Henrik Vankel ist 1970 geboren und 26 Jahre alt, als er eine Stelle als Aushilfslehrer, befristet auf ein Jahr, in einem als Dorf beschriebenen Ort in Nordnorwegen antritt. Es ist kalt und es schneit. Mit dem Winter beginnt die Zeit, in der es auf dem Höhepunkt nur rund eine Stunde am Tag hell ist, der Sonnenaufgang nahtlos in den ‑untergang übergeht. Henrik ist ungebunden, lebt allein, in einem Mietshaus. Über ihn wohnt Linda, acht Jahre älter, ebenfalls Lehrerin, mit ihrem Ehemann Richard.
Ohne große Umstände kommt Karl Ove Knausgård in seinem 1998 erschienenen Erstlingsroman »Aus der Welt« (norwegisch: »Ute av verden«, laut Übersetzungsprogramm eher: »Nicht von dieser Welt«) auf das bestimmende Thema dieses Henrik zu sprechen: Er ist angezogen von einer Clique 13jähriger Mädchen der Schule, von Hanna, Katarina, Annette und Miriam, die er »meine Mädchen« nennt. Ich-Erzähler Henrik registriert »ihr verlegenes Lächeln und ihre errötenden Gesichter« und konstatiert: »irgendetwas an ihnen brachte mich aus dem Konzept«. »Was hatten sie an sich, das mich so aus der Fassung brachte, was war es?«, so fragt Henrik am Anfang. Besonders hingezogen fühlt er sich zu Miriam. Es beginnt als Schwärmerei, fast wie ein Teenager, was sich auch darin zeigt, dass der Ich-Erzähler einige Impressionen lautmalerisch, in Comicsprache, unterstützend schildert.
Alles an und von Miriam wird beobachtet und gedeutet: »Als wären nur wir zwei im Raum, zieht sie vorsichtig das weite T‑Shirt straff, lächelt kurz und dreht sich dann um.« Im Unterricht steigert sich das Verlangen bisweilen noch: »Ich hätte zu ihr gehen können, nur um sie zu riechen, dachte ich, den Geruch ihres warmen, feuchten Wollpullovers aufzunehmen. Die Süße des Atems.« Aber es muss unterdrückt, darf nicht offensichtlich und von anderen bemerkt werden. Denn es sind doch »Kinderstimmen, Kinderaugen, Kindergedanken, Kinderschuld, Kinderscham«, so beschwört er sich selber.
Vergebens. Als sie ihn unverhofft besucht, flammt die Leidenschaft vollends auf. Er »war voller Zärtlichkeit für sie«, für ihre »kurzen japanischen Schritte«, den »grünen Augen…kurzgeschnittenen Haaren«, dem »langgliedrige[n] Körper.« Kann es sein, dass sie auch in ihn verliebt ist? »Miriam, dreizehn Jahre alt, verliebt in mich? Nein, nein, nein! Warum sollte sie? Großer Gott, hatte ich jetzt völlig den Verstand verloren, dachte ich…« Noch gibt es diese Barriere, das gesellschaftliche Tabu. Dennoch Verabredungen für weitere Besuche, auch wenn er einmal ihr Klingeln nicht erwidert.
Henrik ist eine Beobachtungsmaschine und, wie es scheint, ein Meister der Interpretation von Gesten, Zeichen und Gesprochenem. Er neigt zu paranoiden Zügen, bezieht vieles auf sich. Aber die Meisterschaft erweist sich schnell als fragwürdig. Mit Lindas Avancen spielt er, indem er einen anonymen Brief an Richard schreibt. Hierin deutet er ein Verhältnis Lindas mit einem anderen Mann an. Er wartet auf die Reaktion, die jedoch ausbleibt; Richard lädt ihn sogar zum Fischen ein und als er ihn auf einen Brief anspricht, weiß dieser von nichts.
Und als sich Linda bei einem Fest auf seinen Schoß setzt, interpretiert Henrik dieses Verhalten als Aufforderung. Ihre Reaktionen auf das Streicheln ihres Bauches verleitet ihn zu weiterem, übergriffigem Verhalten. Er geht zu weit: »Linda starrte mich an, zunächst ungläubig, bis ihr Blick sich langsam mit Verachtung füllte und ich begriff, wie grausam ich mich geirrt hatte.« Aber Henrik ist an diesem Abend angestachelt. Er wendet sich der weniger attraktiven, aber anscheinend interessierten Irene, ebenfalls eine Kollegin, zu. Die Angelegenheit droht zu eskalieren, als er, nach Beendigung des Festes, heimlich in Irenes Haus eindringt und sie auf der Toilette überrascht. Sie stellt ihn zur Rede und Henrik geht. Sein Fehlverhalten schiebt sie auf dessen übermäßigen Alkoholgenuss.
