Ein Interview mit Leopold Federmair, geführt von Masahiko Tsuchiya ‑2. Teil
Wie stehst du als Essayist zur japanischen Kultur und Gesellschaft? Wie beschreibst du deine Japan-Erfahrungen? Mit Ironie und Witz, nicht wahr?
Ich fürchte, zum Witz habe ich kein großes Talent, aber ganz ohne Ironie kann jemand wie ich weder leben noch schreiben. Ich habe sehr verschiedene Zugänge, aber das betrifft nicht nur Japan, sondern alle »Gegenstände«. In einem Buch wie Die großen und die kleinen Brüder vermische ich bewußt die Genres, von der Reportage bis zur lyrischen Kurzprosa. Der umfangreichste Teil des Buchs sind die Tokyo Fragmente, die ich immer noch fortführe, sie erscheinen regelmäßig, mit von mir gemachten Fotos, im Online-Magazin fixpoetry.com. In diesen Fragmenten erkunde ich mit einem gewissen Maß an Systematik, aber zugleich anarchisch, indem ich mich und die Sprache treiben lasse, die japanische Großstadt. Dabei interessieren mich kleine Alltagsszenen und Orte abseits der touristischen Pfade – obwohl ich auch diese nicht grundsätzlich verschmähe. Es gibt sogar einen roten Erzählfaden in diesen Fragmenten, er wird in erster Linie von einer Bar in Musashikoyama und der dort sich regelmäßig einfindenden dramatis personae gebildet. Im Prinzip sind diese Geschichten nicht fiktional, aber es ist auch Erfundenes dabei. Meine Lieblingsszene darin ist erfunden, auch deren Protagonist.
Andererseits schreibe ich Romane wie Wandlungen des Prinzen Genji, die eng mit meinen realen Erfahrungen verbunden sind, wo aber die Gesamtanlage fiktional ist und auch die darin vorkommenden Figuren von etwaigen Vorbildern in der Wirklichkeit mehr oder minder stark abweichen. Dieser Roman enthält auch eine essayistische Ebene, die wiederum zu großen Teilen aus Nacherzählungen und Kommentaren zum Genji-Monogatari bestehen. Schon der Roman Erinnerung an das, was wir nicht waren spielt aber etwa zur Hälfte in Japan, zur anderen in Argentinien (die dritte Hälfte in Europa). Bei diesem Buch, bisher mein umfangreichstes, interessierte mich besonders die Gegenüberstellung sehr unterschiedlicher Kulturen mit teilweise gegensätzlichen Lebensgewohnheiten wie der argentinischen und der japanischen. Ich lebe gern zwischen solchen Gegensätzen, weiß aber auch aus eigener Erfahrung, daß so eine Existenz großen inneren Druck erzeugen kann. Es gibt Grenzen des Identitätspluralismus.
Wofür interessierst du dich zur Zeit und warum?
Es wird wahrscheinlich bis zu meinem Lebensende so sein, daß ich eine bestimmte Zahl von Projekten vor mir habe, die ich zu realisieren bestrebt bin. Alles zu schaffen, wird die Zeit nicht reichen. Auch das muß man akzeptieren. Derzeit schreibe ich an einem Roman, der durch ein japanisches fait divers angeregt ist, aber einen imaginären Schauplatz hat. Seit einigen Wochen glaube ich, die richtige Form dafür gefunden zu haben, nachdem ich jahrelang daran herumgedacht und herumprobiert habe. Wie Kenzaburo Oe sagt, die Form ist das Entscheidende. Ein anderes Projekt, in dem ich stecke, ist die Übersetzung eines umfangreichen Lyrikzyklus von Juan Ramón Jiménez, 1916 während seiner Amerikareise entstanden. Und dann habe ich noch eine Idee, die ich besser nicht verrate. Es hat mit der Figur Adolf Hitlers zu tun und ist das erste Mal, daß ich das Gefühl habe, man könnte mir die Idee klauen, wenn ich sie weitererzähle.
Wie schreibst du Romane oder Erzählungen? Bis deine literarische Form ausgereift ist und dich selbst überzeugt?
