In den letzten anderthalb Jahren soll es zu 18 Treffen zwischen Bundeskanzlerin Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Sarkozy gekommen sein. Mal waren die beiden zu zweit, mal bei Treffen der Regierungschefs entweder der EU, oder der der G20 oder auch aller zusammen. Die Gründe sind hinlänglich bekannt: Europa befindet sich in einer veritablen Banken‑, Finanz‑, Staats‑, Schulden- und/oder Wirtschaftskrise. Dabei werden diese Treffen längst nicht mehr als solche bezeichnet. Nein. Es sind »Gipfel« oder, doppeldeutig, »Gipfeltreffen« (als träfen sich dort Gipfel).
Dabei lohnt es sich über die Bedeutung eines Gipfels nachzudenken. Laut Duden ist der Gipfel die »höchste Spitze eines [steil emporragenden, hohen] Berges« bzw. »höchstes denkbares, erreichbares Maß von etwas; das Äußerste; Höhepunkt«. Als dritte Bedeutung wird schließlich der »Politikjargon« bemüht. Denn ursprünglich war ein »Gipfeltreffen« ein außergewöhnliches Ereignis: Staats- und Regierungschefs oder andere herausgehobene Persönlichkeiten trafen sich zu besonderen Gelegenheiten. Nicht mehr und nicht weniger.
Inzwischen ist der Gipfel zum Spiegelbild der Politik geworden, die auf diesen »Gipfeln« beschlossen wird: Eine stumpfe Klinge. Seien wir ehrlich: Wir hören kaum noch hin, wenn von »Gipfeln« die Rede ist. Das Wort ist derart trivialisiert worden, dass es sofort verpufft. Die Sensationalisierung hat es abgerieben. Ein Indiz dafür sind die Komparative, die das unsteigerbare noch steigern wollen, ja müssen: »Mega-Gipfel«. Oder »Super-Gipfel«.
Mit der Inflationierung zu erbringender Rettungsbeträge wachsen auch die rhetorischen Superlative. Nicht zu unterschätzen ist die Wirkung auf die Teilnehmer: Wer an einem solchen »Super-Gipfel« teilnimmt, ist nicht nur (scheinbar) ungeheuer wichtig. Er ist auch unter einem gewissen Ergebnisdruck. Da jedoch die irrige Vorstellung existiert, in zeitlich eingegrenzten und medial beobachteten Gesprächen könnten verbindliche Lösungen gefunden werden, muss fast jeder in Eile gefundende Konsens als »fauler Kompromiß« empfunden werden.
Um diesem Eindruck zu entgehen, werden politische »Gipfel« längst vorbereitet. Die Schlußerklärungen, die eigentlich erst die Resultate der Beratungen festhalten sollen, sind zumeist im Vorfeld schon fertig und werden nur noch in Nuancen verändert. Manchmal braucht man gar nicht den genauen Wortlaut oder das Ergebnis eines »Gipfels« zu kennen. Den Oppositionsparteien reichen schon hastig formulierte »Eckpunkte«, um die Ergebnisse eines »Koalitionsgipfels« abzulehnen. Warum soll man sich auch mit lästigen Details beschäftigen.
Wie sich diese »Gipfel-Maschine« irgendwann selber ad absurdum führt, zeigt sich beim letzten (vor vorletzten? Man kommt ganz durcheinander) »Gipfel« der EU-Regierungschefs, der an einem Sonntag beanraumt wurde, die zu treffenden Entscheidungen – die ja eigentlich Anlaß des Treffens waren – kurzerhand auf den folgenden Mittwoch verschoben wurden. Man hatte vor lauter Aktionismus vergessen, dass in Deutschland das Parlament noch zustimmen muss (wobei diese Form der Delegation der Kanzlerin nur eine schein-demokratische Veranstaltung war).
Die Politik hat den »Gipfel«-Terminus längst akzeptiert. Er bedeutet für sie eine Aufbauschung von Bedeutung. Dabei ist die mediale Inszenierung unbedingt Voraussetzung: Journalismus und Politik bedingen sich einander. Niemand vermag aus den G8- oder G20-»Gipfeln« der letzten Jahre auch nur eine irgendwie handfeste und vor allem dauerhafte politische Entscheidung zu benennen. Dennoch finden diese Veranstaltungen immer wieder statt. Sie sind längst ritualisiert – wie auch die Protestmaßnahmen von sogenannten Globalisierungsgegnern. Erst sie zeigen, wie die Gipfelteilnehmer sich von ihren jeweiligen Bürgern abschirmen. Wie gesagt: Wir reden nicht über irgendwelche Treffen von Diktatoren oder Mafiabossen. Es handelt sich überwiegend um demokratisch gewählte Regierungen. Sie wirken beim inszenierten »Gipfel«-Beisammensein mit Bier und lokalen Spezialitäten wie Playmobilfiguren, die in hermetischen Modelleisenbahnparks platziert sind. Der ehrlichste Ort für solche Art von Treffen wäre vermutlich der Weltraum.
