»Dreizehn alltägliche Phantasiestücke« werden in Karl Heinz Bohrers neuesten, posthum erschienenen Buch »Was alles so vorkommt« versprochen. Es beginnt auch sogleich mit einer für Bohrer zum Alltäglichen gehörenden Situation: einer Bahnfahrt von Köln über Brüssel bis nach London. Nur, dass die in einem Hitzesommer stattfindet und, wie sich nach Stunden herausstellt, die Gleise derart von der Sonneneinstrahlung mitgenommen sind, dass man große Umwege und ungewisse Verspätungen zu ertragen hat. »Das bisher als sicherstes geltende System, das so lange Vertrauen erweckende Gefährt, war außer Kontrolle geraten, ohne dass jemand es erklären konnte«, so die wahrhaft existentialistische Erfahrung, die, wie er fast pathetisch schreibt, auch seine Erfahrungen aus der Kriegszeit noch übertreffe.
Zwischendurch fahren Bohrer und (so nimmt man an) seine Frau an Mönchengladbach vorbei, passieren im Schritttempo Geilenkirchen. Er kommt ins Schwärmen, wie er in der Jugend diese Landschaft für sich erobert hatte und räsoniert über die leider stark gesunkene Qualität der Reibekuchen vor dem Kölner Hauptbahnhof. Langsam versagen die Klimaanlagen; in der ersten Klasse zuletzt. Schließlich erreichen sie einen Bahnhof in Belgien, von dem er über die Dörfer nach Brüssel geht. Auch hier kein Luftaustausch möglich; brütende Hitze im Stehen. Statt am frühen Nachmittag geht es um 23 Uhr ab Brüssel nach London. Gegen drei Uhr morgens sind die Bohrers zu Hause.
Der Grundton dieser kleinen Capriccios – alle zwischen 12 und 16 Seiten – ist heiter, aber nicht unernst, leicht und trotzdem gehaltvoll. Dabei sind es häufig Reminiszenzen, Erfahrungen, die Bohrer kühn zwischen Oeuvres von Filmemachern, Literaten oder Künstlern hin- und herspringen lässt und zu überraschenden Kreuz- und Quer-Verknüpfungen und ‑Ableitungen führt. Ob er über Filme, Kinderbücher, Freundschaften, Schlaflosigkeit, das Ressentiment, das Alleinsein oder Fußball nachdenkt – vom allgemeinen geht es immer auch ins Persönliche. Und um Lebensbilanzen, die etwas endgültiges bekommen.
Dabei wird die Anrede »ich« zumeist vermieden. Er bevorzugt von sich in der dritten Person zu erzählen, von sich zu abstrahieren. Dennoch sind die Texte erfahrungsgesättigt und gewollt subjektiv. Bohrers Devise: Das, »was man ‘Geisteswissenschaften’ nennt« und dort »als ‘Geist’ auftritt« ist »eine ganz auf der Subjektivität des Ich begründete intellektuelle Ausdrucksform«. Hingegen transzendierten Naturwissenschaften, »Wissenschaft überhaupt … diese Subjektivität des Ich«. An anderer Stelle wird explizit der Essay gegenüber der wissenschaftlichen Arbeit präferiert. Die Einordnung der »Phantasiestücke« ist also deutlich.
Manches vergisst man von nun an nie mehr. Etwa warum die Grundfarben des Trikots der deutschen Fußballnationalmannschaften schwarz-weiß sind. Oder das Fußball ein Kampfspiel ist, was im Widerspruch zum »Kleinklein der neuspanischen Kreiselspielereien vor dem Strafraum« steht. Man erfährt, dass der Schlaflose ein Grübler, ein Denker ist und das Wort »schlaflos« »einen poetischen Kern« hat, »den das Wort ‘ohne Schlaf’ nicht besitzt.« Bohrer schlägt einen Bogen vom Spiegelbild des Narziss bis »Taxi Driver« (grandios dabei die Szene, als er als Junge während eines Fliegerangriffs über sich selber erschrickt).
So ganz kann er das Referat manchmal nicht vermeiden, etwa wenn es über schöne, hässliche und interessante Städte geht. (»Selbst hässliche Städte können interessant sein und schöne Städte nicht«.) Dabei ist es unerheblich, ob man die Urteile über Paris (»die schönste Stadt Europas«), Rom (einst »Hauptstadt der Welt«) oder London (»Das alte London existiert nicht mehr. […] London verliert sein Herz, jeden Tag mehr.«) teilt. Entscheidend ist das Vergnügen, diesen listigen Hinführungen zu den stets gut begründeten Verdikten zu folgen.