Das ist ziemlich unterschiedlich, je nach Projekt, Thema, Formentscheidung usw. Bestimmte Dinge muß ich schnell schreiben, für andere muß ich mir Zeit lassen. Im allgemeinen gilt, daß literarische Gebilde reifen müssen, auch die Idee muß reifen, aber die Reifezeitdauer ist unterschiedlich. Man kann auch zu lange warten, das Gebilde – oder die Idee – beginnt dann zu vermodern. Bei den Romanen und Erzählungen hat es sich mit der Zeit so ergeben, daß ich sie in einer ersten und zweiten Fassung niederschreibe, dann aber liegen lasse, oft drei, vier, fünf Jahre. Wandlungen des Prinzen Genji habe ich im wesentlichen 2008 geschrieben, erschienen ist das Buch 2014, die letzten Bearbeitungen datieren aus diesem Jahr. Für mich ist es gut, wenn ich Abstand zu meinen Hervorbringungen habe, vorher fällt mir die »Endfertigung« schwer. Wahrscheinlich aus Scheu und Scham, die bei mir anscheinend groß sind. Das heißt, daß ich durchaus ziemlich viel feile. Aber auch in diesem Punkt glaube ich, daß man zuviel tun kann. Es gibt in der Literatur ausgetüftelte und ausgefeilte Werke, die vielleicht perfekt sein mögen, denen es aber an Leben fehlt, an Spontaneität. Sie nehmen dann auch dem Leser die Luft, die er zum Atmen braucht. Ich denke, im Rückblick, daß früher, als ich um die dreißig war, meine Scheu mich gehemmt hat und aus diesem Grund bestimmte Werke unausgegoren sind. Ich hatte keine Berater und Helfer, keine konkreten Vorbilder, auch nicht in meiner Jugend. Und hätten sich welche angeboten, hätte ich sie möglicherweise abgelehnt, aus Scheu oder aus Dummheit, oder aus beidem.
Welche Beziehungen hast du zu den Verlegern? Manchmal konfliktreich, oder doch eher produktiv?
Es kommt vor, daß ich es bedaure, damals keine Helfer gehabt zu haben. Ein Verleger, ein Lektor sollte ja eigentlich ein Helfer sein. Aber letzten Endes bedauere ich gar nichts, je ne regrette rien, ich denke gerade an eine Szene in einem Dokumentarfilm über Leonard Cohen, wo der Dichter-Sänger spontan diese Zeilen aus dem Lied von Edith Piaf singt. Später habe ich die positive Zusammenarbeit mit diesen kritischen Lesern, den Lektoren, kennen und schätzen gelernt. Ein Verlag sollte darüber hinaus natürlich helfen, die Bücher unter die Leute zu bringen. In meinem Fall muß ich mich wohl oder übel damit bescheiden, daß meine Bücher nur eine kleine Minorität innerhalb der ohnehin schon kleinen Minorität der Leser erreichen können. Eine Autorin, Sibylle Mulot, meinte einmal, sie seien für die happy few geschrieben. Ob sie happy sind oder nicht, weiß ich nicht, aber es gibt sie natürlich, diese few, und ich stehe dazu, für sie zu schreiben, wenn überhaupt für jemanden. Das ist natürlich eine elitäre Position, und es ist mir sehr lange schwer gefallen, mich dazu zu bekennen, weil mir im gesellschaftlichen und politischen Sinn das Elitäre gar nicht so nahe liegt. Mittlerweile habe ich diese Fragen weiter durchdacht und meine, daß es unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen gar keinen anderen Weg gibt, um noch positive Veränderungen zu erzielen, als den Weg der Ausbildung und Multiplizierung kleiner Eliten. Zum Beispiel die Elite der Leser. Peter Handke spricht manchmal vom »Volk der Leser«, aber es ist eher ein Völkchen. Wirklich volkstümlich wird Literatur, wie ich (und wir) sie verstehen, wohl nie mehr werden. Die Literatur ist nicht volkstümlich.
