»Porträt eines Provokateurs« nennt der Verlag (?) Julia Enckes Buch »Wer ist Michel Houellebecq«. Und fast hätte es dazu geführt, dass ich es nicht gelesen hätte, denn »Provokateur« oder dann die im Inhaltsverzeichnis kapitelmässigen Überschriften wie »Der Schriftsteller«, »Der Romantiker« oder gar »Der Visionär« lassen das Schlimmste befürchten. Derart konditioniert bin ich dann doch ans Lesewerk gegangen. Und am Ende aufatmend: Nein, dieses Buch ist kein feuilletonistischer Schmock, keine mit Aufdeckerpose verfasste, sensationsheischende Pseudodeutungsmaschinerie. Julia Encke gelingt – so viel sei vorweg genommen – ein dezidiertes Bild über Leben und Werk eines der am meisten zitierten zeitgenössischen europäischen Schriftstellers.
Schon im Vorwort zeigt die Verfasserin wie Houellebecq in der Öffentlichkeit »planmässig die Grenzen von Figuren- und Autorenrede« verwischt und vorgibt »die daraus resultierende allgemeine Aufregung nicht zu verstehen«. Dabei werden die medialen Aufgeregtheiten, die meist aufgrund von Äußerungen in Interviews und Gesprächen hochkochen, von ihm nicht nur in kauf genommen, sondern regelrecht gepflegt. »Was er [Houellebecq] in Abrede stellt, ist eine Übereinkunft: nämlich die, dass Literatur und öffentliche Rede zwei unterschiedliche Orte des Sprechens sind, mit denen sich auch unterschiedliche Regeln des Sprechens verbinden«. Der Nachteil dieses Verfahrens ist die Verschmelzung von Werk bzw. den Hauptprotagonisten in seinen Werken (die sehr häufig den Vornamen »Michel« tragen) mit der realen Person Houllebecq. Literaturwissenschaftlich ist dies mindestens in Deutschland fast ein Sakrileg, aber Houellebecq schert sich, wie Encke deutlich macht, um solche Befindlichkeiten nicht. Der Preis dafür ist gewollt: Missverständnisse, Vereinnahmungen, voreilige Rückschlüsse von realer Person auf Protagonisten und vice versa. Aber eben auch Aufmerksamkeit.
Deutlich wird Encke wenn es um die allzu einfache Verknüpfung zwischen Fiktion und Autobiographischem geht: »Die Bezüge sind da, und natürlich schöpft er schreibend aus dem Vollen. Bloß präsentiert er…dabei zum einen immer nur eine Wahrheit, nämlich seine eigene. Zum anderen wählt er aus, verfremdet, übertreibt. Er fiktionalisiert; und erzeugt damit jenen Bedeutungsspielraum, mit dem er Gewissheiten – und das heißt auch: biographische Gewissheiten – erschüttern will und den Zweifel nährt. Das Spiel mit wiedererkennbaren Details, die auf das Leben oder die Person des Autors verweisen, gehört somit zu seinen literarischen Verfahren.«
Das ist natürlich bei nahezu allen Autoren der Fall. Encke weiß das und versucht im weiteren Verlauf ihres Buches die sich verlockenden autobiographischen Lesarten, die vom Autor »plakativ« eingesetzt und von Feuilletonisten für schnelle und bequeme Deutungen gerne verwendet werden, so oft dies möglich ist beiseite zu lassen. Das ist schwieriger als gedacht und so ganz kann sie sich davon nicht freimachen, wie man dies beispielsweise an der Schilderung des Zustandekommens des Brief- bzw. Mailwechsels zwischen Bernard-Henry Lévy, dem linken Vorzeigeintellektuellen Frankreichs und Houellebecq erkennen kann. Angeblich habe Houellebecq BHL eines Tages eine SMS mit Selbstmorddrohung geschickt – worauf es dann zum Kontakt gekommen sei. Wer’s glaubt…
Obwohl Encke etliche der bekannten Fotografien mit Houellebecq abdruckt (inklusive ein Bild mit »seinem Welsh Corgi Clément«), versucht sie sich immer wieder behutsam mit dem Werk zu beschäftigen ohne dabei in abstraktem Ästhetizismus abzuschweifen. Natürlich kommen Houellebecqs Vorbehalte zu »68« zur Sprache, jene von ihm als »dunkle Seite des gesellschaftlichen Umbruchs« interpretierte Zeitenwende, die in vielen Büchern die Protagonisten zu einsamen, fast verlorenen Helden werden lässt.
