Kaf­kas Dop­pel­bot­schaf­ten

In Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re gibt es ei­ne Sze­ne, wo der jun­ge Mann, al­so der Ti­tel­held, sei­ne Ma­nu­skrip­te ver­brennt. Die­se »dich­te­ri­schen Ver­su­che« wa­ren wäh­rend der er­sten Lie­bes­lei­den­schaft sei­nes Le­bens zu­stan­de ge­kom­men; jetzt aber, nach der Tren­nung von sei­ner Ge­lieb­ten, be­fin­det er sie für wert­los. Sein durch und durch ra­tio­nal den­ken­der Freund Wer­ner, ein Kauf­mann, kommt da­zu, er will ihn an dem Ver­nich­tungs­werk hin­dern. Wil­helm in­si­stiert, ein Ge­dicht müs­se ent­we­der vor­treff­lich sein, oder es sol­le gar nicht exi­stie­ren. Wer­ner wi­der­spricht: Wenn je­mand zu ei­ner Tä­tig­keit Ta­lent und Nei­gung ha­be, soll er sie doch aus­üben, auch wenn kei­ne voll­kom­me­nen Er­geb­nis­se zu er­war­ten sind. Der jun­ge Wil­helm ist nicht nur in die­ser Si­tua­ti­on ra­di­kal, er geht stets aufs Gan­ze. Wer­ner rät zur Mä­ßi­gung, man sol­le sich auch mit Teil­erfol­gen zu­frie­den­ge­ben.

Ei­ne ähn­li­che Kon­stel­la­ti­on be­stand zwi­schen Franz Kaf­ka und sei­nem Freund Max Brod, der als Dich­ter und di­let­tie­ren­der Mu­si­ker im­mer auch ein we­nig kauf­män­nisch dach­te. In ei­nem Ta­ge­buch­ein­trag vom Au­gust 1914, we­ni­ge Ta­ge nach Aus­bruch des er­sten Welt­kriegs, sieht Kaf­ka sich selbst zur Spit­ze ei­nes Bergs flie­gen, wäh­rend an­de­re Au­toren sich in tie­fe­ren Re­gio­nen mü­hen, frei­lich mit viel grö­ße­ren Kräf­ten als er selbst. Es fehlt ihm an Aus­dau­er, Ge­sund­heit, Kom­pro­miß­be­reit­schaft, Sinn fürs So­zia­le, um sich dau­er­haft an der Spit­ze des Olymps zu eta­blie­ren. Was er be­sitzt, ist ein »traum­haf­tes in­ne­res Le­ben« und die Fä­hig­keit, sich der In­spi­ra­ti­on zu öff­nen, die ei­ner un­sicht­ba­ren Tür zu je­nem Traum­le­ben gleicht. Die Tür ist oft, manch­mal mo­na­te­lang, ver­schlos­sen, Kaf­ka müht sich ver­ge­bens um Ein­laß. Sein Le­ben ver­läuft zwi­schen zwei Re­gio­nen, die ihm ver­wehrt sind: auf der ei­nen Sei­te die Ehe, die Fa­mi­lie, die bür­ger­li­che Exi­stenz; auf der an­de­ren Sei­te der Olymp mit sei­nen Hier­ar­chien. In bei­den Re­gio­nen ist er be­sten­falls Gast. An­de­re sind in der La­ge, bei­de zu ver­ein­ba­ren, zum Bei­spiel der ho­mo­se­xu­el­le Tho­mas Mann, der ei­ne Fa­mi­lie um sich er­rich­te­te, die ihn da­vor be­wahr­te, ein Au­ßen­sei­ter zu wer­den. Kaf­ka blieb es zeit­le­bens, über­all. Die Vi­ru­lenz sei­ner Träu­me ließ ihn nicht schla­fen, er muß­te sie zu Pa­pier brin­gen und dort wei­ter ent­fal­ten, aber oft war ihm auch dies ver­wehrt, so ver­harr­te er dann wie ge­lähmt zwi­schen dem Hier und dem Dort.