Ich bin etwas vom Thema abgekommen... Lange Zeit konnte ich überhaupt keinen Verlag finden, und danach war meine Situation schwierig. Bei Deuticke, dem Wiener Verlag, der heute zum Hanser-Konzern gehört, wollte man mich auf den Essayisten festlegen. Im Ritter Verlag hob damals Ralph Klever eine Buchreihe aus der Taufe, bei der er bewußt von der jeweiligen Autorenpersönlichkeit absah, ganz im Unterschied zu den allermeisten Verlagen, die sehr stark personalisieren, einerseits aus kommerziellen Gründen, andererseits aber auch im Interesse der Autoren, die natürlich als Personen behandelt, betreut und kontinuierlich veröffentlicht werden wollen. Danach kam ich zu edition selene, einer Art Underground-Verlag, der zwar interessante Projekte hatte, aber nicht den langen Atem, um viel davon zu verwirklichen. Erst seit 2005 kann ich im Otto Müller Verlag einigermaßen ruhig meine Bücher herausbringen. Vielleicht zu ruhig, schon möglich.
Alles in allem ist die Kommerzialisierung und Konzentration im Verlagswesen für Außenseiter wie mich ungünstig. Beim Schreiben selbst nehme ich darauf keine Rücksicht, man kann nicht ständig auf die äußeren Bedingungen starren. Ich versuche, neue Medien, neue Publikationsformen zu sondieren und eventuell zu nutzen, aber auch da überwiegt die Skepsis vor der Euphorie. Die hohe Geschwindigkeit des Publizierens im Internet hat Vor- und Nachteile. In letzter Zeit hat mich auch die Kombination von Bild und Text, für die das Internet neue Möglichkeiten bietet, zu interessieren begonnen.
Wie beurteilst du als Autor die literarische Landschaft in Österreich?
Irgendwann in den zwanziger Jahren wurde Robert Musil einmal gefragt: Gibt es eine österreichische Literatur? Seine Antwort war: Ja, aber mit Maßen. Dem kann ich zustimmen, glaube aber, daß das spezifisch Österreichische langsam verschwindet. Globalisierung, Kommerzialisierung und kulturelle Pluralisierung, miteinander verbundene, aber auch ganz unterschiedliche Phänomene, an denen wahrscheinlich alle Autoren mehr oder weniger starken Anteil haben, löschen diese Spezifika aus. Faßt man die kommerziell erfolgreichen österreichischen Autoren ins Auge – zum Beispiel die österreichischen Erzähler im Hanser Verlag –, so ist davon ohnehin nichts mehr zu bemerken. Und massenmedial wahrgenommen werden nur noch die Autoren solcher Verlage. Und was nicht in den Medien vorkommt, existiert nicht. Bestimmte Internet-Macher sind sogar überzeugt, daß außerhalb vom Netz nichts existiert. Demnach wäre die Wirklichkeit an sich virtuell geworden.
Eine Besonderheit, die in Österreich fortbesteht, obwohl auch sie ins Wanken geraten ist, besteht darin, daß verhältnismäßig viel öffentliche Gelder für Autoren und Künstler aufgewendet werden. Österreich versteht sich nach wie vor als Land der Kultur. Das führt unter anderem zu der großen Zahl von Autoren, die Österreich hervorbringt. Ich glaube, es sind in Relation zur Einwohnerzahl deutlich mehr als in Deutschland oder der Schweiz. Und viele von ihnen schreiben gut, es ist nicht nur die Quantität, auch die Qualität ist bemerkenswert. Das ist ein positiver, erfreulicher Zug, den wir verteidigen sollten. Denn auch in Österreich gibt es genug Stimmen, die meinen, alles Unnötige und Unrentable vernachlässigen zu müssen. Was diese Leute freilich als nötig empfinden (falls sie nicht ohnehin die Auffassung vertreten, der Markt solle alles regulieren), darauf kann ich meinerseits verzichten, ich finde es unnötig. Die Partei der Grünen wird man spontan eher als kulturfreundlich einstufen. Der Kulturverantwortliche dieser Partei beschäftigt sich aber am liebsten mit dem Song-Contest der europäischen Fernsehanstalten, also einem Phänomen der kommerziellen Massenkultur. Das bringt vielleicht Stimmen, für Künstler jenseits des Kommerzbetriebs muß das aber bedenklich sein.