Diese Szene ist die erste Zäsur in diesem Roman. Man ahnt, dass Henrik nicht der nette Aushilfslehrer ist, der immer ein offenes Ohr für seine Schüler hat und sich in das Lehrerkollegium einfügen möchte. »Als wäre ich harmlos…« denkt er, als Irene ihn ultimativ aufforderte, das Haus zu verlassen. Er beherrscht sich jedoch. Selbst bezeichnet er sich als »das personifizierte Unangenehme«.
Die Dorfstrukturen bringen es mit sich, dass nicht nur jeder jeden kennt, sondern auch schnell private Beziehungen über das Dienstliche hinweg geknüpft werden. Spätestens hier merkt man, dass der Roman 1996 spielt, einer Zeit, in der es noch keine Mobiltelefone und mithin keine »sozialen Netzwerke« und deren Auswüchse gab. Die Bewohner sind auf sich, auf ihre »realen« sozialen Interaktionen und Kontakte, angewiesen.
Die Schüler duzen ihre Lehrer (was, wie ich mir habe sagen lassen, in Norwegen durchaus normal ist). Dennoch dürfte die Vermittlung des Lehrstoffs durch Henrik für norwegische Verhältnisse eher autoritär gewesen sein. Er erkennt die Defizite der Schüler und dass er diese nicht wird auflösen können, da ihm die Zeit fehlt. Und er konfrontiert sie damit. Gleichzeitig entwickelt er Verhaltensthesen zu bestimmten Jahrgängen, extrapoliert die Unterschiede zwischen 10‑, 13- und 16jährigen, die für ihn essentiell sind. Dahinter steht die Vermutung, dass die 16jährige Miriam die Liebreize der 13jährigen nicht mehr besitzen wird. Später, im dritten Teil, in dem Henrik mit dem Zweifel ringt, ist er sich sicher, dass Miriam ihn irgendwann vergessen haben wird.
Die Lehrer verkehren auch mal bei den Eltern der Schutzbefohlenen. Als Miriam mit einem Infekt zu Hause im Bett liegt, besucht Henrik sie, um ihr Aufgaben zum Weiterlernen zu geben. »Sie wandte sich mir im Bett zu. Ich ging zu ihr. Sie sah mich mit überraschten Augen an. Ich legte eine Hand auf die Decke, beugte mich über sie und berührte ihre heißen Lippen mit meinen, ein vorsichtiger Kuss, dann strich ich ihr mit der Hand durchs Haar.« Es ist passiert.
Henrik ist sich sicher, dass Miriam in ihn verliebt ist. Auch Andreas, Miriams Bruder, hat ihm dies gesagt (er nimmt es für bare Münze, während er es Andreas gegenüber natürlich ablehnt). Die Spannung des Lesers bis zum Ende des Romans besteht darin, ob man Henriks Deutung akzeptiert, ob es Indizien dafür gibt oder nicht.
Zunächst schienen sexuelle Interessen ausgeschlossen, aber der Kuss änderte alles. Klar, es droht jetzt im Roman der Kitsch. Diese Gefahr bannt Knausgård, indem Henriks Schwärmereien zwar mit geradezu Stifter’schem Entzücken geschildert, aber dabei meist hin- und hergewendet werden. Miriam hingegen bleibt wortkarg; der Leser bleibt auf die Aktionen ihrer Körpersprache angewiesen, die allerdings nur durch den Erzähler gefiltert wahrgenommen und damit durch ihn gedeutet werden. Kann es sein, so fragt sich der Leser, dass sich Henrik Miriams Zuneigung ihm gegenüber nur einbildet? Wie empfindet Miriam?