Was er­war­te­te er sich von der Ehe? Be­ru­hi­gung, gu­ten Schlaf, ei­ne Ni­sche im Bür­ger­li­chen. Manch­mal so­gar: in Ru­he schrei­ben kön­nen, ir­gend­wo in der mitt­le­ren Zo­ne ar­bei­ten, nicht oben auf dem Olymp, son­dern im Wein­berg der Li­te­ra­tur. Aber der­lei Be­ru­hi­gun­gen lehn­te er zu­gleich ab, er hin­ter­trieb sie un­er­müd­lich. Kaf­ka konn­te nicht an­ders schrei­ben als in Wel­len, in klei­ne­ren, manch­mal nacht­lan­gen Erup­tio­nen oder – die Ro­ma­ne – in Rie­sen­wel­len, Tsu­na­mis gleich­sam, wo­bei er an­fangs dach­te, daß er kei­nen lan­gen Atem be­sit­ze und Kurz­for­men das ihm ent­spre­chen­de Gen­re sei­en. Doch der Lun­gen­kran­ke schaff­te wi­der die ei­ge­nen Wahr­schein­lich­kei­ten auch das, den gro­ßen Ro­man, ob­gleich er nie ei­nen »voll­ende­te«. Kaf­kas Ro­ma­ne sind ten­den­zi­ell un­end­lich, als sprach­li­che Ge­bil­de aber na­tur­ge­mäß end­lich: ein Wi­der­spruch, der sich nie­mals auf­he­ben läßt. Hier die kur­zen, viel­deu­ti­gen Pa­ra­beln, dort die rie­si­gen Frag­men­te. Und nichts in der Mit­te, kein ein­zi­ges wohl­kon­stru­ier­tes Werk, nur die Gip­fel­flü­ge und das Zer­schel­len am Bo­den, die an­hal­ten­de De­pres­si­on. Und da­zu die dau­ern­de Selbst­re­fle­xi­on, die Re­chen­schaft über die­se Pro­zes­se des Schrei­bens wie des Nicht­schrei­bens, und den an­de­ren Pro­zeß der ver­geb­li­chen, viel­leicht auch nur ein­ge­bil­de­ten, her­bei­ge­schrie­be­nen Lie­be zum Le­ben, zu ei­ni­gen Frau­en, von de­nen die am mei­sten um­wor­be­ne, Fe­li­ce Bau­er, über­haupt nicht zu ihm paß­te.

Mit Fe­li­ce ver­brach­te Kaf­ka ins­ge­samt nur we­ni­ge Ta­ge, aber die Brie­fe, die zwi­schen ih­nen ge­wech­selt wur­den, ge­hen in die Hun­der­te. Im Jän­ner 1915 tref­fen sie sich für zwei Stun­den in Bo­den­bach, ei­nem klei­nen Ort an der Gren­ze zwi­schen Deutsch­land und Böh­men, auf hal­bem Weg zwi­schen Ber­lin und Prag, und was macht Fe­li­ce? Sie stellt die Uhr ih­res Freun­des, die er be­wußt an­dert­halb Stun­den vor­aus­ge­hen läßt, auf die »rich­ti­ge« Zeit, wie es sich im bür­ger­li­chen Le­ben ge­hört. Kaf­ka war ein no­to­ri­scher Zu­spät­kom­mer, nicht weil er schlam­pig ge­we­sen wä­re – das Ge­gen­teil war der Fall, er war über­ge­nau –, son­dern weil er in ei­ner an­de­ren Zeit leb­te und mit der ma­the­ma­ti­schen nicht um­zu­ge­hen wuß­te. Man denkt an die Pa­ra­bel Gibs auf; die Über­schrift stammt von Max Brod, der Kaf­ka zwar, viel­leicht als ein­zi­ger, ver­stand, aber ihn trotz­dem auch ein we­nig wie Fe­li­ce be­han­del­te, weil er dies für le­bens­not­wen­dig hielt (Brods Prag­ma­tis­mus hat uns ei­nen gro­ßen Teil von Kaf­kas Werk ge­ret­tet). Die Per­son, die in der Pa­ra­bel zum Bahn­hof will, ist viel zu spät dran. Von der vor­ge­stell­ten Uhr moch­te sich Kaf­ka er­war­tet ha­ben, im­mer recht­zei­tig zu kom­men, ob­wohl er zwei­fel­los wuß­te, daß auch die­se Maß­nah­me nichts nütz­te. »Von mir willst du den Weg er­fah­ren«, ant­wor­tet der Schutz­mann auf die Fra­ge des Ver­irr­ten. Es gibt kei­nen Weg, je­den­falls nicht für den aus der Zeit Ge­fal­le­nen. »Es gibt kei­nen Weg«, sagt ein Kaf­ka­scher Apho­ris­mus; »was wir Weg nen­nen, ist Zö­gern.« Und Kaf­ka, im wirk­li­chen Le­ben, Kaf­ka in love, er zö­ger­te, ver­trö­ste­te, konn­te sich nicht ein­las­sen und auch nicht lö­sen. Ei­ne Wan­de­rung auf dem Draht­seil, oder bes­ser: auf dem Sta­chel­draht. Links der Berg, rechts der Ab­grund.