Was denkst über den Erotismus im Genji-Monogatari und in der Gegenwart in Japan?Diese Frage bezieht sich offenbar auf meinen letzten Roman. Ich bin kein besonderer Spezialist des Erotischen, aber es handelt sich du um eines der menschlichen Phänomene, eines der Erfahrungsfelder, die jeder Mensch kennt und die auch mich interessieren. Sexualität hat mich seit jeher verstört, beunruhigt, ein ruhig-harmonisches Verhältnis dazu konnte ich bis heute nicht gewinnen – was vielleicht in der Natur der Sache liegt, denn Sexualität ist Wille im Schopenhauerschen Sinn, ist unablässige Bewegung, ist der Inbegriff von Leben. Diese Definition führt gleich mitten hinein in die Problematik des Sexuellen und Erotischen in Japan, weil es in diesem Land ganz offensichtlich einen Mangel gibt, der nicht nur individuell empfunden wird, von den einen ja, von den anderen nein, sondern eben als gesellschaftliches Problem, über das man andererseits nicht oder nur sehr, sehr indirekt oder abstrakt spricht, weil Japan ein Land ist, in dem Tabus stärker und verbindlicher und dauerhafter wirken als anderswo.
Zugleich besteht in Japan bis heute ein starker Sinn für Ästhetik – das Ästhetische und das Erotische sind für mich grundsätzlich miteinander verbunden, ich folge darin der Auffassung Kierkegaards. Man versucht aber, es nach Möglichkeit im Zaum zu halten. Das Lebendige, Spontane verschwindet nach und nach aus dem Alltagsleben. Im Genji-Monogatari spürt man seine Präsenz, auch deshalb ist die Erzählung als solche interessant, spannend, abwechslungsreich, den die Beschreibungen der höfischen Feste allein, der Mondnächte und Kommunikationsformen (in denen Gedichte eine wesentliche Rolle spielen), würden den heutigen Leser rasch ermüden. Zu welchem Zeitpunkt diese Lebendigkeit aus dem japanischen Alltag verschwunden ist – natürlich nicht ganz, aber es gibt doch eine spürbare Schwächung –, weiß ich nicht, vermute aber, daß es zwei Schübe gab. Der erste könnte in der Meiji-Zeit stattgefunden haben, als man vor allem Deutschland und England nacheiferte. Man übernahm nicht nur den Linksverkehr, sondern auch die viktorianische Moral, und da die Beharrungskräfte in Japan sehr stark sind, wirkt diese hier länger fort als im Ursprungsland. Über die Edo-Zeit weiß ich nur wenig, aber wenn ich mit der Heian-Zeit vergleiche, wie sie sich im Genji-Monogatari oder im Kopfkissenbuch darstellt, dann muß hier eine große Veränderung stattgefunden haben. Junichiro Tanizaki verbindet sie mit dem Sieg der Kriegerkaste, der Samurai und des Shogunats. Auch das wäre eine mögliche Erklärung. Es ist tatsächlich auffällig, wie gering die Bedeutung der Kriegskunst in der Heian-Kultur ist, während im mittelalterlichen Deutschland, denken wir etwa an das Nibelungen-Lied, vor allem vom Krieg die Rede ist, und von der Liebe nur in einem sehr formalisierten Sinn, wobei auch hier wieder nur Krieger auftreten. In der höfischen Gesellschaft des Genji-Monogatari haben die Künste, Musik, Literatur, Kalligraphie, auch das Zeichnen und Malen, und natürlich die Liebeskunst, und die Kunst des Gesprächs, einen viel höheren Stellenwert.
