Es sind zwei Tage Ende August 2023, in Bergen, Norwegen. Neun Personen stellt Karl Ove Knausgård in seinem 2020 in Norwegen erschienenen Roman »Der Morgenstern« vor (deutsch – wie fast immer – von Paul Berf). Da ist Arne, der Literaturprofessor aus Oslo mit seiner psychisch labilen Frau Tove und den gemeinsamen drei Kindern; Arnes Freund Egil, ein gescheiterter Künstler und Dokumentarfilmer, alimentiert von seinem reichen Vater, das berühmte schwarze Schaf in der Familie; die Pfarrerin Kathrine, die aus ihrem eigentlich glücklichen Familienleben warumauchimmer ausbrechen möchte; Jostein, der ins Kulturressort verbannte notgeile Kriminaljournalist und seine Frau Turid, die Nachtschichten in einer psychiatrischen Anstalt schiebt und Solveig, eine Stationsschwester, die mit ihren Patienten mitleidet. Bei allen unterschiedlichen Temperamenten gehören sie der Generation Ende 30/Anfang 40 an. Ihnen werden mit Emil, der in einem Kindergarten arbeitet und ein Missgeschick verschweigt, die mit großem Gesangstalent ausgestattete Supermarktkassiererin Iselin und Vibeke, die mit einem 27 Jahre älteren Architekten verheiratet ist und vom nahezu gleichaltrigen Stiefsohn sexuell belästigt wird, drei jüngere Figuren zur Seite gestellt. Alle Figuren sind in ihren jeweiligen Kapiteln Ich-Erzähler. Einige erzählen mehrmals – drei Mal: Arne, Kathrine, Jostein und Turid; Iselin und Solveig zwei Mal.
Alle versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten zurecht zu kommen, haben, wie man insbesondere von Jostein und Egil aber auch der jungen Iselin erfährt, auch einige Rückschläge zu verkraften. Aber die beiden Tage ändern ihrer aller Leben und das hat auch (oder vor allem?) mit der neuen Supernova zu tun, die sich am Himmel zeigt, ein gleißender, wunderschöner Stern, den man »Morgenstern« nennt, der aber, trotz seiner Einzigartigkeit und Wucht zunächst den Alltag nicht besonders berührt.
Gravierender sind da die sich häufenden merkwürdigen Ereignisse, die über die Protagonisten zeichen- und bisweilen fluchhaft einbrechen. Arne erlebt plötzlich eine Autostraße übersät mit lebendigen Krebsen. Kathrine muss nach einer Rückkehr von einem Kongress einen Mann beerdigen, mit dem sie am Tag zuvor noch im Flugzeug gesprochen hatte – und der ihr später, nach der Beerdigung, wieder begegnet. Vögel nehmen Menschengesichter an, Hirsche nehmen Disney-Posen an, Marienkäfer überschwemmen einen Garten, Vögel sammeln sich à la Hitchcock (aber sie greifen nicht an) und von einer vierköpfigen Jugendband, die mit Nazi-Symbolen agiert, werden drei Mitglieder schrecklich ermordet aufgefunden. Arnes Frau köpft eine Katze, um diesen besonders genau zeichnen zu können. Es gibt Erscheinungen von riesenhaften nicht-menschlichen aber auch nicht-tierischen Gestalten und Menschen, die immer verstimmt waren, sind plötzlich fröhlich, andere tauchen vollständig in psychische Deformationen ab, wieder andere verschwinden physisch. Und es gibt den Fall eines klinisch toten Patienten, der urplötzlich wieder zum Leben erwacht, als man schon dabei ist, ihn aufzusägen und seine Organe zu entnehmen.
Einerseits schildert Knausgård die alltäglichen Verrichtungen seiner Figuren mit der ihm eigenen Hingabe und Detailfreude, andererseits rattert ein Suspense-Motor irgendwo zwischen Science Fiction, Umberto Eco und David Lynch. Wobei der Leser zunächst geneigt ist, die Urteile der Protagonisten mit denen sie die Merkwürdigkeiten kommentieren, zu übernehmen: Entweder es sind Halbschlafbilder, Halluzinationen oder Aus- bzw. Nachwirkungen des von einigen exzessiv betriebenen Alkoholkonsums. Einzig der Morgenstern, dessen Erscheinen allen zugängig ist und der dann auch in den Nachrichten thematisiert wird, scheint eine feststehende Realität zu sein.
