Isabelle, seit dem frühen Krebstod ihrer Chefin Hanna Mitinhaberin einer Graphikagentur begegnet Jakob, ihrem Verehrer und Liebhaber aus früheren Tagen wieder. Jakob, ein Anwalt mit Karriereperspektive, verlässt wegen des Rendezvous-Termins mit Isabelle einige Tage vor dem 11. September 2001 New York in Richtung Berlin. Sein Freund Robert vertritt ihn dort – und kommt beim Anschlag auf die Zwillingstürme ums Leben. Andras, der Kollege Isabelles, ein ungarischer Jude mit Identitätsproblemen, himmelt Isabelle an, tröstet sich mit Magda mehr recht als schlecht und findet sich schliesslich damit ab, als Jakob Isabelle heiratet. Jim, ein Drogendealer und Kleinkrimineller und seine Freundin Mae schlagen sich in der Londoner Unterwelt durch. Und Dave und seine kleine Schwester Sara, die von ihrem Vater mit äusserster Brutalität verprügelt und wie eine Gefangene gehalten wird, träumen von einer besseren Zukunft.
Faszination und Abwehr
Das sind die drei Haupthandlungs- und Personenstränge, die in Katharina Hackers »Die Habenichtse« im Laufe des Buches zusammengeführt werden. Möglich wird dies, weil Jakob und Isabelle nach London ziehen, wo er in einer Kanzlei mit ostdeutschen Restitutionsforderungen beschäftigt ist. Isabelle versucht, kleinere Aufträge für die Agentur vom Londoner Zeichentisch auszuführen. Jakob ist ein bisschen unvorsichtig mit der Wahl seines neuen Heims; das Viertel ist nicht das Beste, obwohl das Haus ideal scheint. Früh bemerkt der Leser, dass der sporadische Lärm der Nachbarn, den Isabelle mitbekommt, die Prügelorgien von Saras betrunkenem Vater sind. Die Gegend gehört auch zu Jims Revier, in dem er herumstreunt, seine urplötzlich verschwundene Freundin Mae sucht und allerlei Bekanntschaft mit der Kleinkriminellenszene macht.
Drei Milieus, die sich in der Grosstadt bei aller Ghettoisierung nicht mehr aus dem Weg gehen können. Sie treffen aufeinander und die Verwunderung, die Verstörung ist auf allen Seiten gross und schwankt zwischen Faszination und Abwehr. Bevor sich die Protagonisten aber begegnen, lässt Hacker die Fäden lange parallel laufen – am Ende kommt es zum Showdown mit Isabelle in Jims Wohnung mit Sara und Dave. Man merkt den Milieuerzählungen deutlich an, dass die Autorin den Anfangs- bzw. Mittdreissigern Isabelle, Jakob, Andras und Magda deutlich näher steht als den Jims, Maes, Daves und Saras. Das hat nicht nur Gründe, die in der Generationenübereinstimmung angesiedelt sind. So gelingt Hacker die Formulierung der Londoner Kanzleimitarbeiter prächtig – allerdings nicht ohne eine Prise Brit-Klischee. Und: Warum »muss« denn Bentham, der Inhaber der Kanzlei, nicht nur Jude, sondern auch noch homosexuell sein? Und warum muss Alistair, eine Art Assistent von Jakob, sich unbedingt in einer traceähnlichen Begegnung, die fast zum »Dreier« führt, als wahlverwandtschaftlicher Verehrer Isabelles zeigen, der sie vor Jakob beispielsweise auf den Mund küsst?
Hier mutet Hacker ihren Figuren reichlich viel zu. Als wäre es mit einer quantitativen Anhäufung von Geheimnisandeutungen und/oder Absonderlichkeiten getan. Zumal diese Szenen sprachlich nicht unbedingt gelungen sind; so manche Schilderung wirkt wie ein skurril inszeniertes Ballett. Wenig überzeugend auch, wenn Jim voll zorniger Energie wie ein testosterongeladener Möchtegerngigolo herumläuft und dann mit der sexuellen Anziehungskraft, die er auf Isabelle ausübt, nur spielt und sie damit erniedrigt 100 Pfund von ihr zu fordern (in 20 Pfund-Scheinen), sich bedienend aus der Schale, in der ihr Jakob das Haushaltsgeld hineinlegt (wie ein Freier eine Prostituierte bezahlt).