Im Ok­to­ber 1921 er­zählt Kaf­ka im Ta­ge­buch ei­ne sehr ein­fa­che Ge­schich­te oh­ne li­te­ra­ri­schen An­spruch: Im Kreis sei­ner Fa­mi­lie wird er abends zum Kar­ten­spiel ein­ge­la­den; er lehnt ab. Die­ser Vor­gang hat­te sich in sei­nem Le­ben schon oft wie­der­holt. Kaf­ka weiß, daß er oh­ne wei­te­res hät­te mit­spie­len kön­nen, es wä­re nicht dar­um ge­gan­gen, gut zu spie­len oder zu ge­win­nen, son­dern ein­fach nur, am ge­mein­schaft­li­chen Le­ben teil­zu­neh­men. Ei­ni­ge Ta­ge spä­ter ver­sucht er es dann doch ein­mal, er nimmt am Kar­ten­spiel teil, das wohl – oh­ne gro­ße Sym­bo­li­sie­run­gen – für Ge­sell­schaft an sich steht, doch er emp­fin­det da­durch kein »Nä­her­sein«, son­dern nur »Mü­dig­keit, Lan­ge­wei­le, Trau­er über die ver­lo­re­ne Zeit«, die er fürs Schrei­ben hät­te nut­zen kön­nen – was ihm dann, wie wir aus vie­len an­de­ren Ta­ge­buch­ein­trä­gen wis­sen, oft nicht ge­lang. Kaf­ka kom­men­tiert da­zu, der ihm zu­kom­men­de Ort sei das »Grenz­land zwi­schen Ein­sam­keit und Ge­mein­schaft«; er ha­be sich dar­in »mehr an­ge­sie­delt als in der Ein­sam­keit selbst«. Von die­sem Ort zwi­schen den Or­ten, fü­ge ich hin­zu, hat man den klar­sten, schärf­sten Blick auf das Le­ben der Ge­mein­schaft. Kla­rer viel­leicht als aus der Ein­sam­keit. Kaf­ka ist in der Welt­li­te­ra­tur der Kron­zeu­ge für un­se­re The­se, daß die ei­gent­li­che und ra­di­kal­ste, letz­ten En­des aber so­zia­le, weil sprach­be­zo­ge­ne Auf­ga­be der Li­te­ra­tur aus ih­rem aso­zia­len We­sen her­stammt.1