Zu großer Form läuft er in seinen Anmerkungen über die hohe Zeit des Films auf, die für ihn, wenig überraschend, in den 1970er-Jahren endete. Von den Vorkriegsfilmen Marcel Carnés geht es sogleich zu den beiden Grundströmungen des Kinos der 1950er bis 1970er Jahre: »Zum einen die absurd-ironischen Dialogfilme der Nouvelle Vague mit ihren blitzenden Einfällen […] zum andern die mythologisch-epischen Filme«. Exemplarisch wird dies an »Außer Atem« (Godard) und »Der Leopard« (Visconti) ausgeführt. Sie stehen für die Zeit der »großen französischen und italienischen Filme der fünfziger bis siebziger Jahre« – hier »intellektueller Aplomb« (die französischen), dort die »überraschende Bildlichkeit (die italienischen)«. Wer möchte, kann einiges nachholen bzw. nachschauen; die Filmtitel werden erwähnt (leider, ein bisschen versnobt, fast nur immer im jeweiligen Originaltitel).
Vom deutschen Kino lässt er Werner Herzog und Rainer Werner Faßbender gelten, auch zwei Filme von Wim Wenders. Ingmar Bergman ist eine Kategorie für sich, Das Resultat dieser Tour d’Horizon: »Die Epoche des europäischen Films […] ist im Unterschied zur Glorie Hollywoods und der Theologie Bergmans deshalb so exzeptionell, weil ihr sardonischer Angriff auf unseren Zuschauerfrieden ohne eine Idee oder eine Moral auskommt. ‘Außer Atem’ oder ‘Der Leopard’ bleiben daher subversiv in einzigartiger Form.«
Im Text mit dem doppelsinnigen Titel »Literatur verstehen« verfechtet Bohrer hintersinnig den Transzendenz-Gedanken an ein Kunstwerk (der im übrigen nicht metaphysisch konnotiert ist – eher im Gegenteil) und erklärt, warum Realismus nicht genug ist. Der Roman, »sofern er wirklich Literatur ist« sei »keine Nachahmung der Wirklichkeit, sondern entspringt der ästhetischen Illusion.« Jemand wie Balzac schreibe zwar »realistisch«, verwandele seine Inhalte jedoch zusätzlich noch »in hintergründige Gehalte« und löse die »objektive historische Wirklichkeit in subjektive Wahrnehmungen« auf. Eine Darstellung des Alltags im Roman muss dem Leser »nichts Alltägliches vor Augen führ[en], sondern etwas Fremdartiges.« Realität in gelungener Literatur bekommt, so Bohrer, »bei aller Wirklichkeitsdichte einen transrealen Sound.« Er streift Faulkner und Pavese als Belege. Von der zeitgenössischen Literatur fallen ihm nur englischsprachige Autoren ein: Eimear McBride, Edna O’Brien, Ian McEwen und Julian Barnes (letzteren vergleicht er mit Handke – beide hätten »der privaten Erinnerung den Klang des Epos zu geben versucht«).
Aber es gibt auch intime Seiten wie der Exkurs über Freundschaften durch die jeweiligen Lebensepochen hinweg, die kleinen, aber feinen Unterschiede aufzeigend zwischen Kinder‑, Jugend‑, Studenten‑, Universitäts‑, (er kann halt nicht aus seiner Haut) und »Männer»freundschaften. Bohrer nennt zwei Beispiele von Persönlichkeiten, mit denen er auf unterschiedliche Art und Weise befreundet war bzw. ist. Vielleicht können Kenner trotz der mageren Details die Personen entschlüsseln, was jedoch für das Verständnis nicht zwingend notwendig ist. Über die Liebe hingegen gibt es keinen adäquaten Text. Man erfährt lediglich etwas sentimentales über seine Schwärmerei als Kind über dem Bild einer Seejungfrau und die Rundungen von weiblichen Brüsten. Und mit siebzehn immerhin »hatte er sich in ‘Gruschenka’ verliebt, eine Figur aus Dostojewskis ‘Die Brüder Karamasow’ «. Selige Zeit?