Auch die parallel verlaufenden zeitgeschichtlichen Ereignisse nach dem 11. September 2001, insbesondere der drohende und dann stattfindende Irakkrieg mit Grossbritannien als Kriegspartei (Jakob und Isabelle sind ab Anfang 2003 in London), all die Begleitumstände wie die wachsende Kriegsrhetorik in der britischen Öffentlichkeit (Isabelle ist verängstigt; Jakob und seine Kollegen nicht) bis hin zur medialen Aufarbeitung des Krieges – all dies wird der Handlung und den Personen noch zusätzlich fast aufgebürdet. Eines Abends werden Jakob, Alistair und Isabelle nach einem Theaterbesuch tatsächlich überfallen, scheint sich sofort ein Fluch einzulösen, den ein Schauspieler, der die Besucher nach der Vorstellung noch hinausbegleitet, ausgesprochen hat, aber bevor es eskaliert, kommt dann doch der rettende Polizeiwagen.
Schwermütige Püppchenaufsteller
Wie Mehltau legt sich im Verlauf des Buches (knapp zweieinhalb Jahre werden erzählt) eine Mischung von Angst, Bedrohungen, Hoffnungslosigkeit und – vor allem – Sinnlosigkeit über die Protagonisten. Katharina Hacker praktiziert dieses Übertreibungsspiel wohl, weil sie anhand dieser wenigen Personen eine These illustrieren möchte. Eine These, die weit über das hinaus geht, was im Klappentext angedeutet wird. Es geht nicht nur um die Irrungen und Wirrungen und Idiosynkrasien einer »verlorenen Generation« (der Ende der Sechziger geborenen), denen die Fussstapfen zu gross sind, in die sie gehen sollen und verzweifelt nach dem Sinn in ihrem Leben suchen. Hackers Aussage, um die das gesamte Buch kreist, ist nicht nur die Vergeblichkeit der Glückssuche, die längst nicht mehr Verheissung ist, sondern, im Gegenteil einen Erfüllungsdruck, einen »Zwang« zur Glückseligkeit erzeugt, dem die meisten nicht standhalten können.
Nicht einmal die Hoffnungslosigkeit ist ein Ergebnis – sie ist die Grundstimmung einer Gesellschaft, und zwar quer durch alle Milieus. Jeder schaut auf den anderen, der es vermeintlich geschafft hat, in Wirklichkeit jedoch ohne Emphase ist, dessen geheimste Sehnsüchte nicht erfüllt sind oder – in falschem Glauben – nicht ein ganzes Leben »halten«, sondern nur ephemer sind: Ich bin glücklich, wollte Jakob sagen, aber der Satz war wie ein Holzpüppchen, das man behutsam aufstellte und das sich doch nur einen Augenblick hielt, bevor es umkippte. In jedem Augenblick kann sich alles ändern und diese Veränderungen werden per se immer negativ konnotiert. Während einer Aussprache zwischen Jakob und Bentham mutmasst Jakob schon, es handele sich um die erste Rate auf den Abschied. Attraktiv ist das Leben dieser schwermütigen Püppchenaufsteller nur noch bei denjenigen, die ohnehin nichts mehr zu verlieren haben. Sie wollen genau da hin, wo diejenigen, die sie bewundern und hassen schon sind, weil sie glauben, es dann geschafft zu haben.
Das Buch verströmt die Melancholie eines grauen Novembermorgens – aber ohne die Hoffnung auf ein Aufklaren am Nachmittag. Eher im Gegenteil. Als Isabelle über die Mauer steigt, den Garten der Nachbarn betritt und dort Sara und ihre Katze Polly sieht, ist sie unfähig mit der fast wölfischen Ablehnung Saras fertig zu werden. Ein Kind, das durch die Gewalt schwer gestört und traumatisiert ist und kurz vorher in einer Art Selbstvergewisserungsakt ihre Katze mit einem Stock verletzt hat. Es ist eine der Schlüsselszenen des Buches, von Hacker eindrucksvoll umgesetzt: Isabelle nimmt die verletzte, blutende Katze und klettert mit ihr über die Mauer. Sie überlegt nur kurz und lässt Sara, die Geschlagene, die Verprügelte, deren Hämatome sie sehen muss, zurück. Isabelles Mitgefühl gilt eher einem Tier; der Mensch macht nur Probleme.