Mi­chel Car­rou­ges und in sei­nem Ge­fol­ge Gil­les De­leu­ze ha­ben Kaf­kas Jung­ge­sel­len­tum ro­man­ti­siert. In Wahr­heit litt er dar­un­ter, such­te nach We­gen, die­sem Zu­stand zu ent­kom­men, fürch­te­te je­doch eben­so die Ehe, das ge­re­gel­te Zu­sam­men­le­ben, das die li­te­ra­ri­sche In­spi­ra­ti­on wo­mög­lich end­gül­tig blockiert hät­te. Im Fol­ter­ap­pa­rat der Straf­ko­lo­nie ei­ne krea­ti­ve Ma­schi­ne zu se­hen, fin­de ich, nach­dem mich der Ge­dan­ke jah­re­lang fas­zi­nier­te, heu­te ab­we­gig. Tat­säch­lich er­fand Kaf­ka hier ein phan­ta­sti­sches Werk­zeug, das der gei­sti­gen und emo­tio­na­len Fol­ter und Selbst­fol­ter durch so­zia­le An­sprü­che, die im wirk­li­chen Le­ben an ihn her­an­ge­tra­gen wur­den und de­nen er sich frei­wil­lig aus­setz­te, ent­spre­chen konn­te. Der gan­ze Pro­zeß der Ver­lo­bung mit und Ent­lo­bung von Fe­li­ce er­scheint in den Brie­fen und Ta­ge­bü­chern als Er­fah­rung des Quä­lens und Ge­quält­wer­dens. Trotz al­lem setz­te Kaf­ka viel dar­an, den Zu­stand des Al­lein­le­bens – ver­bun­den mit der Ab­hän­gig­keit von der Fa­mi­lie, bei der er die mei­ste Zeit sei­nes Le­bens wohn­te, ein Un­ter­mie­ter wie je­ne drei in der Ver­wand­lung – zu über­win­den. Das konn­te er sich nur als An­bah­nung ei­ner Ehe vor­stel­len. In ge­wis­ser Wei­se leb­te Kaf­ka nichts an­de­res als das Le­ben ei­nes jun­gen Man­nes aus der Mit­tel­schicht zu Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts, der un­fä­hig zur Selb­stän­dig­keit ist, weil ein­kau­fen zu ge­hen und zu ko­chen für ihn über­haupt nicht in Fra­ge kommt. An­schei­nend war er auch nicht fä­hig, sich selbst ei­ne Woh­nung zu su­chen. So le­sen wir im Mai 1914 im Ta­ge­buch: »Die El­tern schei­nen ei­ne schö­ne Woh­nung für F. und für mich ge­fun­den zu ha­ben, ich bin nutz­los ei­nen schö­nen Nach­mit­tag lang her­um­ge­stri­chen. Ob sie mich auch noch ins Grab le­gen wer­den nach ei­nem durch ih­re Sorg­falt glück­li­chen Le­ben.« Die Sät­ze ent­beh­ren nicht ei­nes iro­ni­schen Un­ter­tons. Kaf­ka wuß­te, wie lä­cher­lich sei­ne Exi­stenz un­ter bür­ger­li­chem – nicht un­ter künst­le­ri­schem – Ge­sichts­punkt war. Die­se ge­wöhn­li­che, all­zu ge­wöhn­li­che Exi­stenz kommt in Kaf­kas Schrif­ten auf au­ßer­or­dent­li­che Wei­se, das heißt in ih­ren ver­bor­gen­sten Sei­ten, zum Aus­druck.