Die Verwicklungen nehmen halb tragödienhaft ihren Lauf. Henrik gibt sich große Mühe, nach außen einen möglichst neutralen Eindruck zu hinterlassen. Im Frühling kommt es zu immer häufigeren, konspirativen Besuchen Miriams. Henrik folgt dem »Licht des Begehrens« immer mehr. Da sitzen sie nun bei Kartoffelchips und Cola. Das Mädchen ist eher passiv, schaut aus dem Fenster oder untersucht die CD-Sammlung. Henrik ist unsicher. Es entstehen Räume von Schweigen, gefüllt mit Sehnsüchten. Am Rande der Peinlichkeit. Der Leser will eigentlich nicht Zeuge sein, aber er muss. Er wird zum Voyeur, vielleicht sogar zum Komplizen Henriks, der es kaum erwarten kann. Eine andere Möglichkeit der Rezeption besteht darin, alles abzulehnen, zu verteufeln, die (übliche, naheliegende) moralinsaure Argumentation nebst dem P‑Wort vorzubringen. Aber es ist Literatur. Und es gibt Gründe, sich darauf einzulassen. Schließlich ist Literatur auch Zumutung.
Schließlich kommt es zur sexuellen Annäherung: »Sie wollte mich haben. Hart vor Begierde führte ich die Hand abwärts«. Zunächst versagt er. Am Ende wacht Miriam bei ihm am nächsten Morgen auf. Die Panik ist auf beiden Seiten groß. Was werden Miriams Eltern sagen? Henrik entwickelt für sie eine Lügengeschichte und schickt sie nach Hause. Er geht zu Henning, den er überreden muss, ihn zu einem drei Stunden entfernten Hafen zu fahren. Henrik sieht schon die wütenden Dorfbewohner vor der Türe (es bleibt Imagination). Schließlich ist er auf einem Schiff in Richtung Kristiansand.
Die Szenerie bricht ab. Im zweiten Teil erzählt Henrik von seiner Mutter Ingrid, vom Sommer 1964 in Kristiansand, einem sonnigen Sonntag, der ihr Leben prägen sollte, denn in »ein paar Stunden wird sie dem Mann begegnen, der zum wichtigsten in ihrem Leben werden wird. Noch wissen sie nichts voneinander.« Ingrid Hegremes ist 17 Jahre alt, arbeitet den Sommer über in den Ferien als Wäscherin, braucht das Geld, um später die Hochschule zu besuchen. Mit ihrer Freundin fährt sie zu einer Insel. Dort begegnet sie den als Draufgänger verschrieenen Harald Vankel, drei Jahre älter als sie. Ingrid verliebt sich, forciert die Beziehung, während Harald eher zurückhaltend ist. Henrik betätigt sich hier als allwissender, gleichzeitig aber auch fragend-beschwörender Erzähler.
Mehrfach kippt die Stimmung zwischen den beiden. Es ist keine Liebe auf den ersten, nicht einmal zweiten Blick. Hinzu kommt, dass sich Haralds Familie hochnäsig gebärdet. Nüchtern Henriks Erkenntnis, dass er ohne die Hartnäckigkeit seiner Mutter nicht entstanden wäre. Ausgiebig werden die Jahre des Paares zwischen 1964 und 1967, der Geburt von Klaus, Henriks Bruder, behandelt, die finanziellen Schwierigkeiten, die bereits einsetzenden Eheprobleme. Als der Erzähler 1970 als zweites Kind auf die Welt kommt, nimmt die Geschichte Fahrt auf. Skizzenhaft das Leben in eine neu errichteten Wohnsiedlung (die Jahre später wieder aufgegeben wird). Es kommt 1984 zum Zerwürfnis zwischen Klaus und seinem Vater, was dann zur Trennung zwischen Ingrid und Harald führt. Henrik studiert sechs Jahre, geht kurz vor dem Abschluss nach Nordnorwegen und bleibt dort bis zur »Flucht« neun Monate. So endet das zweite Kapitel – mit Henrik alleine in einem Zimmer in Kristiansand, all dies phantasierend.
