit sprachen von der »Portokasse«, mit der die Einheit zu »finanzieren« sei. Das Gegenteil war der Fall – die Firmen wurden abgewickelt bzw. mussten (nach volkswirtschaftlichen Rechnungen) abgewickelt werden. Man bezahlte den Leuten lieber die Arbeitslosigkeit. Hohe Erwartungen konnten nicht eingelöst werden. Hätte man das alles eine Nummer kleiner gemacht und die Leute »mitgenommen« statt zu alimentieren, wäre es anders ausgegangen.
Schöne Beispiele
Das wäre ein sehr vernünftiger Ansatz, aber gerade die Vorwahlen wie sie in den USA stattgefunden haben, produzieren einen anderen Stil – oder sagen wir: Weil sich einer (eine Partei) dementsprechend verhält, tun es die anderen auch (buhlen um Wähler, Werbung, verkaufen eines bestimmten Erscheinungsbilds, etc.). Es liegt scheinbar nicht im Interesse der Politiker entsakralisierend zu wirken, weil sie anders (noch genug) Erfolg haben.