Kaf­ka er­schien die bür­ger­li­che Ehe mit­samt ei­ner klei­nen Kin­der­schar als selbst­ver­ständ­li­ches Ide­al – und er ahn­te zu­gleich oder woll­te un­ter­be­wußt, daß ihm des­sen Ver­wirk­li­chung ver­wehrt blieb. Be­vor er im Som­mer 1912 Fe­li­ce Bau­er in der Woh­nung der Fa­mi­lie Brod ken­nen­lern­te, ho­fier­te er Frau­en, die ver­hei­ra­tet wa­ren oder aus an­de­ren Grün­den für ei­ne Ver­bin­dung nicht in Fra­ge ka­men. Zum Bei­spiel die Schau­spie­le­rin Ma­nia Tschis­sik, Mit­glied ei­ner jid­di­schen Thea­ter­trup­pe, der er in Ge­gen­wart ih­res Man­nes und ih­rer Kin­der, nicht im Thea­ter, Blu­men über­reich­te. Die­ses be­harr­li­che, oft mi­nu­tiö­se Pfle­gen un­mög­li­cher Ge­füh­le, die nur in Sack­gas­sen en­den konn­ten, hat­te et­was Ego­isti­sches, um nicht zu sa­gen Ego­ma­ni­sches. Kaf­ka ko­ste­te sei­ne Ver­liebt­heits­ge­füh­le aus, ana­ly­sier­te und be­schrieb sie, mach­te sie zu Li­te­ra­tur, und zu­min­dest im Fall Fe­li­ce Bau­ers quäl­te er sei­ne Ge­lieb­te Brief um Brief, die Wor­te selbst wa­ren Fol­ter­ma­schi­ne und Quel­le ei­ner – ich wäh­le das Wort mit Be­dacht – ver­dreh­ten Lust.

Ei­ne in Kaf­kas Wer­ken oft wie­der­keh­ren­de Fi­gur ist der Bo­te, und in man­chen Er­zäh­lun­gen steht ei­ne Bot­schaft im Zen­trum, die erst ent­schlüs­selt wer­den muß, un­be­kannt ist, mög­li­cher­wei­se auch leer, oh­ne In­halt. So in der Pa­ra­bel von der kai­ser­li­chen Bot­schaft, die nie­mals beim Emp­fän­ger, die­sem nied­rig­sten der Sub­jek­te des in­zwi­schen zwei­fel­los längst ver­stor­be­nen Kai­sers, an­kom­men wird. »Nie­mals kann es ge­sche­hen…« Nein, nie­mals kann es ge­sche­hen, die Bot­schaft der höch­sten Au­to­ri­tät, mag es auch der Va­ter sein, der im Ne­ben­zim­mer Kar­ten spielt, kommt nicht an, sie bleibt bei sich und an sich, rei­ne Li­te­ra­tur. Kaf­ka, der Cham­pi­on der Un­mög­lich­keit. Ich ha­be den Ver­dacht, daß die Bot­schaf­ten in sei­ner Li­te­ra­tur wie die in sei­nem Le­ben dop­pelt sind, zwie­fach oder zu­min­dest dop­pel­deu­tig. In der Psy­cho­lo­gie spricht man heu­te von dou­ble bind. Nicht nur sind es zwei ver­schie­de­ne Bot­schaf­ten, sie wi­der­spre­chen ein­an­der, schlie­ßen sich aus. Op­tiert der Emp­fän­ger für ei­ne Bot­schaft oder für ei­ne von zwei mög­li­chen In­ter­pre­ta­tio­nen, wird ihm die an­de­re zum Ver­häng­nis. Er kann es nur falsch ma­chen, kei­ne In­ter­pre­ta­ti­on ist zu­rei­chend. So er­geht es auch K., dem Her­me­neu­ti­ker, der trotz sei­ner im­mer mehr ge­schärf­ten Ver­ste­hens­kunst im­mer tie­fer im La­by­rinth ver­lo­ren­geht, so daß sein Ro­man – der Le­bens­ro­man der Fi­gur – eben kein En­de neh­men kann. Und wenn, dann ein En­de wie im Pro­zeß, blo­ßes Ab­murk­sen, das sich Kaf­ka, der Er­fin­der je­ner phan­ta­sti­schen Fol­ter­ma­schi­ne, vor­sorg­lich aus­ge­dacht hat, weil er ahn­te, daß die (dop­pel­te) Bot­schaft wie­der ein­mal nicht ans Ziel kom­men wür­de.« An K.s Gur­gel leg­ten sich die Hän­de des ei­nen Herrn, wäh­rend der an­de­re das Mes­ser ihm tief ins Herz stieß und zwei­mal dort dreh­te. (…) ›Wie ein Hund!‹ sag­te er, es war, als soll­te die Scham ihn über­le­ben.« Aber das En­de kann man nicht er­rei­chen. Es gibt kei­nen Weg.