Es ist erst knapp die Hälfte des Buches erreicht, da beginnt der dritte Teil, ein über weite Strecken surreales Assoziationsgewitter von mehr als 450 Seiten. Zum einen wird der Faden aus dem ersten Teil wieder aufgenommen. Henrik ist in Kristiansand angekommen, einer Stadt, in der er schon mit seinen Eltern gewohnt hatte, in der die Eltern des Vaters gelebt haben und jetzt noch die herrische, kalte Großmutter lebt, eine Stadt voller (ambivalenter) Erinnerungen. Er hat sich ein Zimmer in einem beinahe verfallenen Haus gemietet in dem nur er und eine Schlange leben. Die Gedanken kreisen um Miriam, er überlegt lange, ob er sie anrufen soll, macht es dann (wieder die vergangenen Zeiten: man muss eine Telefonzelle suchen) und erfährt, dass sie in der nächsten Woche mit der Familie zu einer Konfirmation nach Kristiansand fliegt. Man schmiedet Pläne, sich in aller Heimlichkeit zu treffen und Henrik schwankt von nun an zwischen Lust und Abneigung, er »will sie« und dann wieder nicht. »Scham ist Distanz zu sich selbst. Ohne Distanz fällt die Scham weg«, bilanziert Henrik einmal. Er sucht sie, die Distanz, scheitert aber ständig.
Henrik schickt ein Kündigungsschreiben an die Schule und kontaktiert einen einstigen Schulfreund. Er rekapituliert die Freundschaft, die Abneigung der Freundin des Schulfreundes ihm gegenüber, die Schwierigkeiten in der Theater-AG der Schule (eine eindringliche Schilderung wird geliefert, in der Henrik mitbekommt, wie sich die Mitschüler über ihn lustig machen, weil sie glauben, dass er abwesend sei). Er lügt ihn an, was seine überstürzte Flucht angeht.
Henrik ist ein Flaneur, übervoll von Phantasmagorien, Kindheits- und Teenagererinnerungen, Alpträumen, die ihm bei seinen Ausflügen durch die Stadt (meist im Regen) anfliegen. Wie von Zauberhand ist man plötzlich mit »Henrik sechszehn« oder »Henrik achtzehn«, in seinen diversen Wohnkonstellationen mit Mutter, mit Vater oder auch kurze Zeit alleine, als man ihn wie einen Gegenstand abschiebt in ein Mansardenzimmer in einem Haus der Großmutter, die sich vorher verbeten hatte, dass Henrik sie so häufig besuchen kommt.
Es ist eine Jugend mit Demütigungen, die irgendwann aus dem Ruder gerät, in Alkohol und Vandalismus ertränkt wird. Henriks Verhältnis zum Vater ist von einer Mischung aus Ohnmacht und Hassliebe geprägt: »Sein bloßer Anblick hat mich bereits geschwächt. Würde er mich jetzt entdecken, könnte er mich schon dadurch erzittern lassen, dass er die Stimme erhebt. Nähme er mich in den Arm, würde ich weinen. Er ist der Einzige, gegen den ich mich nicht wehren kann. Gegen ihn hilft keine Strategie. Selbst wenn er schwach ist, bin ich schwächer. Und so wird es immer bleiben«.
Ausführlich erfährt der Leser von Henrik Annäherungen an die Jugendlieben Elisabeth (50 Wörter im Bus, die ins nichts verlaufen) und Berte (32 anonyme Briefe als Vorspiel). Seine Außenseiterrolle in der Schule, die er nicht zelebriert (nein, derartige Rollenklischees bedient Knausgård nicht), das krampfhafte Suchen nach Freundschaften, nach Akzeptanz (er beginnt fast aus Verzweiflung mit dem Rauchen), sein subkutanes Leiden unter dem Versagen der Eltern. Bisweilen wirken Henriks Rekapitulationen des Vergangenen wie therapeutische Bewältigungsstrategien einer verkorksten Pubertät, freilich garniert mit reichlich Selbstmitleid.
Aber es gibt auch noch Henriks Traumwelten von 1996. Sie sind bedrohlich, erzählen vom Aufwachen und dem Nichtmehrwissen, wo man ist, wer man ist, der unbekannten Frau neben einem, die die Ehefrau ist, der Lektüre in Lexika, in denen nichts mehr von dem stimmt, was er wusste. »Du schlugst Montaigne nach, der hier ein berühmter Staatsmann war, du last den Artikel über Röntgen, der das Maschinengewehr konstruierte…du studiertest Pasteurs überirdisch schöne Choräle und Symphonien, last über Francis Bacon, den Erbauer des ersten U‑Boots.« Er ist verwirrt, verzweifelt, denn »du konntest mit niemandem darüber sprechen, deine Erinnerungen an eine andere Welt gehörten dir ganz allein, vor und zurück blättertest du in diesem Lexikon und hattest keine Augen mehr für etwas Anderes«. So wird ausführlich von Immanuel Kant erzählt, der zu Lebzeiten als Pionier der örtlichen Betäubung gilt und nach seinem Tod bekannt wurde für ein Erzählprojekt aus Königsberg, ein Buch voller Intimitäten, das bis 1952 in Deutschland verboten war. Hier nimmt Knausgård sein »Min Kamp«-Projekt vorweg.