Deprimierende Kälte und Hoffnungslosigkeit
Diese Szene in ihrer deprimierenden Kälte lässt einem nicht mehr so schnell los. Polly bleibt nur kurz bei Isabelle; sie wird wenig später von Jim brutal erschlagen. Ihren Kadaver wird Jim Isabelle in einer Baustellengrube, von Ratten zerfressen, zeigen, nein: vorführen. Es sind diese im wörtlichen Sinne trostlosen Bilder, die Hacker (für einen hohen Preis) nicht scheut. Und es ist diese gegen Ende fast in jeder Szene mitschwingende Überfülle der Symbolik im Erzählten, die den Leser zu bedrängen und auch ein bisschen zu empören beginnt. Die Pfählung von Saras Puppe, der Strassenlärm, der wie eine ölige Flüssigkeit wirkt, die Selbstbeherrschung der Passagiere, die bei der Landung Jakobs in London zu zerbrechen scheint, weil der Flieger rüttelt und zu kippen droht, die Tage, die wie Handschuhe passten, der unliebsame Gast Vergangenheit, der sich rekelt wie eine Katze, der Endzeitprediger, den Jakob erlebt und dessen Bann er sich nur mit Flucht zu entziehen vermag, die Feststellung, dass es kaum noch Spatzen gibt (nacheinander von der Gangsterbraut Mae, dem Nestor der Londoner Kanzlei Bentham und am Ende von Jim). Diese Bilder sind jedes für sich schön und zutreffend – im Laufe des Buches neigt Hacker jedoch zuviel Bedeutung hierin einzupacken.
Dennoch erzeugt der Roman auf eine hintersinnige Art einen Sog und in einigen guten Szenen spielt Hacker gekonnt mit den eventuell sich abzeichnenden Angstszenarien, statt sie nur zur Kulisse zu machen. Ohne zuviel verraten zu wollen: Es gibt keinen Trost, kein Silberstreif am Horizont, keine noch so schalen Zukunftsperspektiven. Auch wenn Isabelle am Ende (endlich!) die Polizei anruft und Sara in einen Krankenwagen verbracht wird – die Düsternis drängt die Melancholie ganz zurück. Melancholie impliziert wenigstens noch so etwas wie das Wissen um Hoffnung. Hier ist nichts mehr. Und auch die einst glücklichen Tage von Jakob und Isabelle – sie sind nur noch Vergangenheit.
Länger über dieses Buch sinnierend hofft man inständig, nicht zu diesen seelisch Versehrten zu gehören und der possierlich anmutende Titel (»Habenichtse« lässt die Assoziation zum Eichendorffschen Taugenichts aufkommen) erscheint wie eine zynische Untertreibung; eine Irreführung der Autorin. Was die Ausweglosigkeit der Protagonisten angeht, fühlt man sich von Ferne an Hubert Selbys kaputte Figuren aus »Letzte Ausfahrt Brooklyn« erinnert. Hacker schreibt distanzierter als dieser Berserker Selby (erinnert damit an ihre Protagonistin Isabelle). Böswillig könnte man sagen, dass die Distanz sich in einer eher mechanischen, arg »kontrollierten« Sprache zeigt, die es zwar versteht, eine melancholische (und auch bedrohliche) Stimmung zu erzeugen, aber die Figuren seltsam blass erscheinen lässt und wenn es einmal heisst, dass sich…aus den Versatzstücken und Anekdoten keine wirkliche Geschichte machen liesse und alles…seltsam matt bleibt, dann ist damit ein Grossteil des Buches beschrieben.
Und manchmal gleitet Hacker noch in einen Lebenshilfeduktus à la Brigitte ab, den zu entfernen das Lektorat leider unterliess: Er begriff, dass sie nicht auf ihn gewartet hatte oder Man erinnerte sich an eine glückliche Zeit oder dem schlichtesten aller möglichen Sätze, die Permutation Isabelles nur behauptend, Sie veränderte sich.
Es gibt Ansätze im Buch, die nahelegen, dass Frau Hacker es besser könnte. Viel besser.
Eine kleine persönliche Bemerkung: Den Grund, dass Buch erst knapp zwei Jahre nach Erscheinen zu besprechen, ist einfach zeitlicher Natur. »Habenichtse« hat 2006 den »Deutschen Buchpreis« gewonnen. Es weist in der Thematik, der Orientierungslosigkeit einer Generation, gewisse Parallelen zum Preisträger von 2005, Arno Geigers »Es geht uns gut« auf. Ich kann (und will) mir aber nicht vorstellen, dass »Habenichtse« 2006 der »beste deutschsprachige Roman« gewesen sein soll (vor allem in Anbetracht beispielsweise des Buches von Saša Stanišic). Immerhin haben die Jurys des Buchpreises bisher gezeigt, dass ein grosser Name nicht automatisch zum Preis führt. Man darf gespannt sein, wie die »shortlist« zum Buchpreis 2008 aussehen wird. Immerhin scheint die Qualität in diesem Jahr deutlich höher zu sein als beispielsweise 2007.
Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch von Katharina Hacker.
Ich habe es bislang ja auch noch nicht gelesen und immer weiter vor mir her geschoben, vielleicht auch, weil das Leserecho, weniger das der Kritiker, ab und an doch recht negativ gewesen ist. Deine rezension motiviert aber, es auf jeden Fall demnächst – wenn ich mal wieder anderes tun kann, als Blogbeiträge auf die Reise zu schicken – dann doch mal anzugehen. LG tinius
Les’ ich den ersten Absatz hier, also die »Handlung« des Romans, verspüre ich absolut keine Lust, so ein Buch auch nur aufzuklappen, geschweige denn, es zu kaufen und zu lesen. Sorry.
Da liegen noch so viele Klassiker hier im Regal, die endlich gelesen werden wollen... Und, wie Herr Schmidt mal ausrechnete, können wir in unserem Leben ja nur etwa dreieinhalbtausend Bücher lesen (auch wenn ich die Zahl für untertrieben halte).
Ich bewundere aber und staune über jeden, der sich trotzdem solch’ »Gegenwartsliteratur« annimmt. Oder antut.
Interessante Reaktionen
Tinius schreibt, er fühle sich durch meine Besprechung angeregt – und Du bist es (ob der Handlungsangabe) nicht.
Das »Ausspielen« von Gegenwartsliteratur gegenüber den Klassikern ist ja legitim. Ich glaube auch nicht, dass Frau Hacker in fünfzig Jahren noch gelesen werden wird. Insofern ist es vielleicht – um es hart zu formulieren – Zeitverschwendung. Aber immerhin hat das Buch den Buchpreis gewonnen und ist nach Meinung von nicht wenigen Kritikern demzufolge »das beste Buch seines Jahrgangs«. Abgesehen davon, dass so etwas immer ein grosser Schmarren ist, zeigt es aber auch etwas.
(Die Klassiker, die man unbedingt noch lesen will [Proust bei mir z. B.], verschiebt man »auf später«...)
Das eine zu tun, heißt nicht, das andere zu lassen. Klassiker sind notwendig, Gegenwartsliteratur, denke ich, auch. Es gibt unverrückbare Grundfragen der menschlichen Existenz, deshalb sind klassische Werke immer noch gültig – von Shakespeare bis zu Proust, von Aischylos bis zu Mark Twain. Aber es gibt auch eine(einmalige, unvergleichbare) Gegenwart, die Fragen neu stellt, Reibungspunkte anders definiert oder nur bietet. Goethe konnte nicht wie Tellkamp die deutsche Teilung, die daraus resultierenden gesellschaftlichen Verwerfungen in Ost und West, das Erleben oder Erleiden jener Zeit gestalten, Grimmelshausen nicht die Konsumwelt der westlichen Wertegemeinschaft erahnen, die bis in gegenwärtige Beziehungsstrukturen hineinwirkt. Der Zweite Weltkrieg mit Völkermord, fast alle Kontinente ergreifenden Kampfhandlungen und perfektionierten diktatorischen Strukturen, die selbst im Absolutismus unvorstellbar waren, konnte kein Thema für Fontane oder Henry James sein. Ich denke, man liest nicht nur, um des ästhetischen Wertes willen, um die ewigen Grundfragen von Eros und Thanatos erörtert zu sehen, sondern auch (also nicht nur) um die erlebte Wirklichkeit erörtert, interpretiert und gestaltet zu sehen. Ob man dies nun Frau Hacker zubilligen kann, möchte, kann ich erst nach eigener Lektüre entscheiden, aber immerhin muß sie aus der Massenproduktion bedruckter Seiten so weit herausgeragt haben, daß manche Belesenere, Gebildetere als ich eine Nominierung für sinnvoll erachteten. Daß sie nun das Beste Buch der Saison geschrieben habe, wage ich wie Gregor zu bezweifeln, ist letztlich aber für mich auch nicht wichtig. LG tinius