Es besteht kein Zweifel daran, dass hier autobiografische Bezüge mitspielen. Aber Encke zeigt sehr schön, dass es um mehr geht als Biographismus und sogenannte antimoderne Affekte oder gar reaktionäre Sichtweisen. Dies Houellebecq vorzuwerfen zeugt von wenig Auseinandersetzung – ein billiger, aber durchaus verfänglicher Affekt, der zwar einerseits den Autor in das öffentliche Interesse rückt, andererseits jedoch die Rezeption erschwert, weil sie mit derlei Vorurteilen stark kontaminiert ist. Man darf eben nicht in die Fallen tappen, die Houellebecq selber auslegt.
Als Beispiel mögen hier die zuweilen pornografischen Darstellungen in Houellebecqs Büchern dienen. Die gängige Deutung der »sexuellen Befreiung«, die als »Triumph über die Entfremdung in der autoritären Gesellschaft gefeiert« wird, zeigt sich bei Houellebecq häufig genug (beispielsweise in »Elementarteilchen«) als »letzte und entscheidende Strategie des freien Marktes zur Zerstörung des Paares und der Familie, das heißt, der noch verbliebenen Gemeinschaften«. Der sexuelle Liberalismus als »Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen«. Die legalisierten Rauschhöhlen der frierenden Stacheltiere des 21. Jahrhunderts sind Swingerclubs.
Dem gegenüber setzt Houellebecq etwas furchtbar Altmodisches, ja, so möchte man seinen Gegnern zurufen, durchaus »Reaktionäres«: die Liebe. Der Zukunft einer sich selbst überwindenden Menschheit – das Ende in »Elementarteilchen« – wird der letzte Satz »Dieses Buch ist dem Menschen gewidmet« entgegengestellt. Später heißt es von Encke bei der Besprechung zu »Die Möglichkeit einer Insel«– leicht schlagwortartig – Houellebecq sei ein »Romantiker«: Unaufhaltsam sei der Mensch dabei, sich selbst abzuschaffen, aber der Dichter setze dem die »romantische Sehnsucht« entgegen, einer Sehnsucht »nach dem Unwiederbringlichen« – freilich einer unerfüllbaren in dieser Welt des Übermorgen, in der der Roman spiele. Houellebecq sei schwermütig, »unversöhnt mit sich selbst«. Und, so möchte man ergänzen, unversöhnt mit dem, was man einst »Moderne« nannte und inzwischen längst »Kapitalismus« heißt.
Die stetig fortschreitende Entfremdung des Gegenwartsmenschen durch sich selbst ist das durchgängige Thema Houellebecqs. Die Errungenschaften der Zeit sind nur Surrogate. Als »falscher Realist« hat sich Houellebecq selbst bezeichnet – im Gegensatz zu Balzac, den er verabscheut als den Chronisten ohne Hoffnung. Aber wo ist die Hoffnung bei Houellebecq? Man muss sie, so Encke, freilegen; fast wie ein Archäologe. Das sind Deutungen, die überzeugen, dem (potentiellen?) Leser Spielraum lassen, die sich nicht anbiedern an den Autor.
Anerkennung erntete Houellebecq für sein romantisches Ideal nicht. Vielleicht deshalb dann plötzlich ein Buch auf Sparflamme? Bei »Karte und Gebiet«, einer Satire auf die Pariser Kunst- und Kulturszene (mit Echtnamen!) und vor allem auf sich selber waren sich alle plötzlich einig – und Houellebecq ließ dies zu. Encke beschreibt, wie der (französische) Betrieb mit dem unlängst noch als Reaktionär beschimpften Autor umging, um ihn herum scharwenzelte. 2010 gewann er (endlich!) den Prix Goncourt. Die Autorin versucht erst gar nicht, diese Euphorie zu erklären. Unglaublich und unerwartet – so lautet ihr Urteil. War der Verzicht auf die doppelbödigen Effekte ein Kalkül, um endlich die literarische Anerkennung zu finden?
Ausgerechnet im letzten Kapitel um Houellebecqs »Unterwerfung« gerät Encke ein bisschen ins Schwimmen. Das hat weniger mit der eigentlich falschen Kapitelüberschrift »Der Visionär« zu tun (weder erkennt Houellebecq den Charlie-Hebdo-Anschlag noch hat er etwas damit zu tun, dass der Ersterscheinungstag des Buches auf den Tag des Attentats fällt), als mit der Deutung. Um Houellebecq vor den (unsinnigen) Vorwürfen der Islamophobie in Schutz zu nehmen, verfällt Encke immerhin nicht in die Falle, die Geschichte der demokratischen Übernahme der Staatsgewalt durch einen gewählten muslimischen Präsidenten als Satire zu interpretieren. Es gehe, so Encke, hier nicht um den Islam, sondern um die Kollaboration, »die in Frankreich immer auch das Vichy-Regime als Gespenst der Vergangenheit anklingen lässt.« Es ginge darum, dass die Werte der französischen Republik keine Anhänger mehr habe bzw. aufgrund der Tatsache, dass die rechtsradikale Marine Le Pen als »Alternative« in der Stichwahl stehe, die gesamte politische Elite des Landes das kleinere Übel – den Muslimführer Ben Abbes – empfehlen, ohne die Konsequenzen zu berücksichtigen. So geschieht es denn auch. Dabei erstaunt weniger die Wahl an sich sondern die Bereitschaft der Gesellschaft, sich den neuen Regeln, den »islamischen Geboten und Verboten« nahezu widerspruchslos unterzuordnen. Es erfolgt zügig eine »Rückabwicklung der emanzipierten Moderne«.