Die Dystopie weitet sich noch. Seine Frau erwartet ein Kind und sie besorgt ihm Arbeit, um die Familie mitzuernähren. Er wird weggeschickt, mit dem Zug, man ahnt Schreckliches, aber es wird nur eine Odyssee, zu einem geheimen Arbeitsprojekt. Zwei Monate Arbeit, 12 Stunden am Tag, 11 Stunden Schlaf. Danach geht es zurück zur kurzen Freizeit, in der man sich einen Boxkampf mit drei zehnjährigen Jungen anschaut. Kafkaeske Abläufe, zuweilen etwas inkonsistent aufbereitet, weswegen der Schauder sich in Grenzen hält.
Man ist dann froh wenn die Abzweigungen ins Phantasie-Reich aufhören, merkt aber auf, wenn er wieder flaniert, sein Zimmer verlässt. Was kommt jetzt? Assoziationen zu Wilhelm II beim Urlaub in Norwegen 1914. Dann eine Dante-Verzettelung zu der ich, der Leser, den Faden und auch irgendwann die Lust verlor. Eine Thomas-Bernhard-gemäße Schimpfrede auf die Alten. Reflexionen über Pornographie: »In der Welt des Pornos ist kein Raum für Nuancen. Es geht nur um ganz wenige Dinge, alles Andere ist unwichtig, der Porno nimmt keine Rücksicht, der Porno ist nicht freundlich und verständnisvoll.« Und die Bigotterie der 2020er Jahre nimmt er auch noch vorweg: »…selbst den Porno können die Achtundsechziger nicht in Frieden lassen, selbst dort müssen sie einem mit ihren bornierten Ansichten und windelweichen Gedanken über Gleichberechtigung kommen.«
Es gärt in Henrik Vankel. Er strotzt vor Mord‑, Auslöschungs- und Selbstauslöschungsphantasien. Die Beerdigung des Vaters etwa. Ein Mord an einen ehemaligen Lehrerkollegen. Der eigene Tod in einem Kanal, die Schreie, wenn die Leute seine Leiche entdecken. Eine Begegnung des 26jährigen mit dem 13jährigen. Ständige Reflexionen und Referate über Vergangenheit und Gegenwart. Der Höhepunkt ist ein imaginäres Tennismatch: »Die Gegenwart schlägt den Ball ins Feld der Vergangenheit, die den Aufschlag returniert, die Gegenwart bleibt an der Grundlinie und schlägt den Ball zurück, die Vergangenheit spielt offensiv und geht ans Netz, die Gegenwart versucht einen Lob, die Vergangenheit sprintet zurück, dreht sich abrupt, bringt den Ball mit einer plumpen Rückhand hoch über das Netz, die Gegenwart hat leichtes Spiel, hart platziert sie den Ball in der Ecke, ein gnadenloser Schmetterball, und die Vergangenheit ist ausgespielt worden. 15 – 0.« Der größte Wunsch scheinbar: Die Vergangenheit auszulöschen, in eine neue Gegenwart zu transformieren, noch einmal von vorne anfangen mit dem Wissen von heute?!
Zukunft gibt es nur als Gedanke an Archäologen in ferner Zeit, die in sich über die Gegenwart als Vergangenheit lustig machen werden: »Wie unsere Welt irgendwann eine Erinnerung sein wird, schöne Geschichten aus einer dunklen Vorzeit, von Flugmaschinen und Autobahnen, Fabriken und Raumschiffen. Schön, einfach. […] Was werden die Archäologen der Zukunft diesen Dingen entnehmen? Eine kindische und hilflose Expansion. Wenngleich charmant. Das werden sie denken, diese Archäologen, gerührt […] So wie uns manchmal die Experimente der Alchemisten früherer Zeiten rühren«.
Die einzige Zukunft ist der Tag, an dem Miriam mit der Familie ankommt. Es wird zum Countdown. Henrik schwankt zwischen Gleichgültigkeit und Lust. Was wird geschehen? Diese Frage wird hier nicht aufgelöst werden.