Die beiden großartigsten Texte sind jene, in denen Bohrer das Didaktische für einen Moment bändigen kann. Wenn er vom Alleinsein schreibt (es ist, so stellt sich heraus, durchaus auch ein Alleinsein mit seiner Frau), vom Glück des »einsamen Schreibens« und – unabdingbar – Denkens in einem Zimmer (Dürers Melancolia!) als »das Allerbeste, was man tun kann«. Oder auch das Alleinsein inmitten einer Schar Mitschüler – beim Aufsatzschreiben, versunken im Thema. Schließlich gibt es noch die Möglichkeit, aus dem Fenster zu schauen, »der Blick auf einen gepflegten Garten, vielleicht mit einer Villa dahinter, oder auf Menschen in Bewegung, etwa bei der Arbeit«. Natürlich alles ohne »Außenkontakt etwa via Computer«. Herrlich.
Wobei – so ganz traut Bohrer dann der Ruhe doch nicht. In einem anderen Text erzählt er vom coronabedingten Verlassen Londons, diesem Sinnbild für (urbanes) »Chaos«. Er fährt zu einem Freund aufs Land, in ein Dorf, »wo es einen kleinen Gemüseladen mit einer Poststelle und Zeitungen gab.« Zum großen Einkaufen muss man nach Norwich. Zunächst »drang die Idylle in ihn ein«, etwa »wenn er allein über die Felder ging, vereint mit ihr durch die Reflexion seiner Alleinigkeit«, aber dann kommt die Assoziation des »Ewigen Friedens«, des Todes. Das Chaos, so erklärt es Bohrer sich selber, ist zwar der »Un-Ort«, aber im Zweifel zieht er London dann doch einem Dauer-Idyll, dem »Gegenteil des Ereignisses«, vor. Das Angenehme in diesen Reflexionen zur pandemischen Lage: Alles wird ohne die mit diesem Thema so häufig zu findende Larmoyanz oder gar Jammerei entwickelt. Bohrer nimmt diese Wirren als erkenntnisstiftendes Abenteuer.
Fast ein bisschen versteckt findet sich der Text »An den Tod denken« an der zweiten Stelle im Buch. Unwillkürlich fragt man sich, ob Bohrer etwas ahnte: »Und so wartet man, sobald man in der eigenen Lebenszeit die Achtzig überschritten hat, zwar nicht in einer Zelle. Man wartet auch nicht auf diesen bestimmten Tag oder diese eine bestimmte Stunde. Sondern es kann von da an immer sein.«
Bohrer erfasst diese Situation intellektuell, nicht emotional. So überlegt er beispielsweise, ob Selbstmörder tatsächlich über den Tod nachdenken oder nur über ihre »schwerwiegenden Gründe«. Auch hier wendet er sich rasch den romantischen Dichtern zu, etwa Novalis’ »Glorifizierung des Sterbens« und vor allem Heinrich von Kleist, jemand, der »der Besseres vorhatte« als weiterzuleben und dessen Briefe »Jubelarien« seien, »in eine Transzendenz überzutreten«. Dem gegenüber stellt er die quälende Todeserwartung in »Dantons Tod« bei Büchner.
Angst vor dem Tod? Doch eher nicht. »Die Abwesenheit von Todesangst garantiert die Anwesenheit von Selbstgewissheit«, heißt es selbstironisch-kokett. Kurze Überlegungen, wie ein Weiterleben abseits religiösen Trostes möglich ist. Als Erinnerung? Bohrer bleibt nüchtern: »Man verlässt und ist verlassen. Das Wissen, erinnert zu werden, hilft hier doch nicht mehr.« Den Nachruhm – falls es ihn gibt – erlebt man nicht.
Dies dreizehn Phantasiestücke zeigen exemplarisch Bohrers geschliffene Bildung und intellektuelle Gewandtheit, die durchsetzt ist mit feinsten Ironiefäden. Sein rückhaltloses Eintreten für die Ästhetik in Kunst und vor allem Literatur wird man vermissen. Für diejenigen, die, als andere nur seinen Rücken sahen, vor ihm standen und zuhörten (wenn sie auch nicht immer sofort verstanden), ist dieses luftige, feine Buch Glück und Abschiedsschmerz zugleich.