Der zweite Schub hat meiner Meinung nach in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden. Ich glaube, so richtig eingesetzt hat er erst mit der wirtschaftlichen Krise, die in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann. In den fünfziger Jahren war es notwendig, ein Bevölkerungswachstum zu erzielen, und das war ohne sexuelle Regsamkeit natürlich nicht möglich. Vor einiger Zeit sah ich einen Film aus den frühen fünfziger Jahren, einen Spielfilm über Hiroshima, der zugleich dokumentarischen Charakter hat, ähnlich wie Kuroi ame von Masuji Ibuse, kein so bedeutendes Kunstwerk, aber für mich sehr interessant, weil man da das zerstörte, im Wiederaufbau befindliche Hiroshima sehen konnte, sowie zahlreiche Laienschauspieler, Kinder, deren spontanes Verhalten. Eine Schar Kinder hüpfte vor der Kamera von einer noch unfertigen Brücke in einen der Flüsse, die beim Atombombenangriff verseucht worden waren und unmittelbar danach kochend heiß waren. Viele Verletzte stürzten sich am Morgen des 6. August hinein und kamen so ums Leben. Wenige Jahre später dann diese Kinder, die in ungebremster Lebensfreude in den mehr oder minder sauberen Fluß springen. Heute wäre das völlig undenkbar, überall hört man »abunai, abunai«, in den Flüssen badet niemand mehr, von Sprüngen ganz zu schweigen. (Gestern habe ich beim Jogging im Park sogar gehört: »Abunai, inu ga...« Ein Pudel wurde einem Pudel gefährlich.) Das Leben ist wohlgeordnet, aber langweilig, es ist unlebendig geworden. Auf die Krise antwortet man in Japan mit einem »Noch mehr, noch besser!« Man muß noch mehr arbeiten, moto gambarimashou, dieses Verhalten stelle ich sowohl an der Universität als auch an der Grundschule fest, wo die Kinder schon für diese Situation trainiert werden, und in den Firmen wird es nicht anders sein. Zugleich wird aber die tatsächlich zu erledigende Arbeit nicht mehr, sondern weniger, deshalb »macht« man sich Arbeit oder tut so, als würde man arbeiten. »Minna isogashii...« Um sich abends nach der Arbeit oder am Wochenende nach einen Geschlechtspartner umzusehen, bleibt für viele gar keine Zeit mehr. Hinzu kommt die strikte Trennung der einzelnen Bereiche, die in Japan stärker als überall sonst auf der Welt ist. Die Kleidung zum Beispiel – ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, daß es nicht darum geht, sich ordentlich oder schön zu kleiden. Es geht darum, möglichst unauffällig und möglichst wenig individuell zu wirken. Die meisten dieser dunklen Anzüge und Kostüme sind von minderer Qualität. Ich selbst ziehe gern Anzüge an, aber auch wenn ich Anzüge trage, möchte ich mich nach meinem Geschmack kleiden, also so, daß ich (oder die anderen, natürlich denkt man auch an die Wirkung) es als schön empfinde. Genau das wird aber in Japan bereits als Herausforderung, als mangelnde Anpassung verstanden.
Derlei Beobachtungen könnte ich weiter ausführen, es ist nicht der Ort dafür. Ich denke, diese Entwicklungen, diese Schübe haben dazu geführt, daß sowohl die Erotik als auch die Ästhetik stereotypisiert, also gezähmt worden ist und letztlich zu einer Enterotisierung geführt hat, die auch die schwachen Geburtenzahlen nach sich zieht (obwohl es dafür noch andere Gründe gibt). Sogar die Naturliebe, die man im Genji-Monogatari zu spüren glaubt, ist verlorengegangen, indem sie restlos rhetorisiert wurde. Ich glaube, daß »der Japaner«, wenn so eine Verallgemeinerung überhaupt zulässig ist, die Natur nicht liebt, sondern als störend empfindet. Man muß sie auf Distanz halten, in strenge kulturelle oder massenkulturelle oder kommerzielle Formen gießen und im übrigen beseitigen, wenn sie konkret stört. Man kann sich ja auch mit Plastikkirschblüten begnügen. Japaner sind unter anderem auch sehr geschickt in der Simulation.
Was meinst du zu deiner literarischen Sprache? Dein Schreibstil ist sehr bildhalft und präzis, das ist jedenfalls mein Eindruck. Woher kommt diese Bildhaftigkeit der Sprache?