Es ist sicherlich ein bisschen unglücklich, dass ausgerechnet Knausgårds erster Roman jetzt erst ins Deutsche, nach all den anderen Texten, übersetzt wurde. Immerhin blieb man bei Paul Berf als Übersetzer. Knausgårds surreale Phantastik, die in »Alles hat seine Zeit« (2004 »En tid for alt«, 2007 deutsch) noch deutlicher hervortritt, zeichnet sich hier schon ab. Henrik ist hier zwei Jahre weiter, es ist 1998 und Miriam kommt nicht mehr vor. Abermals phantasiert er seinen Tod, paraphrasiert seine Grabinschrift: Er »starb, um sich davon zu überzeugen, dass seine Gefühle echt waren.« Mehr Pathos geht nicht. In Knausgårds erstem Roman findet man auch schon die Geschwätzigkeit, die Beobachtungs- und Deutungsmanie, die in seinen »Min Kamp«-Büchern bis zur Schmerzgrenze ausbreiten wird.
Man geht Autor und Buch auf dem Leim, wenn man den Roman auf die Liebesbeziehung zwischen Henrik und Miriam reduziert. Gleichzeitig forciert Knausgård genau diese Spannung immer weiter, legt suggestiv den Keim für diese gesellschaftlich geächtete Beziehung in Kindheit und Jugend seiner Hauptfigur. Henriks zeitweilige polymorph-psychotischen Störungen, sein »Doppelleben« (Selbstcharakterisierung), machen ihn bis zum Schluß unberechenbar. Einige Parallelen zur Weltliteratur, die Knausgård absichtsvoll streut, wirken allerdings bemüht. Die größte Schwäche ist die Figur Miriam, die blass bleibt. Natürlich kommt man rasch auf den Lolita-Vergleich, aber von dieser Figur hat Miriam wenig bis nichts. Die philosophischen Einschübe Henriks, insbesondere was die Zeit und die Erinnerung angehen, sind manchmal unterhaltsam, die Dystopien zu harmlos. Trotz einiger Längen ist »Aus der Welt« ein kraftvolles Buch, das bisweilen berührt. Der Roman ist ganz sicher keine Axt im gefrorenen Meer, aber vielleicht ein kleiner Eispickel. Und damit mehr als so vieles, was man derzeit so lobt.
Sie loben ja schon wieder... Ich könnte das nicht. Die Schilderungen Knausgaards kommen mir vor wie die Tagebucheinträge eines Laborhuhns, insofern nicht weit von Kafka. Das Leben in Norwegen muss fürchterlich sein; es handelt sich wohl um eine Warnung. Der Tourismusminister sollte ihn zensieren.
Irgendwie glaubt man die Lolita-Geschichte nicht. Die verbotene Beziehung. Knausgaard versucht, uns mit Oedipus zu locken. Man wundert sich, dass in dieser Intimitäts-Druckkammer Norwegen überhaupt noch Grenzen existieren. Das Ich dieses Ich-Erzählers ist eigentümlich schwach. Es fehlt die Selbst-Idealisation. Niemand ist etwas Besonderes; Verfluchte in einem kleinen protestantischen Land. Es gibt auch keine besonderen Gedanken. Aller Geist kommt aus dem Ausland. Pasteur, Montaigne, Bacon, Röntgen. Warum zum Teufel erschießt er sich nicht, will er sich ewig bedauern?! Bestimmt will er nicht banal erscheinen.
Manche Romane werden geschrieben, um eine Psychoanalyse durchzuführen. Knausgaard erzeugt eher das Plagiat einer Analyse. Er schreibt in der Ich-Form, aber er versteckt das Monster. Man kommt nicht »an ihn ran«...
Tagebucheintragungen eines Laborhuhns? Kafka? Wie kommen Sie denn auf das?
War satirisch gemeint. Bei Kafka werden die Tiere als vollwertige Lebewesen beschrieben; bei Knausgaard sind die Menschen unterentwickelt und ähneln »Laborhühnern« unter ungünstigen Haltungsbedingungen. »Nicht weit entfernt von Kafka«, bedeutet also, hier liegt ein deutlicher Unterschied vor...
Ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich das Buch so stark gelobt habe.