Die Scham über­lebt, al­so die Li­te­ra­tur, und nur sie? Was bleibt, sind die For­schun­gen, zu de­nen die Scham den Hund an­treibt? Kaf­ka sah sich selbst im­mer wie­der als Tier, als nied­ri­ges We­sen, Maul­wurf oder Kä­fer, als Un­ge­zie­fer. Tier wer­den, schön und gut, aber ein Ho­nig­lecken ist das nicht. Kaf­kas Nei­gung zur Selbst­er­nied­ri­gung, sei­ne Ten­denz, sich zu ver­gra­ben – um dann mo­ment­wei­se zum Gip­fel auf­zu­flie­gen. Er weiß, er muß und wird schrei­ben, er setzt al­les auf die­se ei­ne Kar­te, aber: »Im Grun­de bin ich ein un­fä­hi­ger un­wis­sen­der Mensch, der wenn er nicht ge­zwun­gen (…) in die Schu­le ge­gan­gen wä­re, ge­ra­de im­stan­de wä­re in ei­ner Hun­de­hüt­te zu hocken, hin­aus­zu­sprin­gen, wenn ihm Fraß ge­reicht wird und zu­rück­zu­sprin­gen, wenn er es ver­schlun­gen hat.« Ge­nau die­se Art von Mensch­lich­keit, dem Tie­ri­schen ver­wandt, über­lie­fert Kaf­ka. Den Na­zis, und nicht nur ih­nen, war sie ein Dorn im Au­ge. Nicht we­ni­ge Per­so­nen aus Kaf­kas Um­feld ha­ben ei­nen Ster­be­ort wie Ra­vens­brück, Ausch­witz, Treb­linka in ei­nem Jahr wie 1942, 1943, 1944: Mi­le­na Je­sens­ká, El­li Kaf­ka, Ott­la Kaf­ka, Ju­lie Woh­ry­zek, Jiz­chak Lö­wy.

Aus der Selbst­er­nied­ri­gung und der sie be­glei­ten­den Scham hebt sich Kaf­kas Schrei­ben. Aus ei­ner mitt­ler­wei­le kaum noch vor­stell­ba­ren Ver­gan­gen­heit in ei­ne mehr als un­ge­wis­se Zu­kunft. Tho­mas Mann mit sei­ner er­zäh­le­ri­schen Iro­nie, die sich für ei­nen so groß­ar­ti­gen wie mit­tel­mä­ßi­gen Schrift­stel­ler schick­te, wür­de bei­den recht­ge­ben, Wil­helm Mei­ster und sei­nem Freund Wer­ner. Nicht nur die Hö­he­punk­te der In­spi­ra­ti­on, je­ne frem­den und be­fremd­li­chen Wer­ke, die durch ein un­glück­li­ches Sub­jekt hin­durch­ge­gan­gen sind, um ih­re pa­ra­do­xe Ge­stalt zu er­lan­gen, sind be­wah­rens­wert, son­dern auch die im Wein­berg der Li­te­ra­tur ent­stan­den, sy­ste­ma­tisch er­ar­bei­te­ten, de­ren kal­ku­lier­te Wi­der­sprü­che sich beim Le­sen, im Ver­ste­hens­vor­gang, auf­lö­sen las­sen. So hat das auch Max Brod ge­se­hen, und er ließ Kaf­kas Di­lem­ma­ta, an­ders ge­sagt: ließ der rein­sten Li­te­ra­tur Ge­rech­tig­keit wi­der­fah­ren, in­dem er das Te­sta­ment mit dem Ver­nich­tungs­auf­trag nicht er­füll­te, son­dern ver­riet.

© Leo­pold Fe­der­mair


  1. Mit "wir" meine ich Olga Martynova und mich selbst. Vgl. Aus der Zukunft des Romans. Zur Relevanz des Schreibens. Hrsg. v. Leopold Federmair und Olga Martynova. Wien 2023 

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