Gerade gestern habe ich in einem Essay geschrieben, daß der Stil eines Autors in seinem Körper wurzelt. Eigentlich stammt dieser Gedanke von Nietzsche, und ich glaube, er hat recht, sofern man »Körper« nicht zu eng definiert, sondern als Gesamtheit sinnlicher Dispositionen und Fähigkeiten in ihrer jeweils spezifischen Ausprägung versteht, denn jedes Individuum ist natürlich anders. Der Stil eines Autors verrät etwas über seine Person, nicht nur über seinen Geist, sondern über seine sinnliche Präsenz. Deshalb ist Stil nur sehr bedingt »erlernbar«, und deshalb auch meine Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Creative-Writing-Kursen, von Dichtungsakademien wie in Leipzig. Nicht, daß es schlecht wäre, solche Kurse abzuhalten, aber man darf sich nicht zuviel davon erwarten. (Ich vermute ohnehin, daß man dort eher lernt, sich selbst darzustellen und zu vermarkten.) Soweit ich diese Dinge an mir selbst reflektiere – zuviel Reflexion kann das Schöpferische, kann die Ausübung behindern –, versuche ich, mich einem Ideal zu nähern, das in der Verbindung aller Seiten der Sprachkunst besteht: Rhythmus, Klang, Bildlichkeit, Denken, Intellektualität, erzählerische Strukturen, die Dynamik (oder auch Collage) narrativer Sequenzen usw. Literatur ist Musik, Bild, Denken, Erzählen in einem. Eigentlich eine triviale Feststellung. Ein Musiker, ein Maler, sogar ein Denker kann sich mehr auf das Handwerk konzentrieren, seine spezifischen Fertigkeiten sind wahrscheinlich wichtiger als bei einem Autor, der dies und jenes können muß und eigentlich gar kein richtiger Spezialist ist.
Wenn ich zurückblicke – als Jugendlicher hat mich der rein sprachliche Aspekt fasziniert. Was ich damals schrieb, würde man, wenn es nicht zu hoch gegriffen wäre, als »avantgardistisch« bezeichnen. Das Germanistik-Studium hat mich vom Schreiben eher abgehalten, aber im akademischen Kontext habe ich gesehen, daß ich Essays schreiben kann und daß diese auch literarischen Wert haben. Dann habe ich entdeckt, daß, immer noch im essayistischen Bereich, das Porträt ein Genre ist, das mir liegt. Aber der erste Schritt zu einer erzählenden Literatur, die dann auch regelmäßig publiziert wurde, in Zeitschriften oder in Büchern, war ein Schritt zur konsequenten Beschreibung der Außenwelt, fast im Sinne des Nouveau roman. Ein Text, der mir heute bezeichnend scheint und den ich deshalb gern mag, weil er neben dem Deskriptiven eine mystische Stimmung entfaltet, ist Bildbeschreibung. Ein anderer heißt – bezeichnend – Die Schaukästen. Im Lauf der Zeit habe ich aber auch gemerkt, daß reine Beschreibung eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Die radikalsten Beschreiber, zum Beispiel Francis Ponge, sind sich rasch darüber klar geworden, daß ihr Unterfangen sie in philosophische Bereiche führt und Sprachskepsis sich zwangsläufig einstellt. Ein Ding zu beschreiben, ist eigentlich absurd, eine Sisyphosarbeit, selbst mit der Beschreibung eines Bleistifts oder eines Radiergummis wird man niemals fertig, man kommt nicht damit zurande. Man kann eigentlich nur evozieren, andeuten, umschreiben, beschwören. Umschreiben, nicht beschreiben. Wachrufen, zum (sprachlichen) Leben erwecken. So bin ich, was meine eigene Arbeit betrifft, langsam dazu übergegangen, mich doch mehr für das Erzählen zu interessieren, das man als – mehr oder weniger geschicktes – Verknüpfen von unvollkommenen, oft auch nur abgerissenen oder angerissenen Beschreibungen verstehen kann. Diese Unvollkommenheit muß man dabei natürlich akzeptieren, sonst kann man nicht erzählen, man kommt schlicht und einfach nicht weiter. Ein Erzähler will weiterkommen. Ein Dichter nicht, er will sich vielleicht – versenken.
Wie stehst du zu Authentizität und Fiktionalität? Willst du etwas Authentisches, Dokumentarisches suchen, oder eher eine mögliche Realität?