Im Kontrast zwischen der Schilderung beispielsweise des Ein- und Ausräumens einer Spülmaschine, der Biergarten-Odyssee des trinkseligen Journalisten Jostein, den Vorbereitungen für ein Abendessen mit Garnelen und Taschenkrebsen, also den Alltagsbanalitäten einerseits und den mystisch-geheimnisvollen Phänomenen, die sich jeder rationalen Erklärung zu entziehen scheinen andererseits, liegt die Spannung dieses Buches, die den Leser ungeachtet des Volumens (fast 900 Seiten) soghaft weiterlesen und rasch vorankommen lässt. Leider hat diese Plot-Süffigkeit ein Opfer: Es ist die literarische Qualität. »Der Morgenstern« gleitet rasch in einen Unterhaltungsmodus ab, dem man sich allerdings gerne aussetzt.
Besonders zu Beginn glaubt man noch an eine Konstellation wie im legendären Film »Out 1« von Jacques Rivette, in dem Figuren in einer Art Staffelerzählung auf andere verweisen, aber auch das ist eine Sackgasse. Zwar sind Egil und Arne Freunde, Jostein und Turid ein Ehepaar und Kathrin der einstige Schwarm von Egil (und er begegnet ihr zufällig bei einer Beerdigung). Aber es gibt kein Prinzip. Die Erzählfolge bleibt für den Leser undurchdringlich.
Das Paradoxon des Romans besteht nicht zuletzt darin, dass trotz der Detailfülle der Schilderung ihrer Handlungen die Hauptfiguren erstaunlich blass bleiben, weil der Autor zu sehr mit deren Verrichtungen beschäftigt ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie entsprechend ihrer Berufe allzu sehr mit den gängigen Klischees ausgestattet werden. Einige Figuren sind nur als Staffage, um die rätselhafte Stimmung dieser Sommertage zu illustrieren (wie Iselin; Emil, der Kindergärtner und Vibeke, die je nur ein Mal erzählen).
Zentral sind vor allem Kathrine und Egil. Sie werden über ihre Religiosität, ihre metaphysische Sicht auf die Welt zu Antagonisten und zwar in dem Moment, als sie sich von ihren einstigen Überzeugungen abwenden. Während die Pfarrerin Kathrine neben ihrer persönlichen Krise auch an ihrem Glauben zweifelt, nach einer Beerdigungspredigt sogar der Gotteslästerung beschuldigt wird (was sie energisch abwehrt), erlebt Egil eine Epiphanie, ein Gotteszeichen und wird gläubig. Aber die Entwicklung der Figur Kathrine wird nicht weiter ausgearbeitet; ihre aufscheinende metaphysische Unbehaustheit, die nicht nur die Rituale der Amtskirche befragt, bleibt Fragment. Es fehlt ihr die existenzielle Wucht. Wer möchte mag herauslesen, dass der Verlust der Religiosität auch zur Auflösung der persönlichen Werte führt, während der neu gefundene Glaube Stabilität gibt (was sich bei Egil unter anderem im Umgang mit seinem störrischen Sohn Victor zeigt).
Egil wird in den Erzählungen Arnes bereits früh eingeführt. Die beiden sind halbwegs freundschaftlich verbunden. Während Arne nur im Sommer seine Datscha bewohnt, lebt Egil ganzjährig dort; im Winter wie ein Eremit von Thoreaus Gnaden. Arne ist zu Beginn einigermaßen verwirrt, weil er einen Zettel entdeckt, auf dem seine Frau »drei Mal untereinander Ich will Egil vögeln geschrieben hatte.« Arne hingegen bekennt, dass Egil einer dieser Menschen sei, die ihm immer ein Rätsel bleiben werden. Mit dessen träumerischer Zögerlichkeit und der Neigung, angefangene Filmprojekte nicht zu Ende zu führen, kann der auf Resultate eingestellte Literaturprofessor wenig anfangen. Bei der Gretchen-Frage unterscheiden sich die beiden Temperamente am stärksten, was auch ausgetragen wird.