Hier berührt Encke zweifellos einen wichtigen Punkt. Und: Ist es nicht sowohl Houellebecq selber wie auch seine Protagonisten, die den Errungenschaften der Moderne (siehe oben) skeptisch gegenüber stehen? Verfällt deshalb die Hauptfigur des Buches – die diesmal nicht Michel heißt, sondern François (der kleine Franzose!) – am Ende dem strukturiert daherkommenden Islam?
Das Buch sei, so Encke, ein Panorama der französischen Gesellschaft. Das ist richtig. Aber es ist auch mehr: Moderne, Demokratie, Laizismus und Sozialstaat – das Quartett vermag den müde gewordenen Professor François genauso wie die Beschäftigung mit seinem literarischen Spezialgebiet nicht mehr zu begeistern. Und wie in den anderen Büchern Houellebecqs ist der Sex rein mechanische Triebabfuhr – meist nur noch am Computer bei Pornovideos. François beginnt zu suchen. Er sucht eine Transzendenz, einen metaphysischen Überbau, wendet sich dem Katholizismus zu, wird aber enttäuscht, da dieser bereits zu stark eingebunden ist in die bestehende Ordnung. Der Gipfelpunkt ist der Rauchmelder in der Klosterstube – jede Spiritualität geht hier verloren. Gesucht wird streng genommen nicht Religion, sondern ein Halt, eine Gemeinschaft. Und außerdem ist François fasziniert von der Intelligenz und Konsequenz des Religionsführers, seinen Gefolgsleuten und den Gläubigen, die etwas haben, woran sie glauben können.
Michel Houellebecqs einstige negative Bemerkungen über den Islam (die Encke natürlich zitiert) haben bei einigen Rezensenten den Blick getrübt. »Unterwerfung« ist das Gegenteil von islamophob. Der Islam wird hier zur letzten gemeinschaftsbildenden Folie; alle anderen Systeme – Nationalismus, Kommunismus, Kapitalismus – haben versagt, nicht zuletzt weil sie keinen spirituellen Überbau boten. Die Nachteile des islamischen Gesellschaftszusammenhangs werden allerdings auch gleich benannt: Unbedingter Gehorsam. Für die Zeit des Übergangs wird denen, die nicht mitmachen, eine üppige Verrentung in Aussicht gestellt. François überlegt. Aber was kommt danach?
Das ist alles nicht visionär und auch nicht, wie Encke später schreibt, prophetisch. Hierfür ist der zeitliche Rahmen zu eng gesteckt – das Buch spielt 2022. Eine inhaltliche Schwäche des Romans, aber Houellebecq wollte unbedingt das bestehende politische Personal des Jahres 2015 bashen. (Einen Macron hat er nicht gesehen – wie auch?) Auch die Idee einer Art von molekularem Bürgerkrieg (diese Formulierung von Enzensberger, die einem dazu einfällt) ist nicht schlüssig ausgearbeitet.
Aber berührt werden eben doch die Grundfesten unserer Gesellschaftsordnungen, wie auch die anderen Bücher, in denen das Verschwinden der menschlichen Zuwendungen zu Gunsten eines überbordenden kapitalistisch motivierten Individualismus, subkutan thematisiert wird. In »Unterwerfung« schimmert die Sehnsucht nach Gemeinschaft besonders deutlich durch. Auch hier ist Houellebecq – wenn das Attribut einmal gestattet ist – Romantiker.
Julia Enckes Buch ist eine mehr als gute Einführung in Houellebecqs Werk, das, wenn man es derart ausgebreitet sieht, noch fast überraschend übersichtlich erscheint. Ihr Portrait ist leicht geschrieben, aber nicht seicht. Mit voreiligen Zuweisungen hält sich die Autorin wohltuend zurück. Im Zweifel nimmt sie sanft Partei für Houellebecq, verschweigt aber auch dessen Flops nicht, seine bisweilen heraustretende Misogynie, seine Faszination sektiererischen Organisationen gegenüber. Ein summa summarum sehr gelungenes Buch.