Die Problematik ist tatsächlich das Ich-Erzählen von Henrik. Ich dachte mehrfach an Handkes Tormann. Hier wird personal/allwissend erzählt, die psychischen Störungen des Protagonisten von außen fast beschrieben. Knausgaard macht das nicht, was einerseits die Spannung erhöht, andererseits eine Anstrengung des Lesers fordert. Wie zuverlässig ist der Erzähler?
Dieses Verfahren geht zu Lasten der anderen Protagonisten, insbesondere Miriam. Andererseits weiß man so auch nicht, was Henrik sich einbildet und was tatsächlich geschehen ist.
Das gilt insbesondere für die »Lolita«-Geschichte, die in Wirklichkeit keine »Lolita«-Geschichte ist, weil Miriam z. B. keinerlei Laszivität an den Tag legt. Auch dies ist das Spannende während der Lektüre. Wäre es nur eine Göre, die halbnackt herumläuft und mit den Augen klimpert, wäre es tatsächlich nur noch Klischee. (Womit nicht gesagt ist, dass Nabokovs Roman das ist. Aber nach »Lolita« müssen alle anderen Texte, die sich diesem Thema »widmen«, erst einmal die Hürde des Epigonentums überwinden.)
Das er das »Monster« versteckt, ist tatsächlich ein Einwand, den man nicht leicht entkräften kann. Immerhin liegt die Vermutung sehr nahe, dass es zum Verkehr zwischen Henrik und Miriam gekommen ist. Für manche Rezensenten (besonders Rezensentinnen) genügt dies bereits als Monstrosität, die natürlich einszueins auf den Autor projiziert wird.
»Andererseits weiß man so auch nicht, was Henrik sich einbildet und was tatsächlich geschehen ist.« – Ging mir genauso beim Knausgaard »Sterben«.
Der Ich-Erzähler weist eine eigentümliche psychologische Blindheit auf. Er ist für den Leser unzuverlässig. Er scheint andere Personen nicht richtig erkennen und einschätzen zu können. Typisch: Linda auf dem Schoß. Machen Frauen »eher nicht«, und wenn dann ist es auch als Einladung gemeint.
Eventuell ist Knausgaard fasziniert von einer Pathologie, die sich erst im Stadium der Jungerwachsenen-Zeit entwickeln kann: den lose bekannschaftlich verbundenen Paaren, die aus den Peer-Gruppen hervorgehen. Ich könnte mir vorstellen, dass die norwegische Gesellschaft die Sphären der Freundschaft und der exklusiven Paarbindung inzwischen schon ziemlich aufgeweicht hat (emulgiert hat). Dann entsteht dieser frustrierende Reigen, den man zum Beispiel aus der US-Serie »Friends« kennt. Er versetzt Henrik ja in dieses Alter (Ende Studium, Eintritt Beruf, Lehrer natürlich...). Vgl. Otto Kernberg, The Couple and the Group, 1980.
Sie werden sagen: die Frau fehlt, aber das ist vielleicht nur ein Schriftsteller-Trick. Henrik = Knausgaard minus Ehefrau (damals)
Die autofiktionale Gleichung ist mir (fast) immer zu dünn. Sie projizieren die »Min Kamp«-Texte auf den Roman. Das ist genau das, was ich beschrieben habe. (Wobei im übrigen auch dort die Gleichsetzung Autor = Erzähl-Ich zu simpel sein dürfte.)
Die Blindheit Henriks, die falschen Annahmen – das ist eben Literatur. Ich mag unzuverlässige Erzähler nicht besonders, aber hier ist es dahingehend interessant, weil er seine irrigen Deutungen meist noch reflektiert. Das ist zugleich auch eine Schwachstelle, weil ich nicht glaube, dass jemand mit solchen Deformationen zu solchen Reflexionen fähig ist.
Nehmen wir mal an, dass die Darstellungsabsicht mit dem Ergebnis übereinstimmt: das Innere des Menschen ist tatsächlich ein ewiger »Kampf« mit der Realität. Das Reale persistiert, die Einbildungen müssen weichen. Zu hundert Prozent erfolgreich sind wir nie, ein paar Vorurteile und irrige Meinungen bleiben immer zurück. So bewegt man sich durch die Welt. Wenn das die Absicht war, wäre er Roman ein Höhlenmodell, hier des männlichen Zeitgenossen. Der Geist flackert in der Schädelhöhle, und irrt sich manchmal gewaltig. Vorallem wenn eine Frau auf Deinem Schoß sitzt.