Dem potentiellen Leser des Romans muss ich nun warnen, dieses Begleitschreiben weiterzulesen. Es wird jetzt »gespoilert« – es geht leider nicht anders; der Rezensent ist auch nur ein Mensch.
Egil fungiert zwar nur ein Mal als Erzähler, aber der Schluss des Romans bildet sein als Essay gekennzeichneter Text »Über den Tod und die Toten«. Zuvor ist man allerdings einer exzessiv geschilderten, unfassbar öden und ermüdenden Reise Josteins in ein Zwischenreich zwischen Leben und Tod ausgesetzt, ein Gelände durchstolpernd, bei dem der Styx in einem großen Urwald liegt, bevölkert von Halb- oder Untoten, die sich brav in die Schlange zum Abstieg in den Hades stellen während der sich selber bereits tot einschätzende Kriminalreporter festen Willens ist, sich nicht endgültig ins Totenreich überführen zu lassen sondern stattdessen seinen Sohn Ole sucht, der, wie er vor seinem Zusammenbruch erfuhr, einen Suizid versucht hatte und schwer verletzt war. Spätestens jetzt sollte man die eigens für den Roman konstruierte Webseite konsultieren und sich vor der geistigen Ermattung vielleicht vom ein oder anderen Bildchen (oder den hinterlegten Playlists der Protagonisten) motivieren lassen, um diesen bräsig aufgemotzten Pseudo-Bombast durchzuhalten.
Irgendwann – man war kurz davor, den E‑Reader in die Ecke zu schmeißen – wacht Jostein im Krankenhaus wieder auf. Man klärt ihn auf, dass er 13 Tage im Koma lag, aber der Journalist in ihm will weg, hinaus in die Welt, über den Mord, »seine« Story, weiter recherchieren, das sei schließlich wichtig und dann kommt der Satz, der den Leser verrückt macht, ansatzlos ausgesprochen, mit der Wirkung eines Leberhakens: »In den letzten zwei Wochen ist so viel mehr passiert, dass sich dafür bestimmt keiner mehr interessiert.«
Natürlich weiß man sofort: Das, was da alles in den letzten zwei Wochen passiert ist, wird man nie erfahren. Stattdessen kommt jetzt der bereits erwähnte Essay, der das gerade Gelesene philosophisch aufarbeiten soll, indem alle möglichen Todesexegeten und ihre Thesen aufgefahren werden. Aber Knausgård, pardon: Egil kann nicht anders: Er muss noch von einem Frank erzählen, einem Mann, der ihm im Zug begegnet. Frank ist auf der Reise zur Beerdigung seiner sechsjährigen Tochter Emma, und die beiden Männer betrinken sich (was auch sonst). Egil begleitet Frank auf die Beerdigung, erträgt Franks Geschimpfe auf die Pfarrerin, diese »verdammte Fotze« mit ihrem Lied von der Blume (es ist Kathrine), bis beide schließlich das soeben beerdigte Kind lebendig auf der Wiese stehen sehen. In seiner Verzweiflung rennt Frank auf sie zu und dieses Ereignis wird dann derart kommentiert: »Das konnte nicht wahr sein. Das musste eine Halluzination gewesen sein. Aber wir hatten es beide gesehen.«
Spätestens jetzt weiß man, dass Knausgård keine Sprache hat für seinen phantastischen Realismus, das er nur beschreibt statt zu erzählen und auch der letzte Satz, der etwas Neues begründen soll und auf den Morgenstern zurückkommt, wirkt da nur wie der hilflose Versuch mit heißer Luft einen Ballon steigen zu lassen, aber es reicht nur für einen Luftballon für den Kindergeburtstag (wenn überhaupt): »Ich weiß, was dieser Stern bedeutet. Er bedeutet, dass es begonnen hat.«
Kurz malt man malt sich aus, wie es wäre, wenn die Toten zurückkommen würden, was für ein Alptraum, eine Apokalypse der ganz anderen Art und holt ein Glas, geht zum Kühlschrank, öffnet die Tür, schenkt sich ein Bier ein, ein eiskaltes Bier, denn draußen ist es so heiß wie in den beiden erzählten Tagen im August und man schaut zum Himmel. Kein Morgenstern, kein Beginn, kein Ende. Und auch kein Erzähler. Letzteres ist allerdings schade.