Wie ich oben schon sagte, kein Autor, nicht einmal ein Konstrukteur von Science-Fiction, kann die Realität, die er erfährt oder früher erfahren hat, völlig ausblenden. Ich für meinen Teil will das auch gar nicht, ich will mich immer mit Wirklichkeit auseinandersetzen, wenn ich schreibe, will erst einmal bestimmen, was Wirklichkeit – »meine« oder »unsere« – überhaupt ist, die besonderen Merkmale zeitgenössischer Wirklichkeit, sie zu bestimmen ist gar nicht leicht, oder auch historische Wirklichkeit. Von Randbereichen wie Reportage oder Phantastik einmal abgesehen, ist in erzählender Literatur immer ein Widerspiel oder Gegenspiel – »objeu«, französisch, der Begriff stammt von Ponge – von Wirklichkeitsdarstellung und Fiktion, Phantasie und Realität im Gang.
Musil hat vor bald hundert Jahren den Möglichkeitssinn propagiert. Die Erzeugung von virtuellen Welten ist mittlerweile trivialisiert, viele Leute leben mehr im Virtuellen als in einer Wirklichkeit im herkömmlichen Sinn. Unter diesen Bedingungen scheint es mir wichtiger, den Wirklichkeitssinn wiederzubeleben. Musil ist schwer veraltet. Ein Buch, an dem ich derzeit schreibe, voraussichtlich wird es 2016 publiziert, ein Essayband, hat den Arbeitstitel »Vom Wirklichkeitssinn zum Möglichkeitssinn (und zurück)«.
Was ist für dich wichtiger, menschliche Geschichten (Erzählung) oder literarische Sprache (Ausdrucksform)? Obwohl sicher beide Elemente wichtig sind und schwer zu trennen sind.
Natürlich beides, aber in einer Zeit, in der geduldige Spracharbeit eher gering geschätzt wird (obwohl es weiterhin zahlreiche Autoren gibt, die sich ihr widmen), würde ich, wenn ich müßte, für die Sprache optieren. Literatur ist Sprachkunst. Aber Literatur erzählt auch. Sie kann nicht ohne Sprache auskommen, aber sie kann ohne geschriebene Worte auskommen, sie kann auch mündlich sein und war es in früheren Zeiten. Es gibt Autoren, deren Talent im Erzählen an sich besteht, der sprachliche Ausdruck ist sekundär, vielleicht sogar weniger »gut«, oder ungeschickt, aber das macht nichts, wenn die Erzählkraft stark genug ist. Ein wesentlicher Aspekt solcher Literatur ist das Generieren, das Zueinander- und Ineinanderführen von epischen Sequenzen. Diese Tatsache, die soziale Bedeutung des Erzählens an sich, ob mündlich oder schriftlich, muß man respektieren, und ich für meinen Teil schätze etliche dieser Autoren, die gut erzählen und sich wenig um die Sprache kümmern. Dazu kommt dann weiterhin die Frage, ob Erfundenes oder Erlebtes oder Gehörtes der Erzählinhalt ist. Auch das nichtfiktionale Erzählen kann eine hohe Kunst sein. Sogar das Aufnehmen von Interviews, wo der Interviewer meist nur wenige Worte beisteuert, kann durch die Führung des Dialogs, durch die Stimulierung, Beeinflussung und Modellierung der Erzählung des Interviewten, Ausdruck hoher Erzählkunst sein.
Fremdheit und Verlassenheit gehören zu deinen Motiven, nicht wahr? Wie kann man diese Erfahrungen ins Positive verwandeln?
Da ich gerade in einem Café im Bahnhof von Hiroshima sitze und dies die letzte Frage ist und ich den Interviewer, also dich, in wenigen Minuten am Bahnsteig abholen soll, werde ich mich bemühen, diese Frage möglichst kurz zu beantworten. Und ich sehe sogleich die Schwierigkeit, denn Kürze ist oft das Ergebnis von langem Nachdenken. Und eine Sentenz aus meinem Sentenzenbuch abzuschreiben, ist mir auch zu blöd. Außerdem ist dieses Sentenzenbuch noch nicht fertig. Wenn es eines Tages fertig sein wird, wird es wahrscheinlich »Buch der Widersprüche« heißen. Ein Vorläufer dieses Buchs ist das bereits erwähnte Lob der Entfremdung. Dort betone ich, daß es ein Widerspiel zwischen Fremdheit und Vertrautheit gibt. Und jetzt muß ich gehen.
Nagoya/Hiroshima, März 2015, per E‑mail
Hier ist das vollständige Gespräch als pdf-Dokument.
© Masahiko Tsuchiya/Leopold Federmair