Wenn man dieses Modell mal zugrunde legt, wo man es technisch bedingt mit einer turbulenten Figur und ansonsten mit lauter Phantomen zu tun hat, dann würde ich erwarten, dass die Zentralfigur (nun, ja!) besonders unterhaltsam oder wenigstens kriminell spannend gestaltet wird. Aber Knausgaard wählt den Anpassungshelden, der »auch im Inneren« so langweillig ist, wie er uns von außen (als gesellschaftlicher Phänotyp) erscheinen würde. Anders gefragt: worin bestehen denn (abgesehen von dem Techtelmechtel mit dem Teenager) die Tugenden und Stärken von Henrik?! Wofür hätte er unsere Aufmerksamkeit verdient?! Stichwort: Individualität, Selbstüberwindung, Rationalität, tiefe Emotion, etc.
Ich erinnere an Reich-Ranicki, und seinen ewigen Spott: Aaah, Sie sagen, das ist ja das Interessante, dass der Autor das Interessante weggelassen hat...
Ich glaube, Reich-Ranickis Bonmot ging dahingehend, dass er einem Buch Langeweile attestierte. Daraufhin entgegnete man ihm, dass genau das vom Autor beabsichtigt war. Das ist natürlich die letzte Flucht der Verteidigung (übrigens inzwischen längst exzessiv von Interpreten »moderner Kunst« verwendet).
Natürlich kann man sich ärgern, dass die Hauptfigur nicht wie Patrick Bateman in »American Psycho« ein Frauenkiller ist oder ähnlich spektakuläres schafft. (Immerhin: der Verkehr mit einer 13jährigen, der da mutmaßlich bechrieben wird, ist ja nicht ganz ohne strafrechtliche und ethische Relevanz). Ich erinnere mich an die Lektüre von Handkes »Der Chinese des Schmerzes«, als die Hauptfigur dort inmitten einer eher ruhigen Erzählung plötzlich einen Mord (mindestens einen Totschlag« begeht. Darauf angesprochen, dass diese Tötung ein gravierendes, den Lauf der Erzählung radikal veränderndes Ereignis darstellt und vielleicht ein bisschen fehl am Platze sei, entgegenete Handke mit einem gewissen Verständnis und dem Eingeständnis, dass er nicht anders gekonnt habe (sinngemäß). Ich fand das damals auch störend, weil es die Ortserzählung zu Gunsten einer solchen Geschichte aufgehoben hatte.
Bei Knausgaard plätschert nun die Geschichte und die Reflexionen des Erzählers schüren mehr Erwartungen, als er bereit ist, zu liefern. Ich sehe das auch als Schwachpunkt (genau wie diese dystopischen Einschübe), bin aber hinreichend »versöhnt« mit Henriks Jugend- und vor allem der Vatererzählung. Vielleicht bin ich auch ein bisschen einfach gestrickt.
Gutes Beispiel, der Chinese. Es gibt eine Reihe von Elementarereignissen, die man in einer Erzählung nicht einfach als Zwischenfall verwenden kann. Naturkatastrophen, Tod der Eltern, sexuelle Ausschweifung, politische Morde, etc.
Aber ich halte die Teenager-Geschichte nicht nur deshalb für eine »unpassende Anreicherung«, ein falsches Gewürz. Wer heute aufmerksam 13-Jährige Mädchen beobachtet, wird eher bestürzt sein als erotisch fasziniert. Das ist extrem phantasmatisch, was uns Knausgaard zumutet (Kopf-Kino). Und damit kippt die Glaubwürdigkeit. Eine Geschichte muss ja nicht realistisch sein, aber wenn es in die Extreme geht, muss sich der Erzähler sehr viel Mühe geben, damit der Leser nicht abspringt... Darin läge die Kunst!
Die Vater-Betrachtungen mochte ich auch. Da scheint ein Stück psychologische Echtheit auf. Die typische Erkenntnis des realen Menschen, nach dem Abschied von der kindlichen Idealisation, im gesellschaftlichen Vergleich. Die Verlegenheit, einen Vater zu haben, der Durchschnitt war, wenn überhaupt...
Man darf nicht vergessen, dass die Geschichte 1998 erschien. Mittlerweile ist sie also fast ein Viertel Jahrhundert alt. Womöglich verhalten sich 13jährige heutzutage tatsächlich anders. Ich vermag das nicht beurteilen.