Längst das das Seuchenwort auch andere Formen von Konferenzen, Zusammenkünften, Begegnungen oder Versammlungen erreicht. Wenig inflationär, dennoch regelmässig, gibt es einen »Nato-Gipfel«. Neulich gab es einen »Krisengipfel der DFL und des DFB« (man beschloß dort, einen »runden Tisch« zu kreieren; noch so eine abgekaute Metapher). Die SPD will einen »Kita-Gipfel«, Hoteliers fordern einen »Gastgewerbe-Gipfel«. Es gibt einen »Maschinenbau-Gipfel«, natürlich den »IT-Gipfel«, »CMO-Gipfel«, »Smartphone-Gipfel«, »Design-Gipfel«, »Geldanlagegipfel«. Nicht zu vergessen die zahlreichen »Umweltgipfel«. Die ARD nennt eine müde Kabarett/Comedy-Sendung großmaulig »Satire-Gipfel«. Es gibt einen »IPv6-Gipfel«, einen Stuttgarter- und einen Mainzer-»Weingipfel«. Viel zu wenig hört man vom »Gourmet-Gipfel«. Und auch der »Wassergipfel« in Möhnesee blieb einer breiteren Öffentlichkeit überraschend verborgen.
Wanderers Nachtlied ist eben längst ein politisches Gedicht (geworden):
Über allen Gipfeln
Ist Ruh’
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch
„Über allen Gipfeln ist Ruh’?“ Ich war mal während des Weltwirtschaftsgipfels zum Skifahren in Davos. Jeden Morgen traf man Konferenzteilnehmer auf den Gipfelstationen der Bergbahnen, umgeben von einer Armada von Bodyguards. Von Ruhe keine Spur, eher viel Lärm um Nichts und das war wirklich der Gipfel.
Ich empfinde diese »Gipfel« als Politik-Simulacrum, bei denen sich die Teilnehmer selbst spielen – aber eben nicht als post-demokratischer Verhandlungstechnokrat, der sie sind, sondern als entscheidungsfreundigen und ‑fähigen Politiker. Wobei mich der theatralische Aspekt daran nicht besonders stört, – ohne Darstellung und Repräsentation kommt ja keine politische Willensbildung zustande –, sondern das komplette Zum-Verschwindenbringen der Wirklichkeit, so dass gerade keine politische Willensbildung bei den Zuschauern oder Politik-Betroffenen stattfindet. Politik als Konsum-Artikel. Und mit Formaten wie unseren »Nachrichtensendungen« und »Sondersendungen« gibt es dafür das kongeniale Medium.
Für die Schönheit des Engadins ist der Weltwirtschaftsgipfel in Davos wirklich die Pest. Man wandert durch die stille Winterlandschaft zum Lej da Cavloc und in Viertelstunden-Abständen schweben einem die Helis der Vip-Vip-Vips über den Kopf. Da kann man schon eine Nietzsche-Migräne bekommen.
»Nietzsche-Migräne« – schöner Ausdruck für das, was in Turin endete.
Immer mehr frage ich mich: Ist das überhaupt noch Politik? Wenn ja: Wie wird man sie in 100 Jahren bewerten? Ich erinnere mich noch an einen begriff aus den 70er Jahren: »Pendel-Diplomatie«. Politiker versuchten, zwei Parteien an einen Verhandlungstisch zu bringen. Der Nahost-Konflikt sollte so gelöst werden. (Den vorläufigen Durchbruch gab es aber eher mit geheimgehaltenen Treffen.)
Merkwürdig: Da gibt es in Griechenland seit fast einer Woche ein Geschacher um eine Macht, die eigentlich nur von Masochisten angestrebt werden kann. Oder sind solche Posten derart finanziell lukrativ?
Und zwischenzeitlich überkommt mich in Anbetracht meines »Gipfel«-Bashings beim Lesen dieses Artikels ein fast versöhnlerischer Gestus...
Hier beschreibt ein Kolumnist der FT, dessen Namen ich leider nicht herausfinden kann, das seltsame Phänomen der De-Politisierung wunderbar bildlich – auch wenn ich seine begeisterung für den heroischen Politikertyp nicht ganz teile. ABer Capitain Piccard war immer mein Lieblingskommandant:
»If ever modern Europe needed brave, charismatic leaders to carry their nation through turbulent times, it would seem to be now. Instead, it is as if the crew of the Starship Enterprise had concluded that Captain Jean-Luc Picard is no longer the man for the job and that it is time to send for the Borg. Efficient, calculating machines driving through unpopular measures across the eurozone with the battle cry “resistance is futile” are apparently the order of the day. Faced with a deep crisis, once-proud European nations are essentially preparing to hand over power to Ernst & Young. « Mehr hier: http://www.ft.com/intl/cms/s/2/000cb4ae-0abc-11e1-b9f6-00144feabdc0.html#axzz1dEBeOEIu